Schweitzer Fachinformationen
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Ich habe zugegebenermaßen einen etwas peinlichen Hang zu Berühmtheiten. Eine sonderbare Lust, ihnen nahezukommen, sie kennenzulernen, mich mit ihnen anzufreunden. Ich fühle mich in ihrer Nähe wie unter einem Schutzschirm, beruhige mich, bilde mir ein, in ihrem Schatten gut aufgehoben zu sein. Sitzen etwa ein Filmregisseur oder ein prominenter Schlagersänger, eine bekannte Eiskunstläuferin, ein Nobelpreisträger, eine Pianistin oder eine gefeierte Violinistin im Flugzeug mit mir, bin ich überzeugt, diese Maschine werde nicht abstürzen.
Diese Neigung, bei ihnen Nähe zu suchen, führe ich auf meinen dritten Geburtstag zurück, am North Ogden Drive, im Herzen Hollywoods, den ich deutlich erinnere, womöglich weil beide Eltern mir damals zuflüsterten: Diesen Nachmittag wirst du dein Leben lang nicht vergessen. Mutter hatte ihre Freundinnen, die Schauspielerinnen Hedy Lamarr und Paulette Goddard, sowie zwei ihrer verflossenen Liebhaber, Errol Flynn und Paul Henreid, eingeladen, Vater seinen Jugendschwarm Lilli Palmer. Curd Jürgens kam, Alma Mahler brachte den Dirigenten Bruno Walter mit, sie alle und viele andere Gäste umringten mich, als sei ich der jüngst reinkarnierte Dalai Lama. Ich sehe einen kirchenschiffhohen Raum vor mir und mehrere Reihen kleiner hölzerner Stühle, ein kühler Wind weht durch das Haus, obwohl es draußen unerträglich heiß ist, an jenem Dezembernachmittag.
Ich stelle der Filmschauspielerin nach. Wohin geht sie als Nächstes mit den sieben Einkaufstüten, drei in der linken, vier in der rechten Hand? Unentschlossen umrundet sie die Aligre-Halle. Ihre Sonnenbrille wirkt an diesem dunklen, nieselregnerischen Morgen ein wenig fehl am Platz. Sie ist groß gewachsen und viel zu dünn, bewegt sich pantherähnlich. Man sagt ihr nach, sie sei Mythomanin. Mutter Algerierin, der Vater, in Vietnam geboren, wuchs in der Bretagne auf. Die Eltern verprügelten ihre Tochter regelmäßig, als sie in die Pubertät kam. In ihrem ersten großen Film, in dem sie Regie führte und die Hauptrolle spielte, rechnete sie unbarmherzig mit Vater und Mutter ab.
Vorsichtigen Abstand haltend, studiere ich die Kleidung der Pantherähnlichen, eine sorgfältig komponierte Zusammenstellung über Zeiten und Herkünfte hinweg; die eng anliegende, schwarze Jacke, die dunkelgrauen Givenchy-Hosen, die blütenweiße Seidenbluse. Vor einer Woche beobachtete ich, wie sie jedes dieser Stücke bedächtig, geduldig aussuchte, bei Geneviève, hier, am Flohmarkt, der einer der drei Teile des marché d'Aligre ist. Geneviève verkauft die besten Garderoben bekannter Couturiers aus zweiter, dritter, vierter Hand.
Eine alte Bettlerin begrüßt jeden, der ihr über den Weg läuft, sie taucht ausschließlich an Samstagen hier auf, so auch an diesem Samstag vor Ostern, wünscht uns allen einen guten, glücklichen Tag. Langes Kleid, Mantel bis zu den Knöcheln, die Taschen vollgestopft mit Funden aus den Mülltonnen. Die Uralte blickt jeden zuerst ganz offen an, dann lächelt sie süß und ruft mit froher Fistelstimme »Bonne journée!«. Auch die Schauspielerin wird von ihr so begrüßt, woraufhin auch sie entgegnet »Bonne journée!«. Mit Sicherheit hat sich die Bettlerin ebenfalls am Markt eingekleidet, bei den Sauvettes, den Roma und Sinti, den illegalen Straßenhändlern am Rande der Brocante, bei denen es Waren zwischen ein und drei Euro zu kaufen gibt. Bis die Polizei auftaucht, mehrmals in der Woche. Dann raffen die Sauvettes, Männer, Frauen, Kinder, ihre Sachen zusammen und sind innerhalb von Sekunden, schwer bepackt, in alle Himmelsrichtungen verschwunden.
Der Blumenstand befindet sich nicht weit von Hamzas exotischen Früchten entfernt, vor einem der hohen, schmiedeeisernen Eingangsgitter zur Markthalle. Die Schauspielerin kauft Tulpen, mehrere Sträuße weißer, gelber und roter Tulpen - wie will sie das alles tragen? Biete ich ihr an, sie zu begleiten? Undenkbar, ihre Anonymität zu missachten. Sie bittet Jean-Jacques, den jungen Blumenhändler, er möge ihr die Sträuße in einer halben Stunde nach Hause liefern. La chance! Der Glückliche! Sie lacht laut über einen seiner Scherze, zeigt ihre riesigen, sehr weißen Zähne. Ein Witz, den ich nicht ganz verstehe - ich stehe eine Spur zu weit entfernt, damit die Verfolgte nicht bemerke, dass ich ihr nachspioniere - über eine Schar von Zuhältern, als es die Hallen im Herzen der Stadt noch gab. Die Hallen, die man den Bauch von Paris nannte. Den marché d'Aligre bezeichnete man im neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts - da herrschte hier noch weit heftigeres Markttreiben, dichter, lauter, intensiver als heute - als den zweiten Bauch von Paris.
