Schweitzer Fachinformationen
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Sie trägt braune Lederschuhe mit dunkelgrünen Wollsocken und eine Plastikmargerite in ihren blonden kurzen Haaren. Sie steht am Bahnsteig und dreht sich um sich selbst. Seit ich sie kenne, wartet Eli auf andere.
Wir treffen uns an Gleis sieben. Ich habe zehn Uhr vorgeschlagen, sie halb elf. Unser Zug fährt um 22.40 Uhr. Auf meinem Ticket steht: zwei Erwachsene, Linz nach Venedig.
Die Luft ist so kalt, dass man feine Atemwolken vor unseren Mündern sieht. In diesen Wassertröpfchen reiben wir unsere Nasen aneinander, wie es die Maori tun. Wir begrüßen uns mit einem Hongi, nicht nur, weil ich immer schon nach Neuseeland wollte. Der Hongi symbolisiert, dass man den Atem des anderen spürt.
Wenn wir unsere Nasen aneinander reiben, lacht Eli.
Überhaupt findet sie viel zum Lachen, ihre Eigenheiten und meine, Kinder und Verrückte, auch den Skinhead, der uns gerade anspricht, und nimmt mir damit die Angst. Wenn Furcht und Neugier gleich stark ausgeprägt sind, hält das am Leben, besonders auf Reisen.
Als erfahrene Reisende sollte ich unseren Ausflug nach Venedig vorbildhaft geplant haben, doch Eli übertrifft mich. Sie packt einen Apfel aus, eine Flasche Bier und trinkt einen Schluck. In ihrem Rucksack sehe ich eine Dose mit Geburtstagskuchen. Sie denkt an alles, weil das Reisen ihr größter Schrecken ist, sie denkt immer auch an andere.
Weil sie weiß, wie sehr ich Postkarten liebe, sendet sie mir welche, mit beruhigender Regelmäßigkeit, egal, wo sie gerade ist. Sie zeichnet Portraits und kleine Vögel darauf, schenkt mir thailändische Muscheln, die aussehen wie Skelette und Schneckenhäuser, in denen ich ein Heim finde.
Sie ist eine Künstlerin, nicht nur im Leben. Sie hat mir ein Bild vom Ertrinken geschenkt, dessen Anblick mir noch immer Trost spendet.
Eli sagt, es sei ihr eine Ehre, dass ich meinen Geburtstag mit ihr verbringe, dabei gibt es längst keine Notwendigkeit mehr für Würde oder Ehre zwischen uns. Wir wissen, dass wir zueinander gehören, haben uns vor zehn Jahren in einem Zug getroffen, einem anderen, natürlich hat sie mich angesprochen. Manchmal sagt sie: Ich habe lange versucht, deine Freundin zu sein. Ich glaube, in diesem Satz liegt ein Vorwurf.
Ich habe sie damals aus der Ferne bewundert, weil ich siebzehn war und mir selbst fremd. Ich antworte dann, dass ich es nicht gesehen habe. Obwohl sie nicht zu übersehen war, mit ihren langen Dreadlocks und den rot karierten Hosen. Am Lokalbahnhof, wo sie auf mich gewartet hat.
Jetzt, wo wir älter sind, haben wir keine Zeit mehr zu verlieren. Wir suchen die richtige Haltung, einander und dem Leben gegenüber und auch auf diesen Sitzen, zwischen Ritzen und Taschen. Wir legen uns Kopf an Fuß, bedecken uns mit Jacken und Tüchern. Wir schmecken Staub und stählerne Luft.
Der einzige Fahrgast in unserem Abteil bewegt sich keinen Millimeter, während wir hin und her rutschen und tuscheln. Er senkt seine Zeitung nicht einmal, als wir mit ihm sprechen, liest weiter unverständliche Schriftzeichen.
