JUNI
Sommer
bricht, kaum ist es Nacht,
der Tag schon an -
wo in den Wolken denn
bezieht der Mond jetzt Unterkunft?
Kiyohara no Fukayabu, aus dem Kokinwakashû
Der dampfende Melissen-Tee war bereits eingeschenkt und stand auf einem kleinen Beistelltisch neben Tom. Auch im Sommer war der Tee hier warm; nur die Tassen kamen ihm neu vor. Doppelwandiges Glas mit einem großen Abstand zwischen der inneren und der äußeren Wand hatte die von einem Metallhalter gestützten Tassen ersetzt, aus denen Tom sonst immer trank. Die Bilder in der Praxis hatten sich auch verändert, waren aber noch immer abstrakte Malerei, die sich wahrscheinlich gut von der Steuer absetzen ließen, die Farben der geometrischen Formen jetzt versöhnlicher. Seit Jahren saß er jede Woche auf diesem Sessel, trug Stiefel, Sandalen, hatte nasse Haare, war mal ausgeschlafen, mal durch. Seine Therapeutin hatte die Brillengestelle gewechselt, ihr Pony war herausgewachsen und heute hatte sie zum ersten Mal Strähnchen in den Haaren, die Tom wenig vorteilhaft fand.
"Wie erging es Ihnen seit unserem letzten Termin?", fragte ihn die Therapeutin. Er rang um Atem, wie er immer um Atem rang, wenn er in dem bequemen Ledersessel saß. Den Kopf in den Nacken gelegt, die Halsmuskulatur angespannt, die Augen aus dem Fenster gerichtet. Immerhin waren die Sessel noch dieselben. Zu bequem für die Tatsache, dass hier jeden Tag Menschen saßen, die sich irgendwann in ihrem Leben die Arme aufgeritzt hatten, die oft an den Tod dachten, nicht davon ablassen konnten, sich vorzustellen, wie sie sich aus dem Leben verabschieden, die nicht wussten, wohin mit sich und ihren alles andere überlagernden Gefühlen, Menschen, die von Impulsen getrieben durch das Leben mäanderten und an Orten wieder aufwachten, die aufzusuchen sie sich nicht erinnern konnten. Tom hatte andere Menschen getroffen, denen es genauso ging. In einer Gruppentherapie lernten sie Woche für Woche, wie Gefühle aufgebaut waren, damit sie sie zähmen konnten, als wäre die Gruppe keine Therapie, sondern eine Ausbildung. Aber hier auf dem Sessel kam er sich vor wie die einzige Person auf der Welt, die so stark fühlte, dass selbst Schmerz ein adäquates Mittel schien, um sich zu regulieren. Dann tröstete ihn der Gedanke, dass die Therapie nur für ihn existierte, und weil das so lächerlich klang, wusste er, es konnte nicht stimmen.
"Jetzt haben wir uns über einen Monat nicht gesehen", fügte sie hinzu. Sie hätte auch sagen können: Und? Kommen Sie klar? Aber so was machten Therapeut*innen nicht. Sie schaute mit ihrem neutralen Blick durch die Gläser ihrer Brille und hielt ihr Klemmbrett fest. Tom hatte schon lange aufgegeben, seine Therapeutin lesen zu wollen, hatte gelernt hinzunehmen, dass er nicht wusste, was sie da aufschrieb, glaubte nicht mehr, dass sie ihn in ihren Notizen verriss wie ein schlechtes Buch.
"Gut", sagte er, das "U" verschluckend. "Gut", setzte er noch einmal an, übereifrig, nicht wieder zu nuscheln. Tom wollte auch in der Verhaltenstherapie glänzen, Musterschüler sein, denn nur Leistung machte ihn gut genug. Bald war er "austherapiert", ein Begriff, der ihm wie ein Bergamotte-Bonbon zwischen den Zähnen kleben blieb. Die Therapie ging in den dritten Sommer und sie war zur Routine geworden, wenn er sich in kleinteiliger Arbeit nach einem Date durch seine Zweifel wühlte, weil er gerade jemanden kennengelernt hatte, der eine Sitzung später schon wieder vergessen war. Er hatte sich daran gewöhnt, dass seine Therapeutin sich genau dann gerührt zeigte, wenn er es am wenigsten erwartete. Sie spiegelte ihm dann, dass seine Erfahrungen so voller Gewalt waren, dass sie sich in ihrem Ledersessel nicht neutral geben konnte. Das Gespräch plätscherte heute vor sich hin, Tom vermisste die Diskussionen und Analysen. Er erzählte, dass er endlich den Vertrag mit einem Verlag unterschrieben hatte, das Manuskript schon im Lektorat war.
"Ende des Sommers soll ich die überarbeiteten Gedichte abgeben. Das fühlt sich noch so weit weg an." Und dann fiel Tom auf, dass dann auch die Therapie zu Ende sein würde, dass er sich sein Leben noch nicht vorstellen konnte, ohne diesen Ledersessel und den Melissen-Tee.
"Sie sind weit gekommen. Das dürfen Sie sich ruhig öfter eingestehen."
Sie schaute ihn mit Nachdruck an, als wüsste sie, dass er Zuspruch nur schwer annahm. Er nickte nur, konnte nichts dazu sagen.
"Dann sehen wir uns wieder im September", sagte die Therapeutin und beendete damit die Sitzung. "Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer und viel Erfolg mit Ihrem Manuskript", setzte sie hinzu, als sie sich zum Abschied die Hand gaben.
