Schweitzer Fachinformationen
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Niemand darf das Hotel mehr verlassen. In der Halle des Presidente, nahe dem Eingang zum Restaurant, hat sich eine lange Warteschlange gebildet. Daniel schließt sich den Gestrandeten, den bleiern Vorwärtstapsenden an. Er hört ihren Gesprächen zu: Versäumte Abflüge, verschobene Weiterreisen, stornierte Geschäftstermine. Ein Kapitän, dessen Kreuzfahrtschiff im Hafen La Guaira vor Anker liegt, kann nicht zu seiner Mannschaft zurück. Eine Augenspezialistin, am nächsten Morgen dringend in ihrer Klinik in Los Angeles erwartet, hat alle Operationen der kommenden Tage absagen müssen.
Daniel erscheint es unerträglich, weiterhin wie Vieh auf Fütterung zu warten. Er kehrt in sein Zimmer zurück, hängt sich zwei Frotteetücher um. Durchquert dann im Keller einen langen Gang, erreicht das Terrain des Schwimmbassins. Die Wasseroberfläche regt sich nicht. Das Becken ist menschenleer. Liegestühle, Sonnenschirme glänzen matt im Licht. Es riecht nach Chlor und Hitze.
Er gleitet in das Wasser. Er fühlt sich geborgen in einem Schwimmbecken. Er schwimmt auf dem Bauch, wiederholt immer nur die einfachen, perpetuellen Arm- und Beinbewegungen, wie er sie mit acht, mit neun Jahren erlernt hat, unter der Jahrhundertwende-Kuppel des Wiener Diana-Bades, das es längst nicht mehr gibt. Er schwimmt mit Ausdauer von Beckenrand zu Beckenrand, und immer so fort. Über seinem Kopf ragen zwanzig Stockwerke in den Himmel. Im Hotelpark knarren die Palmenstämme. Zwei Papageien flattern in einem geräumigen Käfig auf und nieder, stoßen Schreie aus, als drohe Todesgefahr.
Vor Daniel zeichnet sich das Bild seines Onkels ab: Lächelnd. Immer lächelnd. Nicht nur wenn er photographiert wurde, lächelte Alexander Stecher Bravo, er schmunzelte in jeder erdenklichen Lebenslage. Ein schmaler Mann, immer glatt rasiert. Brillenträger, seit seiner Jugend. Täglich zog er ein frisches weißes Hemd, legte auch bei größter Hitze eine Krawatte an. Sein Haar war weiß und militärisch kurz geschnitten.
»Muy bién! Muy bién!« kreischt einer der Papageien.
Er war vier Jahre alt, Alexander zweiundfünfzig Jahre älter; der Onkel saß an seinem Bettende, im achtzehnten Stockwerk des New Yorker Hotels St. Moritz, Central Park South. Die Eltern gingen aus an jenem Abend, sahen am Broadway die Generalprobe zur Welturaufführung der West Side Story, hatten dem Verwandten, der ihn seit zwei Stunden erst kannte, ihn nie zuvor gesehen, die Aufgabe des Kindbewachers anvertraut. Du schütteltest, erzählte Stecher dem Neffen noch Jahrzehnte später, ununterbrochen den Kopf, mehr als eine halbe Stunde lang. Wie ein Schwachsinniger bist du mir damals vorgekommen. Dann aber hieltest du mit dem Kopfschütteln plötzlich inne, blinzeltest, sahst, daß ich es war, der bei dir saß, wie immer vertieft in die Börsenberichte des »Wall Street Journals«, der »Washington Post«, der »New York Times«. Da hast du dich aufgesetzt, mich angeschaut und gesagt: Ach!, wenn du da bist, brauche ich ja nicht weiter mit dem Kopf zu schuckeln! Minuten später bist du selig eingeschlafen.
Ruhige Schwimmzüge, von Bassinrand zu Bassinrand. Das Knacken eines verrosteten Liegestuhls.
