Schweitzer Fachinformationen
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Mit sechzehn war ich das erste Mal auf der Frankfurter Buchmesse. Ich lief von Verlagsstand zu Verlagsstand, erzählte von meinem Roman und drückte jedem, der nicht sofort ablehnte, mein Manuskript in die Hand.
Ich hatte mein ganzes Erspartes in die Anfertigung der Kopien, die Spiralbindung und die Pappbuchrücken gesteckt und mit Bleistift selber das Cover gezeichnet: Eine Theaterbühne, Scheinwerfer, eine Frau, die zusammengekauert im Lichtkegel saß und das Gesicht vom Publikum abwandte. Die Buchstaben des Titels zerliefen wie Wachs oder Tränen und tropften auf den Bühnenrand. »Und sie ging auf einer einsamen Straße« hieß der Roman.
»Vielleicht ist der Titel ein bisschen zu lang«, sagte Michael Breitling, der in Wiesbaden, wo ich wohnte, Buchhändler war und mich auf die Messe mitgenommen hatte. Er war auch der Vater meines damaligen Freundes und wollte, dass ich ihn Michi nannte. Aber meine Eltern hatten mir das Siezen so eingebläut, dass mir >Michi< einfach nicht über die Lippen kam. Wir fuhren über die A66 nach Frankfurt.
Ich starrte zum Fenster hinaus.
Eine große Tankstelle, abgeerntete Felder, IKEA, die bunten Hochhäuser direkt an der Autobahn, wie eine Lärmschutzmauer mit Fenstern, ein Autobahnkreuz, die Skyline.
»Kannst du den Messeturm sehen?«, fragte Herr Breitling, also Michi. »Weißt du, wie hoch er ist?«
»Er sieht wie ein Stift aus«, erwiderte ich.
»250 Meter. Das höchste Gebäude Europas.«
»Der größte Rotstift der Welt«, sagte ich, und Herr Breitling lachte.
Er stellte sein Auto auf einen großen unbefestigten Parkplatz, dann fuhren wir mit einem Shuttlebus zu den Messehallen. Ich trug die Manuskripte meines Romans in einer Reisetasche über der Schulter. Sie war schwer und sperrig und blieb im Drehkreuz am Eingang hängen. Herr Breitling half mir, sie drüberzuheben. »Belletristik«, sagte er und deutete einen langen Gang hinunter, »ist in die Richtung.« Einen Moment lang sah es aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber dann nickte er nur. Ich nickte zurück, schulterte meine Tasche und machte mich auf den Weg.
Auf der Rückfahrt hielt ich die leere Tasche fest an die Brust gedrückt. Meine Wangen glühten. Mein Herz schlug schnell. Ich hatte das Gefühl, dass ein Stück von mir in Frankfurt geblieben war. Unter dem größten Rotstift der Welt. Ich war angespannt und hätte doch weinen können vor Glück.
Wir ließen die Skyline hinter uns.
Der Himmel über Frankfurt war lilafarben gewesen, jetzt ging er in ein dunkles Blau über, in das die schwarzen Schatten des Taunusgebirges ragten. Wir fuhren durch eine Schneise zwischen den Bergen auf das in der Talmulde funkelnde Wiesbaden zu. Ein silbrig durchwebtes Tuch. Einzelne schwach glänzende Fäden wanden sich die Bergkämme hinauf. Es ist nur ein Mittelgebirge und nicht besonders hoch, aber an diesem Abend kam es mir mächtig, ja, beinahe majestätisch vor. Auf einem Bergkamm im Süden blinkte ein grelles Signallicht für Flugzeuge, die Wiesbaden im Steigflug vom Frankfurter Flughafen aus überflogen.
Ich schob meine leere Tasche zwischen die Füße und lehnte den Kopf zurück. Durch das Schiebedach konnte ich hoch in den Himmel schauen. Wir waren das Letzte, was die Passagiere sahen, bevor das Flugzeug die Wolken durchbrach. Hier hatten wir Tag für Tag die Stimmen der Piloten im Ohr: Rechterhand liegt jetzt Wiesbaden, die Landeshauptstadt von Hessen. Hier sahen wir uns auf dem Bildschirm mit der Flugroute aufleuchten, die erste Etappe auf dem Weg nach London, Rom, Singapur oder New York.
Herr Breitling brachte mich nach Hause und wartete mit laufendem Motor im Auto, bis ich die Tür aufgeschlossen hatte und hineingegangen war.
Manche Verlage antworteten mir schon wenige Tage nach der Buchmesse, andere ließen sich dafür Monate Zeit. Unter meinem Bett stand ein schwarzer Lackkarton mit einem silbern eingefassten Etikett, auf das ich »Verlagskorrespondenz« geschrieben hatte. Den meisten Platz darin nahmen die Kopien meines Romans ein, die mir die Verlage zurückschickten. Wenn ich den Deckel vom Karton hob, sah ich die Frau im Scheinwerferlicht auf der Bühne, das Gesicht vom Publikum abgewandt.
