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Nicht nur kitzelte und küßte Arnold Bohm die Fußsohlen seines Neffen, er massierte dem Kind auch stundenlang die Füße, wenn es über Zahnschmerzen oder Bauchweh klagte, wenn der Bub eine Halsentzündung oder die Masern bekam: jedem Körperteil entsprach ein bestimmter Fußpunkt, den nur der Onkel zu kennen schien. Arnold, der immer kleine, gepunktete Fliegen trug, reiste damals mehrere Male im Jahr mit der Eisenbahn nach Triest, in die Stadt seiner Geburt. Er und seine Schwestern Marthe und Viola zählten zur deutschsprachigen Minderheit in der Hafenstadt, Kinder eines vermögenden, im k.u. k-Reich Österreich-Ungarn hochangesehenen Kaffee-Importeurs und seiner Frau Emmy, einer Wienerin aus einfachen Verhältnissen.
Arnold versteckte, wenn er zu Besuch kam, zwar nie Mitbringsel in den Schiffskoffern, aber das Kind fühlte sich allein schon durch die Anwesenheit des kleinwüchsigen Mannes beschenkt. Der Onkel war so alt wie das Jahrhundert. Fragten ihn Unbekannte nach seinem Alter, gab er stets zurück: >das steht auf jedem Kalender.< Er lebte in Paris, und dort durfte ihn Tigor jeweils im Sommer besuchen. Mamma begleitete den Sohn zunächst nach Venedig, von dort ging die Reise allein weiter, im Schlafwagen. Er kam sich wie ein Erwachsener vor. Arnold holte ihn am nächsten Vormittag an der Gare de Lyon ab. Tigor mochte dennoch lieber, der Verwandte kam zu ihnen, schlief bei ihm, im Kinderzimmer, in der Viale XX Settembre Nummer 25.
Seine kleinen Füße in den weichen, warmen Händen des Verwandten zu spüren! Keine Berührung hatte er je wieder als ähnlich zärtlich empfunden wie diese. Und doch verlor er, als er nach Philadelphia zog, den nahen Kontakt zu seinem Onkel. Das Studium begann. Die Europareisen wurden seltener. Er schrieb nicht mehr regelmäßig. Erhielt dennoch auf jeden seiner Briefe engbetippte Flugpostblätter zurück. Das Jahrhundert wurde älter. Seit zehn Jahren hatte Tigor Arnold nicht wiedergesehen.
»Ich bin ein Toro Miura, ich bin ein andalusischer Kampfstier, ein besonders starker nämlich!« rief, aus dem Schlafzimmer, Arnold Bohm sich selbst und seinem Neffen zu. »Und meine unmotivierten Zornausbrüche muß ich wohl auf Bauchweh zurückführen. Aber diese gelegentlichen Schmerzen im Verdauungstrakt«, sagte er, zog den schmutziggrünen Morgenmantel über den kleinen, grau und weiß behaarten Körper, »empfinde ich als gerechten Ausgleich nach einem solchen Leben.«
Tigor wohnte seit zwei Wochen in der rue Monsieur le Prince Nummer 56, im dritten Stock eines halbverfallenen, vor allem in seinem Treppenhaus erschreckend schiefen Gebäudes, in dem es immer nach Hundescheiße und frischem Weißbrot roch, nach jener gleichen Mischung, die Tigor schon aus der Kindheit kannte. Arnold war vor dem Krieg hier eingezogen, als das Haus noch ein Hotel war, es hieß damals >Médicis<, und Bohm, ein junger, ehrgeiziger Theaterregisseur, mietete sich in zwei winzigen Mansardenzimmern ein. Übertauchte hier das Kriegsgeschehen, schloß sich keiner der drei Armeen an, die sein Einrücken befahlen, stand aber auch der résistance nicht nahe, deren Hauptquartier sich um seine Mitarbeit bemühte. Er kaufte, als das >Médicis< in den fünfziger Jahren aufgelassen wurde, und nachdem er als Wohnungsmakler ein beträchtliches Vermögen angesammelt hatte, das dritte Stockwerk sowie das Dachgeschoß des Gebäudes. Bewahrte in den zwei zuallererst bezogenen Kammern seine Lebensgeschichte auf, alle Briefe, Schriften, und uneinteilbaren Gegenstände (er nannte solche Objekte >Lebenserschwerer<), die sich im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hatten. In einer dritten Mansarde lebte Agueda, aus Caracas, seit vierzig Jahren Bohms Hausmädchen. Sie wollte seit langem in die Heimat, zu ihren Schwestern und zu ihrer steinalten Mutter zurück, es war Arnold jedoch immer wieder gelungen, sie zum Bleiben zu überreden.
