Schweitzer Fachinformationen
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Im Flugzeugkörper, nachts, heben sie sich auf, weiße Kräfte, die mich wie Falkenfieber von Gegenteil zu Gegenteil locken. Das Wachsen, Zerreißen weißer Nachtwolkenwände klebt in mir. Der Landeanflug - eine Zeitlupenexplosion; versilbertes Festland, dort unten, silberweißes Elektromeer in Küstennähe. Dornenrosenboulevards, wie Nähfäden, Zwirnwälder, fest verknüpft. Als ich das Garnende endlich finde, reißen schwere Landungsräder aus ihren Aluminiumkammern, senkt sich die Reisemaschine sacht, inmitten der Nacht, auf die flächengrößte Stadt der Erde, Angelesangeles, versilbertes Festland, senkt sich die schwere Luftmaschine, Zeitmaschine, herab auf weißes Warnlicht, immer dichter heran an Rollfeld, Festland, Landepiste.
Landelust, leichtes Frösteln: das Aufreißen breiter Bremsflügel an den Rückseiten der Schwermetallschwingen, sobald die Räder Pistenbeton berühren. Sofort Sehnsucht; schon jetzt Sehnsucht nach kühlem Nieselmorgen und nachtregennassem Alpenhauptkammwald; Falkenfieber, im Ausrollen der Maschine. Hammondorgeltöne einer Countryandwesternmelodie, Landungsuntermalung über Bordlautsprecher, unterbrochen von der Honigstimme einer südschweizer Stewardeß. Der großen, mehrstündigen Verspätung wegen, begleiche die Fluglinie die Kosten einer Hotelübernachtung, hier, in Los Angeles; nähere Auskünfte erteile das Bodenpersonal.
Am Boden. Im Monat März. Ein Neonmilchlicht, Gegenteillicht, um zwei Uhr morgens. World Way heißt eine tote Straße vom Flugfeld zum Century Boulevard. Im Autobus nach Hollywood tiefe enge Stille. Jeder Sitz, jeder Zwischenraum besetzt von übernächtigen, betäubten Weltreisenden, durch die Fenster starren sie hinaus auf nachtleere Rollbahnen, schwarzweiße Freewaypisten. »Sind wir jetzt in die Erde gefallen?«, fragt mit hoher Stimme ein dreijähriges Mädchen seinen Vater, aus der Lautlosigkeit heraus. Der Wagen, ein verrosteter orangener Dodge, schleppt sich über Ölfelder hin, vorbei an scheinwerferbeleuchteten Bohrtürmen. Hydraulische Schaufelstöße.
>Titanverstärkte Miniaturbahnen möchte ich bauen, zum Erdmittelpunkt senden<, geht es mir durch den Kopf; noch durchschüttelt mich Landungsfrösteln. Mit halbgeschlossenen Augen erkenne ich nächtliche Bezirke wieder. La Cienega. Jefferson Boulevard. La Brea. Es ist Wiedererkennen aus Träumen, Filmen, Erzählungen. Ein Autobus fährt mich in meine Fremde. Sieben Jahre nach Kriegsende, bin ich in Santa Monica, einem Stadtteil von Los Angeles, Diasporakalifornien, als einziger Sohn jüdischer Emigranten, in einem Katholischen Hospital geboren. Diese Nachtlandung ist seit dem vierten Lebensjahr erste Rückkehr an meinen Geburtsort. Nicht Vaterstadt, nicht Mutterstadt, kein Elternhaus, hier, in meiner Fremde.
