Schweitzer Fachinformationen
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Man kann uns nicht unterdrücken oder regieren, denn niemand weiß, wer oder wo wir sind. Wir gehören nicht mehr dazu. Es gibt für uns kein Bürgerrecht, nicht einmal eine Aufenthaltsgenehmigung. Trotzdem leben wir hier. Wir gehen keiner Arbeit nach und zahlen keine Miete. Zugegeben: Die Gegend, in der wir uns verstecken, ist abstoßend hässlich. Dafür gibt es Gründe. Dort wächst schon seit langem nichts mehr. Auch das hat seine Gründe. Frau Tievel sagt, wir sollten das ignorieren. Wir sind keine Landwirte. Wichtig ist, dass wir hier sind.
Wir haben nicht vergessen, woher wir kommen. Doch dahin führt kein Weg zurück.
Die meisten wissen nichts über uns. Dabei sind wir kaum anders als sie. Der einzige Unterschied ist, dass es für uns wenig Sinn hat, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Wir haben keine. Wir sind auf Reisen hierhergekommen und werden auf Reisen bleiben, bis wir zum Ende gekommen sind. Unser Leben von damals wird nicht wiederkommen. Wozu auch? Eigentlich gibt es uns schon jetzt nicht mehr. Es ist egal geworden, wo wir leben. Die ganze Welt hat sich verwandelt. Neuerdings treibt sie Handel mit sich selbst. Auch wir haben uns selbst konsumiert und sind dabei nicht reich geworden.
Manche nennen es eine Endzeit, in der wir jetzt leben. Wir haben auf sie gewartet und uns an sie gewöhnt. Keine Zeit verändert sich allein; das können nur die, die sie leben. Es scheint, die Menschheit wurde des Wartens müde. Manche Leute erklärten ganz offen, sie hätten jetzt keine Zeit mehr. Niemand fragte, wo sie denn geblieben war. Andere behaupteten, dass Zeit und Ende sich gegenseitig bestimmten. Also begann ein Handel mit der Zeit, eine Art Zeit-Schlussverkauf. Offenbar lohnte sich das Geschäft, ob aus Panik, Gewinnsucht oder Ungeduld. Plötzlich wollte man alles sogleich haben, selbst wenn man es bereits hatte. Zu spät merkten einige, dass man sich dabei selbst verlieren konnte. Ein neuer Beruf kam auf: Handlungsreisende im Selbstverkauf. Die Welt ist das Reich des Verbrauchertums. Ihr Handel blüht, solange sie noch da ist. Frau Tievel behauptet, dass es sie bald nicht mehr gibt.
Im vergifteten Land, das wir vorübergehend behausen, kommt es immer häufiger zu katastrophalen Unfällen und Verseuchungen. Man warnte uns vor einem Zuhause, das unbewohnbar ist. Doch wir wissen, dass wir hier nicht lange bleiben werden.
Lange nachdem der Kohleabbau mitsamt den Schutthalden, Industrieanlagen und chemischen Fabriken gezwungen wurde, das Gebiet außerhalb der Stadt zu verlassen, blieb der Ort eine verpestete Wunde. Dort gab es jetzt nur noch leerstehende oder abbruchreife Häuser, die das einstige Areal »Industrie Nord« in eine verödete Geisterstadt verwandelten. Da nach der Stilllegung praktisch der gesamte Straßenverkehr umgeleitet wurde, trug die ungewöhnliche Stille zur Aura einer deprimierenden Verlassenheit bei. Farblose Häuserfronten, fehlende Türen und eingeschlagene Fenster waren unheimliche Zeichen panischer Vernachlässigung. Kinder gaben auf, in der zurückgelassenen Leere zu spielen. Sie fürchteten sich vor kalten Schornsteinen, die an heißen Sommertagen unerwartet laute Stöße von Ruß in die Luft jagten. Die Vertriebenen ließen halb verrostete Autos und nicht mehr funktionierendes Werkzeug auf offener Straße stehen. In verlassenen Vorgärten verrosteten Geräte, Möbelstücke und Kinderspielzeug. Vor einem Haus hing ein durchlöchertes Tuch an einer Teppichstange.
Als der Auftrag zum Verlassen der vergifteten Wohngegend kam, verbreitete sich unter den Einwohnern eine panische Angst vor Ansteckungsgefahr. Man verlor keine Zeit, die bescheidenen Arbeiterhäuser eiligst zu verlassen. Niemand äußerte den Wunsch, nach der Entsorgung in das verseuchte Gebiet zurückkommen zu wollen. Arbeiter in den Industriewerken verloren zugleich ihre Stellung. Viele von ihnen litten seit Jahren unter Atemnot, Entzündungen und nicht heilen wollenden Wunden.
Im verlassenen Sperrgebiet täuschten Ruinen, Verkehrsschilder und nicht eingeschaltete Straßenlampen eine Wirklichkeit vor, die es seit langem nicht mehr gab. Allein das längst geschlossene Bergwerk schoss weiterhin vergifteten Kohlenstaub in die Luft, als wäre der Abbau nach wie vor in Betrieb.
