Schweitzer Fachinformationen
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Malene sitzt im Zug, auf dem Heimweg von einer Vortragsreise des DZIV durch Jütland. Die Vorträge liefen gut, aber das ist sie gewohnt.
Rasmus ist auf einer seiner üblichen Verkaufsreisen, zu Hause steht die Wohnung leer. Iben ist in Nairobi. Sie ist seit einem Monat fort und erlebt so viel, daß sie viele Tage hintereinander nicht die Zeit hat, Malenes Mails und Telefonanrufe zu beantworten. Malenes Familie kommt aus Jütland nicht heraus, und drei ihrer besten Freundinnen haben im letzten Jahr Kinder bekommen - sie sind aus der Stadt gezogen und vollkommen von ihren neuen Familien in Anspruch genommen.
Malene ist ganz einfach gezwungen, ihren Freundeskreis zu erweitern. Wenn sie auch die nächsten beiden Monate darauf warten soll, daß Iben die Zeit findet zu schreiben oder anzurufen - das wäre nicht auszuhalten.
Auf dem Weg nach Hause steigt Malene in Odense aus dem Zug, dort hat sie mit einer Internet-Freundin einen Besuch verabredet, bevor sie nach Kopenhagen weiterfährt.
Charlotte und Malene haben sich nie getroffen, aber sie haben miteinander telefoniert und sich sehr viel gemailt - besonders während der Arbeit, wenn nicht soviel los war und sie mal abschalten mußten.
Charlotte hat einen enormen Kampfgeist, Malene hat ihre Telefonnummer und Mail-Adresse in der Zeitschrift gelesen, die von der VRJM - der »Vereinigung rheumakranker junger Menschen« - herausgegeben wird. Charlotte ist dort ehrenamtliche Kontaktperson für Jugendliche, die andere junge Leute mit Rheumatismus treffen wollen. Sie haben häufiger darüber gesprochen, daß Malene mal vorbeikommt, wenn sie die Gelegenheit dazu hat.
Malene steigt vor einem kleinen Reihenhaus aus gelbem Backstein aus dem Taxi. Sie geht zur Tür und klingelt. Unter dem schmalen Halbdach steht eine gepflegte Pflanze in einem alten blau emaillierten Topf. Im Fenster hängt ein kleiner Strohkranz an einem Silberband; so etwas würde man in Kopenhagen nicht finden, und schon gar nicht bei einer Frau unter dreißig.
Charlotte hat helle Haut und volles, blondgelocktes Haar. In ihrer pastellblauen Bluse sieht sie aus wie ein Mädchen aus der Werbebroschüre eines Goldschmieds. Malene hat keine Freundinnen, die so aussehen. Sie umarmen sich und lachen. Charlotte sagt:
»Du siehst aber schick aus, wie aus Kopenhagen.« Sie krümmt sich ein wenig und lacht wieder.
Es ist merkwürdig, jemanden zum ersten Mal zu sehen, mit dem man sich so lange geschrieben hat. Charlotte lächelt, sie hat einen blaßrosa Lippenstift aufgetragen. Sie bestätigen sich noch einmal, wie froh sie über ihre Mails sind.
»Wir werden es uns schon gemütlich machen«, sagt Charlotte.
Malene wird in den Flur gezogen und legt den Mantel ab, bevor sie in das ungewöhnlich warme Wohnzimmer treten. Charlotte geht mit langsam zögernden Schritten voraus:
»Setz dich ruhig hin, ich habe den Kaffee schon aufgebrüht.«
Malene setzt sich in einen cremefarbenen Sessel, der zu dem Sofa unter einem großen, schwarzweißen Fotoplakat in einem Glasrahmen paßt.
Auch wenn sie nicht telefoniert oder Mails schreibt, sprudelt Charlotte vor energischem Optimismus. Selbst wenn man versucht, den Singsang ihres Fünen-Dialekts zu vergessen, hat sie etwas besonders Entgegenkommendes. Auf der Glasplatte des Sofatisches steht eine Thermoskanne mit Kaffee, daneben eine Schale mit Keksen.
Nur mit Mühe kann Charlotte von der Wohnungstür bis zum Sofa gehen.
Malene sagt: »Schade, daß heute einer deiner schlechten Tage ist.«
»Nein, nein, das ist gar nichts. Du machst dir zu viele Sorgen um mich. Das brauchst du nicht. Jetzt lassen wir es uns gutgehen.«
Charlotte lächelt mit ihrem kleinen, hübsch geformten Mund und ihren vollkommen regelmäßigen Zähnen.
»Aber .«
Etwas läßt Malene innehalten.
Sie sieht sich in dem überheizten Wohnzimmer um: Alle Möbel stehen ein bißchen weiter auseinander, als man sie normalerweise stellen würde. Sie nippt an ihrem Kaffee. Und der Abstand ist immer ungefähr gleich, egal ob zwischen Stuhl und Tisch, zwischen zwei Stühlen oder zwischen Stuhl und Wand. Das Wohnzimmer ist ganz einfach für eine Person eingerichtet, die häufig im Rollstuhl sitzt, auch zu Hause. Malene sieht keinen Rollstuhl, möglicherweise ist er im Schlafzimmer.
Und dann entdeckt sie, daß an den Lichtschaltern Schnüre hängen. So etwas hat sie in Läden mit Hilfsmitteln für Behinderte gesehen: Für manche Schwerbehinderte wird es dadurch leichter, das Licht ein- und auszuschalten. Und liegen da nicht relativ viele Kissen auf dem Sofa? Nicht auffällig viele, aber doch so verschiedene, daß es mit den sehr gedämpften Farben und dem einfachen Stil hier drinnen nicht übereinstimmt. Es sind genügend Kissen, damit Charlotte sie stapeln und in einer bequemen Stellung liegen kann.