»Du hast wohl nicht ein so gutes Gedächtnis wie Dein seliger Großvater, sonst wüßtest Du nämlich, wie oft ich Dir erzählt habe, ein wie wichtiger Tag dieser heutige vierzehnte Oktober für uns war«, stellte Bohm während des mittäglichen, von Agueda sorgsam vorbereiteten Frühstücks fest. Er riß das ellenlange, blähende Weißbrot in Stücke, bestrich es fingerdick mit frischer Bauernbutter. »Das war der Geburtstag meines Vaters und der seines älteren Bruders, den sie immer zusammen bei uns zuhause feierten. Am vierzehnten Oktober 1911 bekam Deine Großmutter zeitig in der Früh die Wehen, weinte heftig und rief: das ist eine Frühgeburt, das wird ein Siebenmonatskind!, worauf mein Onkel nur lachte. Er war nämlich böse auf Deine Großmutter, weil sie Deine Mutter nämlich nicht haben wollte und unter anderem vom Tisch gesprungen war, um das Kind loszuwerden. (Wie ja auch Deine Mutter Dich nicht haben wollte, um keinen Preis, und dann überglücklich wurde, Dich zu haben!) Deiner Großmutter hat's nachher sicher furchtbar leid getan, wenngleich sie, Jahre hindurch, zu jedem, der es hören wollte, wiederholte: die Kleine ist aber unheimlich häßlich geworden! Das hat uns empört, denn für uns war Marthe einmalig lieblich und aufgeweckt, und wir haben sie als Dreijährige unseren Freunden vorgeführt, da sang sie schon ganze friulanische Volkslieder auswendig und tanzte dazu. Daß aber du so aus der Art geschlagen bist! In der ganzen Familiengeschichte gab sich keiner mit derartig unanständigen Dingen ab. Schneeflockenkonstante?! Was soll das überhaupt heißen? Weißt Du noch, daß Du als Vierjähriger gesagt hast: >ich bin ja so komisch!< Da hast Du mir leid getan, weil Du keine Geschwister hattest. Ein heiterer Bursche ist jedenfalls nicht aus Dir geworden, das kann kein Mensch behaupten . Nur schön zu sein, das genügt nicht, mein guter Jakob .«
Agueda wollte den Tisch abräumen, verschwand, als sie die Männer noch in der Küche sitzen sah. Sie war um zehn Jahre jünger als Bohm, trug immer schwarze Röcke und schwarze Blusen über ihrer unförmigen, kleinen Gestalt. Tigor hatte in den Wochen seit seiner Ankunft kaum einen Satz mit ihr gewechselt, von einem Abend, der nunmehr acht Tage zurücklag, abgesehen. Das war an seinem vierzigsten Geburtstag gewesen, Agueda hatte ihm eine Karottentorte gebacken, fragte dann, als sie zu Bett ging, ob der Kuchen ihm denn geschmeckt habe? Begegnete er ihr aber seither in den Räumen und Korridoren der Wohnung, gelang es ihr jedes Mal, lautlos in ein Nebenzimmer zu verschwinden. Ging er ihr nach, oder sprach sie an, lief Agueda oft in das oberste Stockwerk, schloß sich in ihrer Kammer ein.