Hollywood Boulevard. Endstation des zerbrechlichen, schlecht gefederten Gefährts. Roosevelt Hotel. Und ich blicke, glühend müde, auf die gegenüberliegende Straßenseite, Graumans Chinese Theatre liegt im kühlen Nachtwind, im Halbdunkel, orientalisch der Lichtspieltempel, Celluloidmonument, wo seit den Zenitjahren Silverscreenstars ihre Hände, ihre nackten Füße vor den Eingangstoren in den nassen Beton abgedrückt haben. Uniformiertes Bodenpersonal führt mich in die stahlhelle Hotelhalle. Ein kleiner Bub, fünfjährig, versteckt sich dort kreischend unter dem weiten Cape seiner hochschwangeren Mutter, schießt unter dem Lodenstoff wieder kurz hervor, verschwindet nochmals. Den schweren Schlüssel zu Zimmer 810 in Händen, tief schlafwandle ich durch staublose grelle Korridore, drücke dem Laufburschen für das Gepäcktragen einen Dollarschein in den Handteller, öffne die Koffer, ohne im Zimmer das Licht anzuschalten, lasse mich in voller Kleidung auf das weiche weite Doppelbett fallen und liege zwischen den Tageszeiten, im Dunkel ausgestreckt. >Altösterreichisches; es ist wie ein Vorbeifliegen Alexander Lernet-Holenias, ich grüße auch alle Verbliebenen im Schattenstrich des Foliantenfahrers<, strömt es mir durch den Sinn. Kein Schlaf. Tief im Kern der Gegenteilgegenwart. Liege ausgestreckt auf Kalifornien, weiches Festlandfloß, Hinterkopf auf Hollywood, Rücken auf den Wüstentälern, linke Hand im Ozean, Fußspitzen berühren die Nordgrenze. Zwischen dem Hin und Her, drei Uhr Früh. Zwölf Uhr Mittag am Alpenhauptkamm. Tiefwach, hellmüde. Hinter dünnen Tapeten stürzen Toilettenbäche aufheulend durch alte Rohre in die Tiefe. Schlaflose Nachbarn schalten Fernsehgeräte ein. Die neueste Lieferung: Ford Monarchs, herrliche Modelle. Und Büstenhalter. Als Fertiggericht: Crêpes Suzettes. Längst Verdecktes bricht auf. Wiener Gymnasium. Schubertbilder auf Streichholzschachteln. Beim Pedell: der Kakao. Abgepackt in kleinen Pappepyramiden. Reiße mich hoch, sitze hellwach am Bettrand. Im Verschwimmen der Erinnerung an eine dreiköpfige Familie aus dem nordindischen Staat Bhutan, die ich, auf der Fahrt in einer alten Wiener Straßenbahn, vor den infamen Beleidigungen eines ottakringer Tramwayschaffners in Schutz nehmen mußte, im Verschwimmen dieses inneren Tonfilmbildes, reiße ich mich hoch, drehe Licht und Fernsehapparat auf, wasche mir mit kaltem Wasser Hände und Gesicht. Die Endminuten aus John Hustons African Queen am Bildschirm, Kanal 4, das Verhör an Bord des britischen Kriegsschiffes. >Oft gleichen geöffnete Koffer geöffneten Früchten<, denke ich, beim Verschließen des Gepäcks.
Nehme mir aus einer Seitentasche die verbliebene Hälfte eines Granatapfels, gekauft in Europa, kurz vor dem Abflug. Lasse die großen Koffer zurück, trage in einer Hand eine schmale schwarze Aktentasche mit wichtigsten Habseligkeiten, in der anderen die seltene rote Frucht. Im Erdgeschoß, in der grellen Schaumstoffhalle, sitzt das Hotelpersonal in einer Plastikpflanzenecke lautlos beisammen. In ihren Uniformen spielen sie Poker, mit ernsten Mienen; ein umgedrehter Schmutzwäschekorb dient als Kartentisch. Durch die Blätterwand hindurch, bitte ich fröstelnd eine jungendliche Receptionsdame, mein Gepäck zur Garderobe bringen zu lassen, ich werde im späteren Verlauf des Tages wiederkommen, es abholen. Und hinaus in ein nachtkühles Hollywood.