Später lese ich in meinem Telefon, dass die Temperatur in Venedig 25 Grad beträgt, das Ticket für ein Vaporetto 35 und der Eintritt zur Biennale 25 Euro kosten. Ich widerstehe dem Drang, die Numerologie zu befragen, gehe von einem bestmöglichen Ergebnis dieser Reise aus.
Es ist nicht ungefährlich, mit Menschen zu verreisen, die einem nahestehen.
Der Instinkt übergeht die Freundlichkeit, wenn man nur zwei Stunden geschlafen hat, wenn es kein Badezimmer, keine Toilette, kein Zimmer gibt, oder wie in unserem Fall, keine Heizung. Je weiter wir Richtung Westen kommen, umso kälter wird es. Die Klimaanlage tost aus kleinen Schlitzen am Fenster.
Eli streift sämtliche Hosen und Pullover über, überreicht mir kurz vor Salzburg mein Geburtstagsgeschenk, ein blaues Wollkleid.
Ab und zu nicke ich ein. Ab und zu nickt Eli ein. Nur der Chinese scheint immer Zeitung zu lesen, manchmal ersetzt er sie durch ein Magazin, immer mit diesen geheimnisvollen Zeichen bedruckt.
Am Salzburger Bahnhof trinken wir heißen Kakao, der nach Zucker und Milchpulver, nicht aber nach Kakaobohnen schmeckt, und ich schlüpfe in mein neues altes Kleid. Wir lauschen dem Rhythmus der Nacht und dem der Züge, bis sich unser Waggon wieder in Bewegung setzt, diesmal in Richtung Süden.
Als ich erwache, sehe ich blendend helles Licht auf Häusern mit hölzernen Sonnenblenden und erste Zypressen an Parkplätzen. Schlagartig ist es wärmer, landschaftlich schöner, beinahe kann ich die Nadelhölzer riechen.
Unser Gast ist verschwunden. Dass er in Kärnten ausgestiegen ist, halten wir für unwahrscheinlich.
Auf der Ponte della Libertà, zwischen Venezia Mestre und Santa Lucia, fotografiere ich Elis Reflexion im Fenster. Zwischen ihren Augen leuchtet die Sonne, ihr Körper ist eine glitzernde Fläche, von steinernen Ufern begrenzt.
Wir stolpern mit Hunderten anderen an verschmierten Glasscheiben vorbei.
Am Bahnhof Santa Lucia trägt der Faschismus noch Flügel, sichtbar an seinem Zeichen FS, seiner neoklassizistischen Bauweise. Es hinterlässt ein eigenartiges Gefühl, der Vergangenheit hier so unverblümt zu begegnen: in Venedig, Stadt des Weltkulturerbes, in der alle zwei Jahre die Kunst von Dutzenden Ländern ausgestellt wird.
Ich organisiere Tee, Tramezzini und Tickets, möchte, dass Eli einen guten Eindruck bekommt und überlasse ihr den Platz an der Reling, neben dem Kapitän, wo sie über den Canale Grande blicken und Venedig atmen kann. Ich versuche, mir vorzustellen, wie das ist: diese Stadt zum ersten Mal zu sehen. Die Lagunenstadt, von mehr Menschen besucht als ihre Holzpfähle tragen können, die mehr als einhundert Kirchen beherbergt.
Die Bluse der Signora Maria ist weiß und ohne eine einzige Falte. Sie, die einzige Weltliche der Casa Caburlotto, erinnert mich an Audrey Hepburn mit Häubchen, es mag auch an ihren Augenbrauen liegen. Wir folgen dem Wuchs des Efeus in Richtung unseres Zimmers, das vier Betten, rote Spitzenunterwäsche vor dem Fenster und Kindergeschrei aus der nahen Volksschule bietet. Die Eingangstür liegt direkt am canale, an einer kleinen Brücke zwischen Rialto und Markusplatz, wo es nach Abwasser riecht und morgens Männer in fleckigen T-Shirts Kühlschränke verladen. Will man den Konvent betreten, muss man auf den kleinen Knopf neben einer Milchglasscheibe drücken. Die schwarze Kugel über der Tür sieht alles. Sie lässt nicht jeden ein.