». bin etwas beunruhigt, in letzter Zeit«, sagte Arnold, »meine Agueda ist nämlich enorm verkalkt. Steht mit erhobenen Händen da und weiß nicht mehr, was sie vorhatte. Vergißt sogar Wege, die sie hunderte Male gegangen ist. Gelegentlich ist sie, vor Deiner Ankunft, wie eine Furie über mich hergefallen und hat mir damit gedroht, sofort nach Venezuela zu reisen. Ich bezweifle, unter uns gesagt, daß sie überhaupt noch allein reisen kann . Aber sie hat mich mehr als dreiunddreißig Jahre lang gut versorgt, und so habe ich eine ernste Verantwortung ihr gegenüber. Wir ergänzen uns in etwa: bei ihr ist der Kopf verdreht und bei mir Gehör und Augen ganz schlecht. Also ein Wettlauf mit dem Tode . Ich habe übrigens gestern, Du warst wohl ausgeflogen, mit dieser Barbara gesprochen. Du mußt nur zu ihr gehen, ihr das Ganze erzählen, ihr sagen, das sei Dein Jugendtraum, und von klein auf Dein Berufswunsch gewesen, sie wird das auch nicht gleich verstehen können, Du wirst ihr's zu erklären versuchen, es gibt dann wahrscheinlich kein Hindernis mehr. Ich finde die ganze Sache merkwürdig genug (>seltwürdig< pflegte mein Vater in solchen Fällen zu sagen) aber bitte, vielleicht weißt Du, was Du tust .«
Tigor beugte sich über die zusammengekauerte Figur des Verwandten, küßte ihn auf die Stirne, strich ihm über das Haar, sog die säuerlichen Gerüche, die der Alte ausströmte, die vor allem im Schlafrock klebten, tief in sich ein.
Unweit von Arnolds Haus lag eine Straßenecke, die Tigor seit der Kindheit besonders gerne mochte. Er fühlte sich hier zu Hause. Die rue Vaugirard traf auf dem place Paul Claudel mit der rue Médicis zusammen. Auf der einen Seite des kleinen Platzes betrat man den Parc du Luxembourg und gelangte, am Senatsgebäude vorbei, zu dem seichten Teich, wo die Spielzeugsegelboote zu mieten waren. Auf der anderen Seite befand sich der Bühneneingang des sandsteinfarbenen Théatre National de l'Odéon, einem mächtigen Bau, der von einem pyramidenförmigen Dach gekrönt war.
Seit er sieben Jahre alt war, hatte Tigor dieses Theater mit seinem Onkel oft besucht. Die Vorstellungen, die er hier sah, erschienen ihm wie gute Träume. Am Schluß mußte er in die Garderoben mitkommen, wo Arnold, nach den Premièren, halbnackten Schauspielern und Schauspielerinnen endlose Aufwartungen machte. Der Bub sah sein Spiegelbild in den Spiegelfluten gespiegelt, erblickte sich in Unendlichkeitsreihen den Kopf heben und senken, riß die Hand hoch, sie winkte ihm tausendfach zurück. Der Misanthrop und Kleopatra, Jeanne d'Arc und Othello drückten Bohms kleinen Neffen an sich und zwickten ihn in die Backen. Sie schwärmten vom Ruhm und von der Einzigartigkeit seiner Mutter. Ähnliches geschah ihm zwar auch in den Garderoben der Triestiner Oper, mit dem bedeutenden Unterschied allerdings, daß am Odéon immer nur Sprechtheater zu sehen war, und daß man hier nach viel teureren parfums und eaux de toilettes duftete als in Triest. Fragte man Tigor damals, was er einmal werden wolle, lautete seine Antwort stets: >Schnürbodenmeister an einem großen Theater.<...
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