Daniel Löw ist im juristischen Sinne nicht Alexander Stecher Bravos Neffe, obwohl er sich immer als sein Neffe empfunden und bezeichnet hat. Jacob, Daniels Vater, hatte zwei Cousins mütterlicherseits, Söhne der einzigen Schwester seiner Mutter: Arnold und Alexander. Arnold, Mittelschullehrer, in seiner Freizeit passionierter Ornithologe, verstarb, ohne geheiratet oder Nachwuchs hinterlassen zu haben. Alexander, auch er ein unbeugsamer Junggeselle, blieb ebenfalls kinderlos. Stecher verwöhnte seinen Cousin zweiten Grades seit dessen Geburt. Nahezu jedes Jahr unternahm er die Reise von Caracas, flog nach Europa oder schiffte sich nach Le Havre ein. Für Jacob, den Cousin ersten Grades, brachte Alexander wenig Interesse auf. Trafen die beiden einander, wußte keiner, wie mit dem anderen umzugehen war.
Die Haare sind feucht vom Schwimmbad, als er den fensterlosen Speisesaal betritt. Auf den langgestreckten Buffettischen findet er kaum noch Eßbares vor. Zwanzig Neonlampen verströmen Kaltlicht. In der Mitte des Plafonds eine Spiegelkugel, Glitzerkarussell. An Tanzabenden wird sie in Drehung versetzt, kleidet den Raum in schaukelnde Blitze.
Er schnappt sich von den leeren Metallplatten verwelkte Salatblätter und ein Reststück Käse, grauschimmernde Wurstscheiben und ausgetrocknete Weißbrotschnitten. In einer Kupferwanne liegen drei kahle Ochsenknochen in schwarzer Bratensauce. Er sitzt allein im hangarbreiten Saal. Verschlingt das wenige, das auf seinem Teller liegt. Steht nochmals auf, sucht nach einem Stück Obst.
Eine Frau betritt den Raum. Ihre Augen ähneln denen von in schweren Netzen gefangenem Wild. Ihr langer, kreideweißer Hals reckt sich in jede Richtung. »I'm hungry!« ruft sie. Und nochmals: »I'm hungry!«
Er reicht ihr zwei Orangen, die letzten, die zu finden waren.
»Let's share«, sagt sie, »teilen wir.«
Er kehrt an seinen Platz zurück, der runde Tisch ist übersät mit Essensresten, zerknüllten Papierservietten, schmutzigem Besteck, leeren Flaschen und Gläsern. Die Unbekannte setzt sich zu ihm, an denselben Tisch. Reißt die Schalen von den Orangen. Daniel nimmt milde Hitze wahr, die vom Sonnengeflecht in sein Geschlecht und in die Oberschenkel ausstrahlt. Das rote, drahtig-trockene Haar der Frau wird von einem schwarzen Stirnband streng zurückgehalten. Über der Oberlippe steht beiger Flaum. Ihr Kostüm, aus teurem Stoff gewoben, sitzt ein wenig schief, es ist ihr zu groß, wie von einer schwereren, breiteren Verwandten geerbt. Ihre Stöckelschuhe sind ihr zu eng. Er schätzt die Fremde auf Ende dreißig, sie sei, meint er, ungefähr im gleichen Alter, wie er selbst. Ihr Teint wirkt trocken, die Lippen sind aufgesprungen, als herrschten Eis und Schnee. Weiche, blonde Härchen wachsen auf ihren Wangen, in der Höhe der hervortretenden Backenknochen. Sie verschlingt die Orange, die er ihr gab.
Vor Jahren habe sie schon einmal einen Coup d'État in Caracas miterlebt, sagt die Frau. »Die Aufständischen haben sich im fünften Stock meines damaligen Wohnhauses verschanzt, lieferten den Regierungstruppen Feuergefechte, bis sie nach zwei Tagen überwältigt und an Ort und Stelle durch Kopfschüsse hingerichtet wurden.« Verirrte Kugeln und Schrapnellsplitter schlugen in ihre Wohnung im vierten Stock ein und beschädigten das ihr von den Großeltern väterlicherseits vererbte Chagall-Gemälde Leóncin im Winter, zerschmetterten Kleiderschrank, Anrichte sowie eine zweihundertjährige Standuhr.