Jean-Jacques, das ungewaschene, fettige lange Haar zum Pferdeschwanz gebunden, Arme und Beine von grellbunten Tätowierungen übersät, sieht immer unausgeschlafen aus, er ist laut, ziemlich rabiat und stets betrunken. Oder nimmt er Aufputschpillen? Schnupft er Crack, Kokain, schluckt er Ecstasy? Seine Bewegungen wirken heftig, eckig und hektisch, als bliebe ihm zu wenig Zeit, um noch alle Handgriffe des Tages zu erledigen. In Stundenabständen verschwindet er, um sein Wasser abzuschlagen und den Alkohol- oder Drogenpegel aufzufrischen. Danach sitzt er, die Beine breit von sich gestreckt, sein schwarzer Schäferhund Aztec zu seinen Füßen, in einem der acht Cafés, die den Markt bestücken wie Diamanten eine Brosche, und hebt sein Glas. Währenddessen klagen Mutter und Großmutter, die seine Angestellten sind - sein Vater hat auf dem Sterbebett allein ihm den Blumenstand vererbt -, ihr Leid. Ausgerechnet Jean-Jacques darf der Filmschauspielerin die Blumen liefern?
Die alte Bettlerin hält allen ihr schmutziges Händchen hin, wünscht mit einem Mal niemandem mehr »bonne journée«, blickt düster vor sich hin, flucht auf eine Sinti-Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschiebt und ebenfalls aufdringlich bettelt, wobei sie andauernd den Weg ihrer Konkurrentin kreuzt. Die Sinti-Frau mit dem speckig-fleckigen Kopftuch führt jede Woche ein neues ausgeliehenes Baby oder Kleinkind spazieren, nie Buben, immer Mädchen, und je größer das Kind, das sie mitführt, desto schwieriger ist es zu bändigen, denn Vier- und Fünfjährige wollen nicht mehr im Wagen sitzen. Dann brüllt die Sinti-Frau sie nieder, bis sie sich wieder in den Wagen setzen und heulend durch das Marktgelände schieben lassen.
Die Filmschauspielerin steckt der Bettlerin ein Zweieurostück zu, bewegt sich langsam die rue d'Aligre hinauf, in Richtung der rue Faubourg Saint-Antoine. Sie schlendert die schmale Straße entlang, zu den vormittäglichen Marktstunden ausnahmslos Fußgängerzone; zwei Dutzend Gemüse-, Salat-, Obststände, vielleicht sogar mehr, die vor Farben, Formen, Düften gleichsam überschäumen, sind beiderseits wie eine Art Spalier aufgebaut. Ich bewege mich an hoch aufgeschichteten Auberginen-, Tomaten-, Zucchini-, Artischockenbergen vorbei, die üppige Farbenpracht, der Wohlgeruch des ausufernden Obstangebots sind ein nicht enden wollender Genuss. Wohin man blickt: frische Ware, Schönheit, Qualität, und darüber liegt das Geschrei der stolzen Verkäufer. Rhabarber und Ananas, Passionsfrüchte und Kiwis türmen sich neben den saisonalen Gemüsesorten Chicorées und Karotten, Radieschen und Avocados. Der erste Spargel taucht auf, der grüne, aus Nordamerika und China importiert, der weiße Spargel aus den Anbaugebieten im Elsass. Wie zornig vor einigen Jahren Michelle reagierte, die verführerische, zugleich vollkommen unnahbare Verkäuferin an einem der Stände vor der hohen Halle Beauvau, als ich es wagte, im September nach Endivien zu fragen: »Ce n'est pas la saison, monsieur!« Was mir einfalle, außerhalb der Saison Chicorées zu verlangen. Michelle ähnelt eher einer aufstrebenden Bankangestellten als einer Marktfrau; sie hat schon verschiedentlich versucht, mir meine Illusionen von einem Markt ohne Schattenseiten zu rauben. Nur an ihrem Stand könne man ganz sicher sein, Produkte vorzufinden, die nicht von Verbrechersyndikaten wie der italienischen Mafia kontrolliert seien: »Die berühmten Kirschtomaten aus Pachino zum Beispiel, die hier überall, außer bei uns, ausliegen? Die kommen von der sizilianischen >Stidda< und werden um die halbe Welt versandt. Ein Kilo der >Pomodorini< kostet die Hersteller, die afrikanische Sklaven beschäftigen, etwa 40 Cent. In Mailand zahlt man dafür 7,50 Euro, hier am Aligre immerhin 6, in London 12 Pfund, in Kanada mehr als 15 Kanadische Dollar. Sogar beim Kokain ist die Handelsspanne geringer, Koks muss die Mafia ja erst nach Europa schmuggeln, bereits die Logistik kostet enorm viel Geld. Gemüse ist unschuldiger .«
Ich lasse mir meine Freude nicht rauben: Parallel zu den Marktständen säumen Bäckerstuben und enge Läden für Käse, Fleisch und Fisch, für Wein, Tee, Kaffee und Gewürze sowie ein arabischer Friseur, eine Apotheke und zahlreiche kleine Esslokale die rue d'Aligre, vietnamesische, chinesische, thailändische, arabische, italienische Küchen. Ein Dönerimbiss, der unter den Marktleuten als >Le Grec< bekannt ist, nennt sich >Restaurant Turc<, dabei sind die Besitzer, meine Freunde Muchtazzar und Dogan, mitnichten Griechen, und Türken schon gar nicht: Es sind Kurden aus dem Norden des Irak. Und sie mögen die Türken absolut nicht.
»Warum nennt ihr euer Lokal dann >Restaurant Turc<?«
Dogan hebt die Schultern: »Das kennen die Leute. Aber was Kurden sind, weiß doch kaum jemand .«
Bemerkt denn die Raubkatzenähnliche nicht, dass...
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