B. REFORMMÖGLICHKEIT
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Die Möglichkeit einer Reform des Pflichtteilsrechts setzt voraus, dass ein solches Vorhaben nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt. Grundgesetz und Rechtsprechung sind somit daraufhin zu untersuchen. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben an eine Reform der §§ 2303-2338 BGB sind zu konturieren.
I. Anknüpfungspunkte im Grundgesetz
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Das Grundgesetz schweigt zunächst zu einem Pflichtteilsrecht - zumindest der direkten Lektüre nach. Es gilt daher, zu versuchen, eine mögliche verfassungsrechtliche Verankerung im Wege der Auslegungsmethoden64 herzuleiten. Erster Anknüpfungspunkt dafür ist Art. 14 I 1 GG: "Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet." Nach allgemein anerkannter Ansicht und auch im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG wird das Erbrecht sowohl individualrechtlich als auch als Rechtsinstitut65 verfassungsrechtlich gewährleistet.66 Das Verständnis des Erbrechts als Institutsgarantie ist insbesondere auf Gustav Boehmer zurückzuführen, der dieses bereits in seiner Kommentierung zum Art. 15467 WRV schlüssig ausgearbeitet hatte.68 Durch die Institutsgarantie werden die einfachgesetzlichen BGB-Normen des Erbrechts in den Verfassungsrang gehoben.69 Dies gilt gemäß Art. 19 II GG jedoch nur für den Wesensgehalt dieses Regelungssystems;70 der "Rest" steht grundsätzlich zur Disposition des Gesetzgebers, vgl. Art. 14 I 2 GG.71 Wesentlich für das Erbrecht sind jedenfalls die Testierfreiheit72 und auch das Verwandtenerbrecht, welches zumindest den engeren Familienkreis (Art. 6 I GG) der gesetzlichen Erbfolge (§§ 1924 ff. BGB) als verfassungsrechtlich verbürgt erklärt.73 Ob auch das Pflichtteilsrecht - möglicherweise als Bestandteil des Verwandtenerbrechts74 - zum Wesen des Erbrechtsinstituts gehört, ist umstritten.75 Für einen solchen Schluss könnte es sich anbieten, wenn man Art. 6 I GG hinzuzöge: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung."
II. Verfassungsrechtliche Rechtsprechung
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Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht erkannt. Mit Beschluss vom 19.4.2005 verlautbarte es im ersten Leitsatz seine Rechtsauffassung, dass die "grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass [.] durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet"76 sei. In früheren Judikaten hatte das hohe Gericht zu dieser Grundsatzfrage nur indirekt und unverbindlich Stellung bezogen.77 Im Anschluss an die Entscheidung erschien es damit so, als hätte sich nun die Debatte um eine Reform des Pflichtteilsrechts - zumindest im Hinblick auf die direkten Abkömmlinge des Erblassers - endgültig erledigt.78 Dem ist allerdings nicht so, denn die Bindungswirkung der Entscheidung erstreckt sich nicht auf die geteilte Rechtsauffassung des Gerichts, da es sich - wie bei Zimmermann zutreffend dargestellt79 - um ein obiter dictum80 handelt. Damit stehen zumindest die formalen Tore einer Reformdebatte immer noch offen, wenngleich sich dies nicht allzu weit herumgesprochen haben mag.81 Auch in der Folgezeit sind keine Judikate ergangen, die dem entgegenstehen würden.82
III. Herrschende Ansichten im Verfassungsrecht
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Nichtsdestotrotz bestehen gewichtige Ansichten, dass das Pflichtteilsrecht in seiner wesentlichen derzeitigen Gestalt verfassungsrechtlich garantiert sein solle.83 Diese Ansichten lassen sich als Legitimierungsversuche eines Pflichtteilsrechtes als solches sehen. Ob diese kohärent - auch aus verfassungsrechtlicher Sicht - überzeugen können, wird der Übersichtlichkeit halber daher andernorts84 beim Reformanlass (C.) behandelt. Darüber hinaus lassen sich jedoch - neben den radikalen Pflichtteilsverteidigungen - auch mildere Ansichten finden, die wohl als allgemeine Grundmeinungen, als mindestmäßiger Grundkonsens klassifiziert werden können. Diese Ansichten haben sich auch in den Judikaten des BVerfG niedergeschlagen. Dazu gehört, dass das Pflichtteilsrecht nicht ersatzlos abgeschafft werden könne.85 Den nahen Angehörigen gebühre jedenfalls bei Enterbung eine unentziehbare und angemessene Nachlassteilhabe.86 Der auslegungsoffene Begriff der Angemessenheit eröffnet somit Spielraum für verschiedene Alternativkonzepte zum bedarfsunabhängigen Pflichtteilsrecht, soweit diese den nahen Angehörigen eine "angemessene" Nachlassteilhabe gewähren. Unbeschränkte Testierfreiheit muss allerdings als verfassungswidrig eingeschätzt werden.