Das erste Mal ließ ich mich als Schülerin auf Venedig ein. Von Slowenien mit dem Katamaran über das Mittelmeer gesegelt, gehüpft, an Land gesprungen und gleich in den nächsten Supermarkt, für ein paar Küsse, Pralinen, die ich seither von jedem Italienaufenthalt mitbringe. In diesen Küssen sind Sprüche versteckt, sie verbergen sich im Stanniolpapier. Ich schenke jedem Küsse, den ich treffe, bis mein Vorrat aufgebraucht ist. Wir alle brauchen manchmal einen unverhofften Kuss.
Eli steht am Ticketschalter und sieht mich eindringlich an. Es verstehe sich von selbst, dass ich an ihrer Seite bleiben müsse.
Ich brauche dich, sagt sie.
Ich gebe ihr einen Plan, deute auf die Pavillons.
Es ist ganz einfach, sage ich, am Abend treffen wir uns am Ausgang.
Ich bin mit dir hier, sagt sie und schüttelt den Kopf, also will ich es auch mit dir sehen.
So wie ich es sehe, bin ich nicht dafür gemacht, mit jemandem zusammen sein zu müssen.
Wir weichen der Sonne aus, die Muster in den Kies brennt, zwischen Spanien, Belgien und den Niederlanden. Es ist zu heiß an der Luft und in Gedanken zu kalt. Eli analysiert einen Baum im holländischen Dämmerlicht. Sein Anblick, die Dunkelheit, der Geruch lassen mich glauben, ich sei im Inneren eines Körpers. Ich habe den Eindruck, dass wir jetzt alles gemeinsam tun müssen: gehen, schauen, denken, und zwar laut.
Vergeblich beschleunige ich meinen Schritt im Palazzo delle Esposizioni, bis sie mich zwischen Ungarn und Brasilien einholt und sagt, sie brauche eine Pause.
Eli weiß um ihre Bedürfnisse. Sie kann sie äußern, auch darin sind wir uns unähnlich.
Ich merke, wie sich eine Barriere vor mein Herz schiebt und eine Hitze über meine Schläfen kriecht, eine leichte Übelkeit in meinem Magen entsteht, ein Gefühl, so leicht wie Helium. Nur dass mir nicht zum Lachen ist.
Sie sagt: Du bist noch eigenartiger als ich.
Und sie hat recht. Sie versteht das Leiden von anderen. Ich kenne wenige, deren Verständnis für Neurosen so ausgeprägt ist. Ihr kann ich erzählen, dass meine Haut manchmal so dünn ist, dass ich nicht unter Menschen gehen, dass ich Farben in Bildern spüren kann, dass ich weiß, was jemand meint, auch wenn er es nicht sagt. Sie versteht mich, wenn ich sage, dass ich geheilt bin, sobald ich in den Wald gehe, dass ich sie zwei Monate lang nicht zurückrufen kann, weil ich meine Verbindung zur Welt verloren habe und das nichts mit ihr zu tun hat.
Eli versteht mich, weil sie Ketten aus getrockneten Blüten, Indianermokassins und Wollsocken und ein durchsichtiges Kleid zu schwarzen Lederstiefeln trägt, sie versteht mich, weil sie selbst manchmal so glücklich ist, dass sie nicht schlafen kann.
Sie ist eine den Schwalben Zuhörende, Steine sammelnde Punkkanone, die an Wehren schläft, nackt in Strömen schwimmt, aber nur jenen aus Wasser, Bilder aus Gefühlen malen kann, eine feministische Anarchistin, die auf Berge steigt, um den Sonnenaufgang aus einer neuen Perspektive zu sehen.
Bis sie sich einen Pausenplatz ausgesucht hat, habe ich zwei Espressi getrunken und drei Zigaretten geraucht.
Ich spucke Nektarinenkerne in den nächsten Kanal...
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