Schweitzer Fachinformationen
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SIE fuhren in nördlicher Richtung. Er drehte das Radio wieder an, Ten-Ten-Wins-News, where the newswatch never stops: Eine Kurzreportage aus der Wohnung von Mariah McWilliams, in Yonkers, ehemalige Köchin und Hausangestellte, die an diesem Tag ihren hundertundvierten Geburtstag feierte - »I just kept on living«, läßt sie die Schar der Glückwunschüberbringer wissen. Sie habe nie geheiratet und nie Kinder bekommen: ». 'cause that kills you!« Auf der Fußgängerüberquerung der Brooklyn Bridge hatte sich eine Stunde zuvor ein dreiunddreißigjähriger mexikanischer Einwanderer vor den Augen entsetzter Passanten erschossen. Der Notarzt brachte ihn zum NYU Downtown Hospital, doch er war bereits tot. »Er hat sich wie ein Indianer so seltsam niedergekniet«, berichtete ein Augenzeuge, »dann holte er eine Pistole aus dem Hosenbund und peng, in die Schläfe.«
»Stellst du's bitte wieder ab? Ich hab dich doch vorhin schon darum gebeten: kein Radio. Keine Musik .«
Es gab in diesem Wagen keinen CD-Spieler, nur einen Kassettenrecorder. Ihm fiel ein, daß er die Janis-Joplin-Platte im Pontiac zurückgelassen hatte - er ärgerte sich.
»Warum grunzt du so komisch, Gustav?«
»Nichts. Es ist nichts.«
»Hast du was vergessen? Im andern Auto?«
»Nicht so wichtig .«
An Umkehr war nicht zu denken. Ein neuer Beweis für die kleinen Gedankenlosigkeiten, die sein Leben seit Vaters Tod mit ihrem Ungenauigkeitsmuster durchzogen.
Er drückte erneut auf die Radiotaste, bemerkte nicht, daß der Henry Hudson Parkway breiter wurde, hielt sich rechts, weit rechts, da befand er sich bereits versehentlich auf der Zufahrt zur George Washington Bridge. Zügig floß der Verkehr auf das Oberdeck zu und dann in beiden Richtungen über die acht Fahrbahnen der kilometerlangen Hängebrücke.
»Ich versteh nicht, wie man so unkonzentriert sein kann. Schau, wo wir jetzt sind! Wenn das Radio nicht an wäre, wäre dir das nie passiert. Hättest du nicht besser aufpassen können?«
Über dem Wasser schwebend, zwischen hochhaushohen Stützpfeilern, genoß er das rhythmische Schattenspiel der Stahlverstrebungen, der Seile und Kabel, die seine Fahrt von beiden Flanken her und von oben herab begleiteten. Er warf Seitenblicke auf den glitzernden Hudson River, tief unter ihnen, an dieser Stelle halb Meeresarm, halb Flußdelta. Wenige Meilen weiter südlich, wo die Freiheitsstatue in den Himmel ragt, floß der Hudson in den Atlantischen Ozean. In seinem Ohr ein Sausen und Sirren, der Klang der tausend Reifen auf dem Metallboden der mächtigen Brücke. Unter dem zweiten Turm hinweggerollt - es tat ihm leid, die George Washington schon verlassen zu müssen. Kaum eine Minute hatte die Brückenüberfahrt gedauert.
»Jetzt sind wir aber auf dem falschen Ufer«, klagte Mutter, »im Bundesstaat New Jersey, dem Schlafland der Einkommensschwachen, bitte, Burschi, dreh um.«
Er kehrte nicht um.
Sie kamen rasch voran, in Richtung Norden, auf dem Palisades Interstate Highway. Wie grün es auf der Westseite des Hudson war - viel schöner als auf der Ostseite, ein Wechselspiel kleiner Wiesen und Wälder. Eine Parklandschaft, Aussichtspunkt-Parkplätze immer wieder, weite Blicke auf den Fluß.
Gustav rechnete sich aus, daß er die Familie in einer Stunde umarmen konnte. Seine fünf Monate alte Tochter, den neunjährigen Sohn, seine Frau, die er innig liebte. Liebte er sie innig?
»Aber nicht wie in den ersten Jahren«, bemerkte Mutter. Ihr Gehör war zwar fabelhaft, aber er hatte kein Wort vernehmen lassen, »weil es das nicht gibt. Das kommt nicht vor. Das hat es nur bei deinen Eltern gegeben. Du kannst sie nicht nach zehn Jahren so lieb haben wie am Anfang. Zwei Jahre warst du glücklich mit ihr, dann ist sie dir fad geworden, hab ich recht?«
»Mutter? Wovon sprichst du?«
»Von deiner Frau. Du hast gerade über euch beide nachgedacht. Oder nicht? Wir haben uns wirklich sehr lieb gehabt, der Papa und ich, und nicht nur wie Bruder und Schwester sich lieben, wie es das so oft gibt, bei älteren Paaren, nein, wirklich geliebt, bis ganz zum Schluß. Der Papa hat es genossen, mit mir zu schmusen, zu schlafen, alles haben wir gemacht miteinander, alles, wie ganz am Anfang. Das wird es zwischen dir und deiner Emm« - sie nannte Madeleine immer nur Emm - »nicht geben. Der Ludwig hat's mit mir so gut gehabt, weil ich ihn unterhalten, weil ich ihn zum Lachen gebracht hab, weil es ihm mit mir nie langweilig war in all den Jahren. Und betrogen hat er mich sowieso nicht, denn er war mit mir besonders glücklich. Er hat nichts anderes gebraucht als mich.«
»Darf ich dich daran erinnern, daß du mir noch vor fünf Jahren gesagt hast, du hältst ihn nicht mehr aus? Du willst dich unbedingt von ihm scheiden lassen? Das hast du vergessen.«
»Du phantasierst. Ich würde gerne verstehen, warum du derartige Legenden in die Welt zu setzen versuchst? Was hast du davon? Was bringt dir das? Weil du mit deiner Frau nicht so glücklich bist, wie ich mit dem Papa war, willst du mir unser Glück nachträglich mies machen?« Mutter hatte die Angewohnheit, mehrere Worte in jedem Satz zu betonen, dadurch wurde Nebensächlichkeiten allergrößte Wichtigkeit beigemessen. In jeder ihrer Aussagen schwang etwas Dramatisches, Endgültiges, Unbedingtes mit, und mochte es auf zweiten Blick noch so unwesentlich sein.