Sie reden über den Unterschied zwischen den öffentlichen Transportmitteln auf dem Land und Kopenhagen. Über den ökonomischen Sinn der staatlichen Unterstützung von Minibussen.
Doch Malene versteht es nicht. Wie ist Charlotte in der Lage, ihrer Arbeit auf dem Rathaus von Odense nachzugehen, wenn es ihr so viel schlechter geht als Malene selbst? Und wieso konnte Malene aufgrund der Mails glauben, daß es ungefähr gleich um sie steht?
Sie fragt diskret nach dem Job. Ein paarmal, anders als zuvor in ihren Mails. Es stellt sich heraus, daß es sich um eine Schwerbehindertenstelle handelt, zwanzig Stunden in der Woche, speziell für Charlotte eingerichtet.
Während Charlotte das erklärt, fällt Malene ein, daß sie es schon einmal gehört hat. Charlotte muß es in einem ihrer ersten Telefonate erwähnt haben. Malene hat es einfach wieder vergessen, weil es nicht zu all den fröhlichen Erlebnissen paßte, von denen Charlotte seither berichtet hat.
Sie sprechen über eine Dokumentationsserie des dänischen Fernsehens und über die einfachste Methode, mit schmerzenden Händen Mandeln zu hacken. Über die Notwendigkeit von Gummistiefeln für Menschen, die viel draußen sind und unter Rheumatismus in den Füßen leiden.
Und es ist furchtbar peinlich. Malene muß sich selbst fragen, wie sie so wenig von der jungen Frau wissen konnte, mit der sie so viel gemein zu haben glaubte. Am Telefon hat sie offenbar selbst zu viel geredet und nicht genügend gefragt, nicht genügend zugehört. Ihre einzige Entschuldigung für ihren Besuch ist, daß Charlotte die Kontaktperson des VRJM ist - jemand, den man etwas fragen und dem man erzählen kann. Nicht jemand, der selbst die Hauptper-son ist.
Als Charlotte erzählt, daß sie sich bei ihrer Arbeit freinehmen könne, ohne daß irgendwer Fragen stellt, kichert sie, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt. Heute ist so ein Tag.
Und Malene registriert unterdessen die vielen Kleinigkeiten in dem warmen Wohnzimmer. Es sieht aus wie das gemeinsame Heim eines jungen Mädchens und ihrer Großmutter. Wollene Gelenkwärmer liegen neben Pop-CDs. Ein Poster des Schauspielers Mads Mikkelsen hängt hinter einem großen Sessel mit Fußschemel.
Charlotte ist ein paar Jahre jünger als Malene. Aber sie leidet bereits seit acht Jahren an Gelenkrheumatismus, Malene erst seit sechs.
Charlotte redet begeistert weiter, sie erzählt von Feten und über interessante Seminare der VRJM. Darüber, wie lustig es gewesen ist. Wochenendveranstaltungen, bei denen sie offenbar bis tief in die hellen Sommernächte mit ihren von Rheuma geplagten Körpern in irgendwelchen Hotelgärten herumgetobt sind.
Sie fragt nach Rasmus, und Malene weiß nicht, wieviel sie erzählen soll.
Charlotte wird zurückhaltender und spricht in einem Tonfall, der verrät, daß sie daran denkt, selbst keinen Freund zu haben.
Auch am Telefon haben sie darüber gesprochen, und Malene hat immer gedacht, daß Charlotte schon bald jemanden finden werde. Selbstverständlich. Ernster hat sie es nicht genommen. Aber nun sitzt Charlotte hier, und sie ist weitaus schwerer erkrankt, als Malene es geglaubt hat. Nun ist es nicht mehr so selbstverständlich. Möglicherweise wird Charlotte nie jemanden finden.
Malene sagt irgend etwas Banales, daß es für jeden einen gibt.
Charlotte richtet sich mit einer munteren Bewegung in ihrem Sofa auf und antwortet: »Ich weiß, das stimmt, aber die Zeit, bis ich ihn finde, will ich auch nicht verschwenden.«
Sie taucht ihren Keks in den Kaffee:
»Auch bis dahin soll das Leben schön sein.«
Malene schießt es durch den Kopf: Wie machen sie es, die wirklich Behinderten? Wie schaffen sie es, ohne sich umzubringen? Sie kriegt doch nie einen Mann! Und sie weiß es. Und sie kommt niemals aus diesem Reihenhaus-Ghetto heraus. So glücklich könnte ich nie über so wenig sein! Ich nicht!
Charlotte ist schon so, wie Malene sie vom Telefon und aus den Mails kennt. Aber hier, zwischen den Kissen und Rheumamitteln, wirkt alles anders.
Und die Situation zu Hause mit Rasmus wird immer schlimmer. Wie heißt es bei Seinfeld: Eine Beziehung ist wie ein Cola-Automat. Man kann ihn nicht mit einem Schlag umwerfen. Man muß ihn ein paarmal hin- und herschaukeln, bevor er umfällt. Und Malene spürt, wie Rasmus schaukelt.
Sie denkt: Bald ist es soweit, dann werde ich mit einem strahlenden Lächeln sagen: »Rasmus und ich sind nicht mehr zusammen . Aber man kann doch auch als Single eine Menge Spaß haben.«
Malene entschuldigt sich leise und geht beherrscht auf die Toilette, geräuschlos weint...
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