Johannes Faust besuchte das Sperrgebiet, um sich eine erste Vorstellung vom Ausmaß der Katastrophe machen zu können. Die Einschätzung für eine eventuelle Flächensanierung des umweltverschmutzten Terrains würde viel Zeit in Anspruch nehmen. Niemand hatte ihn eingeladen, einen solchen Kostenvoranschlag aufzustellen, weder der Stadtrat noch das Bundesland. Er war kein Chef einer Entsorgungsfirma, sondern ein Chemiker und Arzt, der vor Jahren in dieser Gegend aufwuchs, bevor er die Heimat für sein Studium verließ.
Dr. Faust trug eine Gesichtsmaske. Wohin er sah, waren eingestellte Betriebe, geschlossene Geschäfte und aufgegebene Maschinen. An einer zerstörten Bushaltestelle hingen verjährte und zerrissene Wahlplakate. Die abblätternde Schrift eines hoch aufragenden, doch zerbröckelnden Schornsteins verkündete den Namen des ehemaligen Industrieareals: INDUSTRIE NORD. Mit den Steinen waren ein paar Buchstaben abgefallen. Umsonst bemühte sich Faust, die Ruine wiederzuerkennen. Es sah aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Was er suchte, konnte er nicht finden. Die einstige Heimat der hier Lebenden gab es nicht mehr. Sie war verlassen, öd und leer. Keiner würde je wieder hierher zurückkehren. Er schüttelte sich vor Zweifel und Ekel. Verkehrszeichen mit Totenköpfen wirkten auf ihn wie eine Drohung und eine Warnung. Konnten sie beides zugleich sein? Er blieb nicht länger stehen. Den geheimen Plan, an der Entsorgung des Bezirks teilzunehmen, musste er sich noch einmal gut überlegen. Er stand auf der Straße, vermummt wie ein Gespenst aus der Vergangenheit, als gehörte auch er in die tote Stadt. Plötzlich hatte er es eilig. Verunsichert und verwirrt stieg Hannes Faust in das wartende Taxi, das ihn in die Stadt zurückfuhr. Er blickte nicht zurück. Auf der Fahrt ärgerte er sich über seine Anmaßung zu meinen, ein Einzelner wie er könnte sich an der Sanierung eines so großen umweltverschmutzten Grundstücks beteiligen.
Er ahnte nicht, dass er den Rest seines Lebens besichtigt und begutachtet hatte.
Als Hannes Faust erkannte, dass es im Leben zwei Arten von Wachstum gab, ein gesundes und ein krankes, entschied er sich, medizinischer Toxikologe zu werden. Er lernte früh, dass es Wucherungen gab, die durch Gifte verursacht, und solche, die angeboren waren. Der Körper hatte gelernt, mit beiden zu leben. Menschliches Leben war karzinomatösen Infektionen und Geschwulsten hilflos ausgeliefert. Der Anblick sezierter Organe im Formaldehyd-Bad versetzte Hannes nicht mehr in Schrecken. Später begann er, sich auf Gifte zu spezialisieren, die zu Verformungen führten. Er erfuhr, dass Gifte nicht nur die Ursache von Verseuchungen der Umwelt, sondern auch von Wachstumsstörungen waren. Ihm schien der unaufhaltsame Auswuchs wie eine Macht, die er im Namen des Lebens bekämpfen musste. Die unbeirrbare Gewalt, mit der die Natur tötete, verstörte ihn zutiefst. Hannes' Kampf im Bereich pathologischer Anatomie wurde persönlich: Er litt mit seinen von der Natur ermordeten Patienten. Je mehr sie sich dem Endstadium näherten, desto leidenschaftlicher wurden sie ein Teil von ihm. Er begleitete sie im Sterben und im Verlust ihres Lebens.
Die Toxikologie unterschied durch Vererbung übertragene Gifte von solchen, die eine Diagnostik nicht immer erklären konnte. Dass hilflos Leidende oft unter furchtbaren Schmerzen starben, ohne dass die Medizin helfen konnte, widersprach seinem moralischen Instinkt. Sinnlose Fragen nach einer »Schuld« brachten den Sterbenden zusätzliches Leiden. Bei einigen verzweifelten Patienten kam es zur Raserei gegen einen Gott, an den sie nicht glaubten. Vergeblich versuchte Hannes Patienten und ihre Angehörigen davon zu überzeugen, dass nicht alle Krankheiten heilbar waren. Nicht selten war es der behandelnde Arzt, den man schließlich für den Verlust eines geliebten Menschen verantwortlich machte. Dr. Johannes Faust quälte die Gleichsetzung von Medizin, Moral und Justiz, in der Unheilbarkeit ein kategorischer Urteilsspruch war.
Nach dem Medizinstudium spezialisierte er sich auf die Erforschung katastrophaler Umweltverschmutzungen, die dazu führten, dass Menschen ihren Wohnsitz aufgeben mussten, weil dort niemand mehr leben konnte. Solche Fälle gab es immer häufiger. Für die gefährlichen Kontaminationen und tödlichen Vergiftungen waren oft multinationale Konzerne verantwortlich. Nicht selten erschien Hannes bei Schadensersatzklagen als forensischer Fachexperte vor Gericht. Multinationale pharmazeutische und erzverarbeitende Industrien lernten ihn nicht als Gegner, sondern als Zeugen fürchten. Der Chemiker und Arzt Dr. Faust erwies sich als ein leidenschaftlicher Wahrheitsfinder. Korrupte Kontaktaufnahmen schlugen bei ihm fehl. Er wurde bekannt dafür, dass er allzu generöse Angebote von Beraterhonoraren...
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