Er bat Mutter, im Ferienhaus anzurufen. Sie drückte die Wahlwiederholungstaste.
»Der Anrufbeantworter schaltet sich ein .«
»This is the Rubin summer residence .«, die hohe, ernste Stimme seines Sohnes, er sprach einwandfreies Englisch, »sorry, we're not in right now . please leave us a message after the beep .«
»Ich bin's, eure Großmutter«, sprach Mutter auf das Tonband. »Wir sind schon auf halbem Weg. Der Gustav hat sich natürlich wieder einmal verfahren, wie immer. See you soon, Kinder!«
Nicht Sprachen mischen!, hatte Vater immer gewarnt, sonst wirst du als Erwachsener nur noch Kauderwelsch von dir geben. Sprich entweder Englisch oder Deutsch, aber nicht dieses Emigrantengemisch. Ludwig David Rubin vertrug nicht, daß so viele der nach Kriegsende nach Deutschland und Österreich eingewanderten Flüchtlinge, Völkermordüberlebende wie er selbst, es nach Jahrzehnten noch nicht geschafft hatten, die deutsche Sprache fehlerfrei zu beherrschen. Er zögerte nicht, seinen Schicksalsgenossen ein zorniges LernenSieDeutsch! zuzurufen, sobald er sich ihren Mauschelattacken, wie er ihre osteuropäisch gefärbten Akzentkaskaden nannte, ausgesetzt sah.
Sie befanden sich unweit der Ortschaft Nyack. Große Schilder wiesen auf eine Brücke hin, die er nur dem Namen nach kannte - Governor Malcolm Wilson Tappan Zee Bridge stand da in großen weißen Lettern auf grünem Grund. Die erste Möglichkeit seit der George Washington Bridge, den Fluß zu überqueren und die Fahrt nach Carmel auf der Ostseite fortzusetzen. Er fädelte den schneeweißen Wagen in die rechte Spur ein, um zur richtigen Abzweigung zu gelangen.
Serpentinen führten zum Hudson hinab, bei Nyack breit wie ein See, die Straße erinnerte Gustav an das sachte Herabgleiten bei Triest, wenn man sich der Stadt aus dem Hügelland nähert, auch als Autofahrer gleichsam wie im Segelflugzeug-Sinkflug herabschwebt, aus dem Karstgebirge kommend. Auf halber Bergeshöhe tauchen da die Außenbezirke auf, und man sieht auf das Meer, den Hafen, auf das rechtwinklige Straßengeflecht hinab, kommt der Innenstadt Kurve um Kurve näher. Triest - Stadt am Alpenrand, Stadt am Meeresufer, Zauberort, ein Menschheits-Knotenpunkt, den Gustav liebte wie keine andere Stadt Europas, Geburtsort seiner Großeltern mütterlicherseits, die er niemals kennengelernt hat und deren Gräber er nicht besuchen konnte - ihre Asche verwehte über einer polnischen Provinzstadt.
Tappan Zee - er ahnte nicht, wie groß sie war: doppelt so lang wie die George Washington Bridge. Bald würde er die Auffahrt erreichen, die auf dutzenden Betonpfeilern lag und in weitem, ansteigendem Kurvenschwung auf das hohe Mittelstück aus Stahlverstrebungen zulief. In breiter Kehre schwebte die Auslegerbrücke danach sacht absteigend auf das gegenüberliegende Ufer des Hudson zu. Einer riesigen Schlange gleich lag sie im Wasser, die Tappan Zee, in ihrer Mitte ragte ein mächtiges Stahlfachwerk in den Himmel, zwei spitz zulaufende, spiegelgleiche Teile, die kleinen Bergspitzen ähnelten - oder wie die Rückenflossen eines Drachen aussahen? Ein S-förmiges Lindwurmskelett, aus dessen Rücken sich zwei hohe knöcherne Zacken hervorhoben. Aus der Entfernung ließ es Gustav an die >Matador<-Bauten denken, die er als Bub auf dem Parkett seines Kinderzimmers errichtet hatte, aus durchlöcherten Holzbausteinen, mithilfe schmaler Stifte zusammengesteckt.
»Diese ganze Landschaft hier kann mir gestohlen bleiben, ich mag sie nicht«, bemerkte Mutter, »es ist mir unbegreiflich, daß ihr hier jedes Jahr eure Ferien verbringt. Für mich natürlich gut, denn ich bekomme dich zu sehen, aber wie man es hier schön finden kann? Wenn ich das vergleiche mit der österreichischen Landschaft. Ohne diese österreichische Schönheit bin ich nicht wirklich ich. Wie fantastisch es im Salzkammergut ist, an den Seen, oder die Wälder, die Berge, alles, ich hab manchmal so große Sehnsucht danach. Die Berge rosa vom Sonnenuntergang, die Luft süß und frisch und lau. Aber für den Papa war's wichtig, oft hier zu sein, wegen seiner Arbeit, wegen seiner Lehraufträge, schade. Die Menschen, die gehen mir nicht ab, diese...
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