Sie pflückt letzte Salatreste von den Metallplatten, kehrt an den Tisch zurück. Sie sei nach dem Ende der Regierungskrise nach Miami übersiedelt, vor einer Woche kehrte sie zum ersten Mal nach Caracas zurück, um ihre Wohnung zu verkaufen. »Seit meiner Auswanderung habe ich immer neue Versuche unternommen, sie zu verkaufen, das ist mir jedoch bisher nicht gelungen«, nicht zuletzt, da sich entfernte Verwandte darin eingenistet hätten, die sich strikt weigerten, sie zu verlassen. Nun überlege sie, einen Prozeß gegen ihre Familienangehörigen anzustrengen, habe bereits Verbindung zu einem Rechtsanwalt aufgenommen. Der Militärputsch aber bringe nun alle Bemühungen für ungewisse Zeit zum Stillstand. Sie ringt nach Luft. »Und Sie? Was machen Sie hier, wer sind Sie, wie heißen Sie?« Ihre nasale Stimme hat etwas weinerlich Klagendes, die Sturzflut ihrer langen Sätze etwas sonderbar Müdes, Gelangweiltes an sich.
Die weißen Teller reflektieren das Licht der Neonröhren. Im Hintergrund Lärm: Eine Schar Hotelgäste beschwert sich, ihre Telephonleitungen seien unterbrochen. Sie wünschen, zum Flughafen chauffiert zu werden. Die Rezeptionsbelegschaft teilt mit, der Flugplatz bleibe bis auf weiteres für den nationalen und internationalen Zivilverkehr geschlossen. Taxis könne man nicht rufen, da naturgemäß auch die Taxichauffeure der Ausgangssperre unterlägen.
»Sie müssen mir gar nichts erzählen«, sagt die Frau. »Ich dachte nur, in der Art, wie Sie die Orangen mit mir teilten, daß ich Sie seit langer Zeit kenne, selbst wenn ich annehmen muß, wir seien einander nie zuvor begegnet und würden einander nie wieder begegnen. Zeit ist nicht Chronologie, wie man gemeinhin denkt. Zeit ist das große Alleszugleich, Gestern-Heute-Morgen-Immer, wenn Sie verstehen, wie ich das meine.«
In der Hotelhalle ebbt der Tumult ab. Die Menschen begeben sich in ihre Zimmer zurück.
»Ich bin zum ersten Mal hier . kam vorgestern an.« Er spricht sehr leise.
»Eine Geschäftsreise?«
»Mein Onkel lebte hier, über fünfzig Jahre lang .«
»Ach so! Sie besuchen Ihren Onkel .!«
»Er ist vor einigen Monaten verstorben .«
»Und vorher . ich meine: bevor er starb . haben Sie ihn nie besucht? Oder waren Sie zerstritten?«
»Er kam zu mir. Beinahe jedes Jahr.«
»Verzeihung, aber . Sie müssen doch neugierig gewesen sein, wo er lebte, wie er lebte .?«
Daniel antwortet nicht.
»Und jetzt? Wieso sind Sie jetzt hier«, fährt sie fort, »jetzt, da er tot ist?«
Er schweigt.
»Ich habe Zeit, viel Zeit, dank den Umständen dieses außergewöhnlichen Tages. Was soll ich tun? Im Zimmer sitzen und grübeln? An meinen Mann denken? Er starb an Herzinfarkt mit einundfünfzig Jahren. Wir waren glücklich miteinander, sehr glücklich sogar, das dürfen Sie mir glauben.«
Sie streckt ein Bein aus, das spitze Knie berührt sein Knie, sie tut so, als sei sie versehentlich dagegen gestoßen. Jetzt sieht sie frech,...
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