"Ihnen auch", sagte er und schaute ihr kurz in die Augen, hielt den Blick jedoch nicht lange. Tom schloss die Tür hinter sich und hastete die knarzende Treppe des Kreuzberger Altbaus hinunter. Er nahm mehrere Stufen auf einmal, atmete die muffige Luft ein. Tom konnte seine Therapeutin nicht greifen und deswegen liebte er sie, so sehr man einen Menschen lieben konnte, den man siezte.
Den Rest des Tages nahm er sich frei. Er konnte sich nicht vorstellen, in die Agentur zu gehen und in irgendwelchen Kunden-Calls zu sitzen, in denen er mit Vanessa vom Marketingteam über einen Kampagnen-Claim redete, zum Glück ohne Video, denn so konnte er die Augen dramatisch verdrehen und die Projektmanagerin zum Lachen bringen. "Mental health day" nannten er und die anderen aus der Agentur das, wenn sie sich einen Tag freinahmen, der nicht durch ein gebrochenes Bein oder eine verschnupfte Nase gerechtfertigt war. Im Team war es ein offenes Geheimnis, gut gehütet, nur angetrunken auf Weihnachtsfeiern geteilt. Dann gaben auch die anderen zu, dass sie an manchen Tagen einfach nicht aus dem Bett kamen, dass die kreative Arbeit in einer Agentur trotz Bällebad und Stehtisch auslaugend und menschenfeindlich war, dass niemand sich noch eine Kampagne für ein sinnfreies Produkt ausdenken wollte und dass eigentlich doch alle was "mit Impact" anstrebten. Die freien Tage genossen sie wie kleine Reparationsmomente, dem Arbeitsleben abgetrotzt, nie ganze ohne schlechtes Gewissen durchgezogen.
Die nächste Sitzung mit seiner Therapeutin war im September. Seit Beginn der Therapie hatten sie sich noch nie in so großem Abstand nicht gesehen. Bald gar keine Therapie mehr, ein Manuskript einreichen - beides war so neu, Tom konnte es geistig nicht fassen, blieb lieber in der Gegenwart, die nichts von ihm wollte, als dass er den Geruch von Sommerblüten einatmete und dabei nicht in die Hundescheiße trat, die im warmen Wetter vor sich hin trocknete.
Gut, wiederholte er in seinem Kopf. Mir geht es gut.
Den Weg nach Hause machte er zu Fuß, blieb auf Augenhöhe mit der Stadt, wollte nicht in die U-Bahn, in der er die Jahreszeiten nur an der Kleidung der Leute ablesen konnte, abgeschirmt vom Licht. Sein Gesicht trug die ersten Sommersprossen und die Jacke konnte er sich über die Schulter hängen. Er mochte, wie die Natur schon sattgrün war, noch frisch, noch saftig, ohne zu überfordern, wie mehr Gerüche durch die Luft flirrten, seine Füße beim Auftreten die Sohlen der Schuhe spürten und wie das erste Eis schmeckte: noch ein bisschen zu kalt, aber süß.
Auf dem Weg blieb sein Blick an einem Typen hängen: dunkler Bart, dunkle Haare, aber da waren Sprenkel anderer Haarfarben. Die hellgrünen Augen blieben Tom im Gedächtnis. Er ärgerte sich über seine Schüchternheit, wollte winken oder "Hallo" sagen, aber das schien ihm unmöglich.
Tom nahm das Handy aus der Tasche und schickte seiner Mitbewohnerin Pina eine Sprachnachricht, das Handy schräg am Kinn, so dass er ins Mikrofon sprach, gerade so laut, dass es gut verständlich war.
Hey, Herz, ich bin gerade aus der Therapie raus. Vorletzte Sitzung, richtig verrückt, "ausschleichen" hat sie das heute wieder genannt. Als wäre die Therapie ein Medikament und ich bin abhängig. Ganz unrecht hat sie damit nicht. Im Februar hat sie noch gesagt, und da hatte sie mir vorher eine SMS zum Geburtstag geschickt, in der sie mich gesiezt hatte, jedenfalls meinte sie, dass wir die Therapie ausschleichen oder einen neuen Antrag stellen. Und jetzt haben wir nur noch eine Sitzung im September vor uns. Ich kann's gar nicht glauben, dass ich jetzt so lange schon in Therapie bin. Bin jedenfalls gut durch und aufgedreht und nehme mir den Rest des Tages frei. Mental health day. Tag der mentalen Gesundheit, viel besseres Wort, klingt wie ein Feiertag, oder? Egal, die Sonne scheint. Vielleicht kann ich ein bisschen Textarbeit machen, aber ich will mir jetzt auch nicht zu viel aufhalsen. Wo bist du? Was machst du? Genießt du endlich dein Arbeitslosenleben? Sehen wir uns später? Bevor das hier ein ungefragter Podcast wird, mach ich mal Schluss.
Er schickte die Sprachnachricht ab, blieb am Bildschirm kleben und wischte sich durch seine Apps. Eigentlich hatte er sich Dating-Apps unter der Woche verboten, aber er war im verfrühten Wochenende. Warum sollte er nicht zumindest reinschauen? Es war wie ein Videospiel, das als digitale Schicht über der Stadt lag, da, wo am Kanal die Bäume ausschlugen, ihr frisches Laub zur Schau stellten, konnte überall ein wilder Typ auftauchen wie ein notgeiles Pokémon. Als er die App öffnete, hatte er ein paar Nachrichten...