Schwarzweißer Boulevard, spärlich befahren. Kühler Wüstenwind. Ich beiße in seidene, saftgefüllte Granatapfelkerne und wandere regelmäßigen Schrittes, tiefwach, hellmüde, nach Nirgendwoüberall, hinein in ein engmaschiges, immer rechtwinkeliges Palmenstraßennetz. Im Seidentuchdunkel einstöckige hölzerne Pavillons (Farbe blättert ab); ägyptische, chinesische, spanische Landhäuser, schweizer Chalets, schottische Herrschaftsvillen. Rasengärten, Rosengärten, aus unsichtbaren Quellen leise zischend bewässert. Orangenblütenduft liegt unter der hohen Palmendecke. Bewege mich fort, von Farbgeruch zu Baumgeruch, taste mich vorwärts, auf der Suche, wurzellos, auf Wanderjahrespfad Richtung Westen, Geburtsort Santa Monica. Straßenschiffe, Kreuzer, Tanker rollen matt an mir vorbei, Schichtarbeiter, Schlaflose in ihren Stahlhüllen. Ich gleite einer scheinwerfererleuchteten Straßenkreuzung entgegen, das Helle brennt mir in den Augen, Sunset Boulevard liegt ausgerollt vor mir, breites orangenes Band, kerzengerade Schlagader, Vene im Stadtschaum. Aus einer ebenerdigen Lagerhalle dringt die Schokoladekeksluft einer Bäckerei, mischt sich mit dem Geruch nach Spiritus und verrostendem Werkzeug, der auf der leeren lichtübergossenen Tankstelle Ecke La Brea Avenue liegt. CRY, BABY, CRY! blitzt aus breiten Lettern die Reklametafel einer fabriksneuen Schallplatte herab. Ein braungebranntes Mädchen liegt halbnackt auf dem Großbuchstabenbett ausgestreckt, hoch über der Straße, hat den spitzen lackierten Nagel ihres linken langen Zeigefingers gegen die tiefrote Unterlippe ihres Schmollmundes gelegt. Und ich klammere mich an einem Kupfergeländer der Tankstelle fest, so, wie bei hohem Seegang an den Metallgriffen einer Ozeandampferkabine. Neben mir, an neongelber Mauer, ein hoher Spiegel, in Facetten zehngeteilt. Durch halboffene Lider erkenne ich dort mein zerbrochenes Abbild. Ganz in schwarz bin ich gekleidet. Ungeordnet die Haare, hellbraun; immerblasse Gesichtshaut. Großblaue Augen. Und an das Geländer festgeklammert, beobachte ich einen weißhaarigen älteren Mann, Ende sechzig etwa, der unweit von mir, auf der Kunststoffbank einer Bushaltestelle, unterhalb der blitzenden Letterntafel sitzt und die schmale Hand einer hochgewachsenen, vornehm gekleideten jungen Frau festhält. Sie steht seitlich vor ihm, ich sehe ihr Gesicht nicht, sie kehrt mir den Rücken zu. Ich höre den Alten erregt murmeln, wasserfallartig, nehme sein nüchternes, sehr gepflegtes Äußeres wahr, den gestutzten weißen Spitzbart, die kleinen runden Brillengläser. Seine breite behaarte Hand umschließt fest die zarten Finger der jungen Frau; seine tiefe Stimme ist mit einem Mal deutlich hörbar. »Aber man kennt mich doch, glauben Sie mir das doch bitte, im ganzen Disneyland, im ganzen Santa Ana kennt man mich, und jeder traut sich, sich hinzusetzen, sitzenzubleiben, nur Sie nicht, ich bin untröstlich -.« Hilfesuchend blickt die junge Frau um sich, in alle Richtungen, ich erkenne keinen Gesichtszug in der Sekundenkürze, und die Ängstliche sieht mich nicht, ich eile ihr nicht zu Hilfe, ihre kleine Hand steckt weiter im Griff des Weißhaarigen. »So komm doch, komm, setz Dich auf meine Knie, Kind, es tut ja sonst auch jeder, mach schon, komm, ich tue Dir ja nichts! -« Mit heftigem Ruck und gurrendem Laut, gelingt es der Frau, sich plötzlich von ihm loszureißen, sie läuft, wie verwundet, in meine Richtung (das Gesicht ist halb Pferd, halb Habicht, will mir scheinen), der knielange Schottenrock flattert im Laufschritt, zersplittert im Spiegelfächer, als die Unbekannte hautnah an mir...
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