IV. Fazit
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Es ist strittig, ob eine Auslegung von Art. 14 I 1 und Art. 6 I GG eine verfassungsrechtliche Gewährleistung eines bedarfsunabhängigen Pflichtteilsrechts ergeben kann.87 Eine bindende Entscheidung des BVerfG ist dazu jedenfalls noch nicht ergangen; das BVerfG teilte seine Ansicht lediglich obiter mit. Die formale Möglichkeit einer - auch grundlegenden - Reform des Pflichtteilsrechts besteht also noch, soweit dieses nicht ersatzlos abgeschafft wird und das Regelungssurrogat den nahen Angehörigen eine angemessene Nachlassteilhabe gewährt.
62 Vgl. Boehmer, AcP 144 (1938), 249 (284-286).
63 Staudinger/Otte, § 2306 Rn. 1-5a.
64 Getreu dem Kanon nach Friedrich Carl v. Savigny; dargestellt bei Rüthers, Rechtstheorie, S. 432 Rn. 698-703.
65 BVerfGE 19, 202 (206); 44, 1 (17); 67, 329 (340); 112, 332 (348).
66 BVerfGE 19, 202 (206); 44, 1 (17); 67, 329 (340); 91, 346 (358); 97, 1 (6); 99, 341 (350); 112, 332 (348).
67 Der Artikel lautet: "Das Erbrecht wird nach Maßgabe des bürgerlichen Rechts gewährleistet. Der Anteil des Staates am Erbgut bestimmt sich nach den Gesetzen."
68 Vgl. Mager, Einrichtungsgarantien, S. 35; vgl. auch Otte, AcP 202 (2002), 317 (319-321).
69 Dürig/Herzog/Scholz/Papier/Shirvani, GG, Art. 14 Rn. 408.
70 Dürig/Herzog/Scholz/Papier/Shirvani, GG, Art. 14 Rn. 408.
71 BVerfGE 112, 332 (348 ff.); Boehmer, Die Grundrechte II, S. 401 (417).
72 BVerfGE 58, 377 (378); 67, 329 (341).
73 Boehmer, Die Grundrechte II, S. 401 (410 ff.)
74 So Otte, AcP 202 (2002), 317 (319 f.).
75 Siehe dazu unten Rn. 21 ff.
76 BVerfG, Beschluss v. 19.04.2005 - 1 BvR 1644/00 und 1 BvR 188/03 = BVerfGE 112, 332.
77 BVerfGE 25, 167 (174) = NJW 1969, 597; BVerfGE 58, 377 (398) = NJW 1982, 565; BVerfGE 67, 329 (341 f.) = NJW 1985, 1455; BVerfGE 78, 132 (154) = NJW 1988, 2723; BVerfGE 91, 346 (359) = NJW 1995, 2977; BVerfGE 99, 341 (350 f.) = NJW 1999, 1853; ausf. Analyse von Otte AcP 202 (2002), 317 (323-330).
78 Vgl. Staudinger/Otte, Einl §§ 2303 ff. Rn. 22; MüKoBGB/K.W. Lange, § 2303 Rn. 4; vgl. Klingelhöffer, PflichtteilsR, S. 6 Rn. 16.
79 Siehe dazu Zimmermann u.a., Reformvorschlag, S. 19 Rn. 21 f.; Zimmermann, AcP 222 (2022), 3 (46-51). Dort wird dargestellt, dass das Diktum des Gerichts nicht in unmittelbarem Zusammenhang zum Streitgegenstand (verfassungsmäßige Auslegung und Anwendung der Pflichtteilsentziehungsgründe gemäß § 2333 BGB a. F. durch die Instanzgerichte) steht und somit über das Erforderliche der Entscheidungsfindung hinausgeht und die Entscheidung daher nicht auf den rechtlichen Ausführungen dazu beruht.
80 "Nebenher Gesagtes", welches keine tragenden Gründe ("ratio decidendi") für die Entscheidungsfindung des Streitgegenstandes aufstellt und dem somit - aus rechtsstaatlichen Gründen - keine Rechtskraft zukommt, vgl. Schlüter, Das Obiter Dictum, S. 9-14, 39, 77.
81 In einigen Lehrwerken wird regelmäßig vorschnell die gegenteilige Auffassung vertreten, z.B. Leipold, ErbR, S. 345 Rn. 821b; Michalski/J. Schmidt, ErbR, S. 196 Rn. 616.
82 Kurzübersicht dazu: Klingelhöffer, PflichtteilsR, S. 6 Rn. 17 f.; vgl. auch MüKoBGB/K.W. Lange, § 2303 Rn. 3-7.
83 Die überwiegende Ansicht der Literatur bis 2004 neigt dem zu; dargestellt bei K.W. Lange, AcP 204 (2004), 804 (806); nach dem Beschluss des BVerfG in 2005 liegt es nahe, anzunehmen, dass sich diese Ansichten bis heute noch halten.
84 Siehe unten Rn. 20 ff.
85 Vgl. BVerfGE 93, 165; BVerfG NJW 2001, 141; Staudinger/Otte, Einl §§ 2303 ff. Rn. 22; Röthel, ErbR, S. 438 Rn. 2.
86 BVerfGE 67, 329 ff.; 96, 56 (63);...