Schweitzer Fachinformationen
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1. Wie könnte sich das Wesen der Rechtspraxis einer Rechtskultur von dem Wesen der Rechtspraxis einer anderen Rechtskultur unterscheiden?
2. Durch welche Methoden lässt sich herausfinden, worin das Wesen der Rechtspraxis in einer bestimmten Rechtskultur besteht - in diesem Fall der Rechtskultur der Vereinigten Staaten?
Anhand dieses Buches erhalten Rechtspraktiker und Jurastudierende zum einen die Gelegenheit, die Methoden zu entdecken, mit denen sich US-amerikanische Rechtsanwälte dem Recht nähern, und zum anderen die Möglichkeit zu erkennen, dass das Jurastudium im common law generell nicht dazu gedacht ist, eine Reihe von Rechtsvorschriften auswendig zu lernen. Common-law-Anwälte sind Verteidiger der Interessen ihrer Mandanten und das gerichtliche Verfahren beinhaltet eine jeweils äußerst parteiische Interessenvertretung - keine neutrale Sachverhaltsaufklärung. Diese Tatsache ändert alles im Hinblick darauf, wie sich Anwälte ihr Rechtssystem in der eigenen Rechtskultur zunutze machen oder es umgehen. Diese Tatsache verändert darüber hinaus auch die Erwartungen der Bürger an ihr eigenes Rechtssystem. Wie der Richter am Obersten Gerichtshof der USA (U.S. Supreme Court), Oliver Wendell Holmes, Jr., in seinem berühmten Zitat über das common law sagte, "das Recht lebt nicht von Logik, sondern von Erfahrung"[1]. Wenn diese These zutrifft, dann sind die Jurastudierenden mit einem Grundsatzproblem konfrontiert: Logik kann man sich durch Bücher oder über Internetseiten aneignen - aber wie kann man Erfahrung lernen? Dieses Problem stellt selbst |20|US-amerikanische Jurastudierenden, die ihr Studium an einer "Rechtsschule" (law school) bereits mit einer allgemeinen kulturellen Vorerfahrung und einem abgeschlossenen Universitätsstudium beginnen,[2] vor eine große Herausforderung. Obwohl man erwarten könnte, dass die kulturellen Erfahrungswerte für die einheimischen Studierenden einen Vorteil im Hinblick auf das Studium des US-amerikanischen Rechts haben, können sie auch ein Hindernis für ihre Selbstreflexion sein, etwa indem bestimmte Vorurteile unreflektiert übernommen und gefestigt werden. Unabhängig davon bleibt es für ausländische Jurastudierende aber schwierig, sich ein Rechtssystem zu erschließen, von dem behauptet wird, dass es von Erfahrung lebt, sie jedoch nicht aus derjenigen Kultur stammen, aus der diese Erfahrung gezogen werden kann. Dieses Buch unternimmt, indem unterschiedliche Aspekte der US-amerikanischen Rechtskultur untersucht werden, den Versuch, für ausländische Juristen ein wenig Licht in das Dunkel dieser besonderen Erfahrung zu bringen, die alle US-Juristen verbindet.[3] Gerade in einem "post-faktischen"[4] Zeitalter muss Bildung nicht nur Tatsachen vermitteln, sondern auch das Urteilsvermögen schulen und ich hoffe, Studierenden das Fundament, auf dem das Urteilsvermögen eines US-amerikanischen Anwalts fußt, näherbringen zu können.
Um Ihnen als Leser das Schwerpunktthema dieses Buches - die US-amerikanische Rechtskultur - begreiflich zu machen, kann man eine einfache Frage stellen: Wie kann eine Person den Ausgang eines Rechtsstreits vorhersagen? Im Common-law-System ist die Erfahrung von Richtern und Anwälten zu einem gewissen Grad durch die Gerichtsentscheidungen dokumentiert. Diese dokumentierten Erfahrungen helfen grundsätzlich dabei, den Ausgang von Streitigkeiten mit vergleichbar gelagerten Rahmenbedingungen zu antizipieren. Gleichwohl bieten diese dokumentierten Entscheidungen, die die Umsetzung der strikten Präjudizienbindung (stare decisis) erst ermöglichen, nur begrenzt Hilfe, um ein juristisches Ergebnis vorherzusagen. Darüber |21|hinaus leiten die individuellen Erfahrungen von Richtern oder Anwälten sie in der täglichen juristischen Praxis. Deren Erfahrungswerte bestehen aus Erinnerungen, die in die gesamte Struktur eines psychologischen Geflechts eingearbeitet sind. Diese Erfahrung wird im System allerdings formal anerkannt, was sich etwa für die US-Bundesjustiz dadurch zeigt, dass die Praxiserfahrung ein entscheidendes Kriterium für die Wahl eines Richters ist - entweder offiziell durch die Empfehlung der örtlichen Anwaltskammer an die Wahlberechtigten oder inoffiziell durch bestimmte kulturelle Werte, die durch die Abstimmungsergebnisse zum Ausdruck gebracht werden. Innerhalb der verschiedenen Gerichtsbarkeiten der Vereinigten Staaten werden die Richter in einigen Bundesstaaten ernannt und in anderen gewählt. Für den Fall, dass Richter ernannt werden, verlassen sich die hierzu berechtigten Personen (Gouverneure für bundesstaatliche Gerichte [state courts] und der US-Präsident für Bundesgerichte [federal courts]) auch auf die Erfahrung als maßgebliches Kriterium für oder gegen einen bestimmten Anwärter auf ein Richteramt.