Nachts schlich ich ins Arbeitszimmer meines Vaters und schrieb an dem großen schwarzen Computer, der der Kirchengemeinde gehörte. Tagsüber gab er dort die Daten ihrer Mitglieder ein. Zu beiden Seiten des Schreibtischs stapelten sich die abgegriffenen Pappregister. Sie verströmten einen muffigen Geruch. Bis zur Anschaffung des Computers hatte das Verzeichnis aus Tausenden alter Karteikarten bestanden, die zum Teil noch in Sütterlin beschrieben waren. Andere waren mit Schreibmaschine getippt und immer wieder mit Tipp-Ex korrigiert worden. Es gab Unmengen von Karteileichen, Leute, die schon lange gestorben, deren Karten aber nicht aussortiert worden waren. Ihre Daten wurden nicht in den Computer übernommen, sondern sie wanderten in einen speziellen Papierkorb, der, wenn er voll war, in einen Schredder geleert wurde. Hin und wieder zog ich eine Karte heraus, las den Namen und schrieb ein Gedicht für jemanden, den ich nicht kannte. Erna Beilfuß, Eitel Friedrich, Hannah Hungerlein oder Diana Maria Sturm, mein Vater wunderte sich, wenn ich die Namen vor mich hersagte. Einmal fand meine Mutter eines der Gedichte. Es war auf Endlospapier ausgedruckt, den gelochten Rand hatte ich sorgfältig abgetrennt. Drei Seiten lang Sehnsucht, Flucht, Wiedersehen und Fortgehen. Knappe Zeilen, die am linken Papierrand begannen, auf die Mitte zuschossen und kurz vorher wie abgehackt endeten. Sie waren einem Gemeindemitglied gewidmet, dessen Karte bald in den Schredder wandern würde. Ich weiß bis heute, dass der Mann mit Nachnamen Kummer hieß.
»Was hältst du davon?«, wollte Mutter abends von Vater wissen. Sie waren im Wohnzimmer. Ich stand auf dem Treppenabsatz und lauschte.
»Sie kannte diesen Herrn Kummer doch überhaupt nicht.«
Mein Vater antwortete so schnell, dass er unmöglich das ganze Gedicht gelesen haben konnte: »Das ist so in ihrem Alter. Da bringt man, was man nicht versteht, in einfachen Reimen zusammen. Sie halten die Welt, die sonst vielleicht auseinanderfällt.« Er lachte, wahrscheinlich über seinen Reim.
»Wo fällt in ihrem Leben denn etwas auseinander? Kannst du mir das - bitte - einmal verraten?«, sagte Mutter verärgert.
Wenn sie mich nachts am Computer erwischte, schickte sie mich ins Bett. »Mir wäre lieber, wenn du dir ein Hobby suchen würdest, dem du tagsüber nachgehen kannst und das dich unter Leute bringt«, sagte sie.
Auch Vater gefiel nicht, dass ich schrieb, >dichtete<, wie er sagte. Er kenne den Reiz und den Irrglauben, sich gleichzeitig aus der Welt und in sie hineinschreiben zu wollen. Auch er hatte sich als Dichter versucht, bevor er sich aufs Predigen verlegt hatte, und glaubte, dass man damit nur scheitern konnte. Von der Kraft, die für mich von dem Computer ausging, wollte er nichts hören; von dem schwarzen Keyboard, den würfelförmigen Tasten, dem leisen Klackern und den Sätzen, die auf ein gleichmäßiges, sanftes Auf und Ab meiner Finger hin auf dem Bildschirm erschienen.
Der einzige Mensch, mit dem ich darüber sprechen konnte, war Benedict, mein Großvater väterlicherseits. Nach der Buchmesse rief er mich alle paar Tage an und fragte, ob ich schon etwas von den Verlagen gehört hätte. Meine Großeltern lebten in Sierksdorf an der Ostsee. An der Promenade betrieben sie ein kleines Geschäft, das »Strandstern« hieß. Früher hatten sie in allen Badeorten an der Lübecker Bucht »Strandsterne« gehabt, aber nachdem mein Vater kein Interesse daran gehabt hatte, sie zu übernehmen, hatten sie eines nach dem anderen aufgegeben. Der Sierksdorfer »Strandstern« war ihr erster Laden gewesen, jetzt war es der einzige, der noch geblieben war, ihr letztes Gefecht, wie mein Großvater sagte, das Ende eines erfolgreichen Familienunternehmens. Auch er hatte eigentlich Schriftsteller werden wollen.
»Aber die Zeiten waren damals nicht so«, sagte er am Telefon zu mir. »Nach dem Krieg musste man die Chance beim Schopf packen und etwas Vernünftiges machen.« Er begann zu lachen: »Man könnte auch sagen: Als es drauf ankam, hat für mich nur das Geld gezählt.« Sein Lachen ging in einen gurgelnden Husten über, als wären seine Lungen mit Wasser gefüllt. »Du machst das anders, mein Kind«, sagte er. »Du erbst einmal und kannst es dir leisten zu schreiben. Dann wirst du am Ende deines Lebens etwas haben, das dir niemand nehmen kann und das dich überlebt.«
In seinem Arbeitszimmer stapelten sich kistenweise vergilbte Zeitungen aus den fünfziger und sechziger Jahren, in denen seine Kurzgeschichten abgedruckt worden waren. Jetzt fieberte er mit mir, ließ seinem Zorn freien Lauf, verfluchte die arroganten Lektoren, lobte meinen Mut und hielt mich an, immer weiterzuschreiben: »Bleib dabei, lass dich nicht davon abbringen. Wenn du aufgibst, bereust du es für den Rest deines Lebens.«
Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich eine Entscheidung, die ich jetzt traf, für den Rest meines Lebens bereuen könnte. Aber mir gefielen das Pathos und die Leidenschaft, mit der mein Großvater über das Schreiben sprach. Da brannte ein Feuer in ihm, das auch ich in mir spürte und das außer uns niemand zu teilen schien.
»Ich hatte immer das Gefühl, erzählen zu müssen«, sagte er. »Da war so viel in meinem Kopf. Dieses Leben, das einem alles nur nimmt und nie etwas bietet, schon gar keinen Ausweg, keinen Aufstieg, nur Arbeit in der Fabrik vom zwölften Lebensjahr...
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