Soweit Rechtssysteme darauf angelegt sind, Methoden, Verfahren und Inhalte für die Konfliktlösung bereitzustellen, so sollten wir auch dazu in der Lage sein, aus den Gegebenheiten des Rechtssystems erkennen zu können, wie das Ergebnis eines Rechtsstreits vorhergesagt werden kann. Während des Jurastudiums wird den Studierenden ein mechanischer Prozess präsentiert, der zusammengenommen eine Art Sozialwissenschaft bildet und mit welchem die Studierenden die jeweilige Konfliktlösung innerhalb eines bestimmten Rechtssystems vorhersagen können. Diese Mechanismen ermöglichen es den Juristen jedoch keineswegs, diese Vorhersagen mit einer vergleichbaren Gewissheit wie in den Naturwissenschaften zu treffen, wo Physiker, Chemiker oder Ingenieure mithilfe mathematischer Extrapolation und Kalkulation etwa einen Satelliten in eine stabile Umlaufbahn senden, die benötigten Kräfte und Materialien einer Brücke bestimmen, damit sie auch der Last von Zügen standhält, oder Materialien mithilfe von extremen Temperaturen und Druckverhältnissen dauerhaft miteinander verbinden können. Die Vorhersage menschlichen Verhaltens ist im Vergleich dazu ausgesprochen ungewiss. Gleichwohl besteht zweifellos das Bedürfnis, zumindest einen Teil des rechtlichen Prozesses als "vorhersehbar" zu bezeichnen, und Hinweise deuten darauf hin, dass zumindest eine gewisse Antizipation möglich ist.
Abgesehen von diesem Bedürfnis und diesen Hinweisen gibt es aber auch Vieles, was nicht vorhersehbar ist. Nehmen wir zum Beispiel einen Professor für Verfassungsrecht in den Vereinigten Staaten, der die Entscheidung des U.S. Supreme Court erläutert, für welche das Gericht verschiedene "Tests" entwickelt hat, anhand derer es feststellt, ob das fragliche Verhalten gegen irgendeine Regelung der US-Verfassung verstößt. Diese Tests werden dann nach denjenigen Faktoren benannt, die nach Ansicht des Gerichts bei der |22|Auslegung bestimmter Verfassungsregelungen einbezogen werden sollten. So hat das Gericht beispielsweise für die Feststellung, dass die Bundesregierung (federal government) ein Interesse an der Aufrechterhaltung ihrer Zuständigkeit (jurisdiction) für eine Angelegenheit geltend gemacht hat, für die grundsätzlich eine geteilte Zuständigkeit mit den Bundesstaaten (states) besteht, den "Ausgleichstest für die Interessen des Bundes" (countervailing federal interest test) erfunden. Nach diesem Test kann ein Gericht feststellen, dass das fallbezogene Interesse der Bundesregierung überwiegt, um die Zuständigkeit vor den Bundesgerichten (federal courts) zu begründen, auch wenn ein Bundesstaat deutlich zu verstehen gegeben hat, dass er die Zuständigkeit für die Angelegenheit gerne selbst ausüben möchte. Andere Tests, die vom U.S. Supreme Court verwendet wurden, sind etwa der "strenge Überprüfungstest" (strict scrutiny test) oder der "rationale Grundlagentest" (rational basis test), um nur einige zu nennen. Immer wenn Studierende denken, verstanden zu haben, wie das Gericht diese Tests entwickelt und anwendet, lesen sie einen neuen Fall und wenden den scheinbar anwendbaren Test erneut an, nur um sich dann vom Professor anhören zu müssen, dass sie in diesem Fall leider falsch liegen, weil "das Gericht für diese Fallkonstellation einen neuen Test entwickelt hat". Unerfahrene Studierende werden sich lauthals beschweren: "Stopp! - Willkürliche Entscheidungsmethode!", und vehement darauf beharren, dass der gesamte Prozess nicht wissenschaftlich sei, weil er ihnen keine vergleichbare Vorhersagbarkeit wie in den Naturwissenschaften bieten kann. Hätten Rechtswissenschaftler oder Richter - oder, was noch wichtiger wäre, die Anwälte der Parteien - diesen neuen Test oder diese neuen Auslegungsregeln vorhersagen können? Möglicherweise. Am wichtigsten im Hinblick auf dieses Beispiel ist jedoch, dass das Wissen der Professoren nicht auf Praktiken der mechanischen Rechtsanalyse zurückzuführen ist (mehr dazu in Kapitel 9 zu den Rechtsmechanismen), sondern auf ein Gespür für das Recht oder, wie man vielleicht sagen könnte, auf...
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