Die Anreise - Saint-Jean-Pied-de-Port
(oder: auf zur feuchtfröhlichen Klassenfahrt)
16. Juli 2015 ( 240 km, mit Zug&Bus )
Das war eine Nacht, schön und verrückt zugleich. Nachdem ich abends nach meiner Flucht aus dem McDonald's endlich im Hotelzimmer angekommen war, konnte ich mich nur noch aufs Bett schmeißen, so fertig war ich. Aber gleichzeitig auch glücklich, denn das Hotelzimmer war ein absoluter Glücksgriff! Ein wunderschönes, riesiges Zimmer, nur für mich alleine, und die Dusche ein Palast! Das ganze Zimmer war mit Holz verkleidet, weil das Hotel so ein »Nature-Concept« hatte. Gefiel mir gut, dieses Nature-Concept. Hätte nur noch gefehlt, dass Vögel im Hintergrund zwitschern und das Meer plätschert, wenn man auf die Toilette geht. Mit letzter Kraft schleppte ich mich unter die Dusche und spülte alle Anstrengungen der Reise weg. Halb humpelnd und wankend schleppte ich mich dann wieder zum Bett und wusste: Jetzt darf ich endlich schlafen! Mein Geist sah das aber anders. Körperlich am Ende, war er nun hellwach. Was war denn jetzt wieder los? Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass es so stickig war im Zimmer.
Ich versuchte das Fenster aufzukriegen, was leider nicht klappte, denn es gab eine Sicherung. Zu gerne hätte ich mit offenem Fenster geschlafen, aber irgendwie war das nicht möglich in diesem Hotel. Wie im ICE konnte man hier die Temperatur nur über die Klimaanlage regeln, aber nicht mit der guten alten Frischluft. Und dann geisterten mir die typischen »ich-kann-nicht-schlafen-also-denke-ich-mir-irgendwelche-sinnlosen-Fragen-aus«-Gedanken durch den Kopf. Hatte ich den Wecker gestellt? Wo war mein Stirnband, das ich immer als Schlafmaske benutzte (obwohl es dank der dunklen Gardinen stockfinster war)? Würde ich morgen noch einen Zug nach Saint-Jean-Pied-de-Port bekommen? Und wann würden denn jetzt endlich diese sinnlosen Gedanken aufhören und ich einschlafen?
Irgendwann muss ich in diesem Drunter und Drüber doch noch eingeschlafen sein, denn mein Wecker zeigt am nächsten Morgen 11 Uhr an. Herrlich!
Ich checke tiefenentspannt um 12 Uhr aus, parke mein Gepäck im luggage room und schlendere zur Bahn, um mir ein Zugticket zu kaufen. Dort erfahre ich dann, dass die nächste Verbindung nach Saint-Jean-Pied-de-Port heute um 15.00 Uhr fährt und so vertreibe ich mir in einem Café gegenüber meine Zeit. Grinsend und voller Genuss beobachte ich dort das bunte Treiben und bestelle mir einen Cappuccino nach dem anderen.
Um 14.30 Uhr schlendere ich gemütlich zum Bahnhof hinüber und merke sofort, dass ich im Süden bin, denn es läuft hier bahntechnisch alles anders als in Good Old Germany. Zunächst einmal weiß hier bis kurz vor dem Eintreffen des Zuges niemand, auf welchem Gleis er denn wohl landen wird. Alleine das herauszubekommen, hat mich schon meinen gesamten französischen Wortschatz gekostet. Auf winzig kleinen Monitoren, etwa in der Größe der allerersten Fernseher, wird das Gleis dann irgendwann angezeigt - wann das ist, weiß keiner, nicht einmal das Bahnpersonal. Bei meiner Zugverbindung blinkt das Wort retard auf. Verspätung, na toll! Frei nach meinen alten Großstadt-Stress-Mustern kommt diese Information nicht gerade positiv bei mir an. Es ist mein erster offizieller Urlaubstag, ich habe frei und keinerlei Zeitdruck. Sollte es mir da nicht einfach egal sein? Aber ich bin doch ein bisschen aufgeregt und unsicher, hier in diesem fremden Land mit den anderen Bahnregeln und mache mir fast in die Hose wegen des LETZTEN Anschlusses in Bayonne nach Saint-Jean-Pied-de-Port für den heutigen Tag.
Aufgeregt laufe ich deswegen zur Information und frage, wie ich meinen Anschluss kriegen soll. Die Mitarbeiterin zuckt nur mit den Schultern. Irgendwie werde das schon klappen, lautet ihr Kommentar dazu. Tief einatmen, tief ausatmen! Und da regt sich auch schon wieder meine immerwährende Optimisten-Stimme, die mir zusätzlich versichert, dass das alles schon irgendwie funktionieren wird. Und während ich in meiner kurzen Steh-Meditation wieder zu meiner Tiefenentspannung zurückfinde, verschwindet das Wörtchen retard vom Bildschirm und die Traube von Menschen, die sich um das Jahrhundert-Überbleibsel geschart hat, kommt in Bewegung. Ich renne einfach mit - weiß allerdings gar nicht so genau, wohin eigentlich. Von einem Schaffner erfahre ich dann im Vorbeilaufen das richtige Gleis. Ich muss die Treppe runter und zwei Gleise weiter hinten wieder hoch. Mit bereits hochrotem Gesicht renne ich um mein Leben - so gut das eben geht mit Rucksack und meinem zusätzlichen Übergepäck. (Eine Sache, die ich total feiern werde, wenn ich ein paar Kilos abwerfe: Den Bussen und Bahnen hinterherlaufen, ohne danach ein Hechel-Konzert geben zu müssen.) Aber ich erreiche den Zug, denn ich bin ja sporty - im Geiste zumindest schon total! Puh, was für eine Aufregung!
Wie durch Zauberhand erreichen wir dann trotz der vierzig Minuten Verspätung sogar noch den Anschlusszug in Bayonne - eine kleine Bimmelbahn, die wie eine Miniatur-Version der Vorherigen aussieht. Was ich da erlebe, lässt mich noch heute schmunzeln.
Eine offensichtliche Pilgerin steht völlig aufgelöst vor der Tür des Zuges und fragt, ob sie in dem Zug noch ein Ticket lösen kann. Sie hat nämlich keins und muss unbedingt diesen Zug erwischen. Der Zugschaffner wedelt aufgeregt mit der Hand und gibt ihr damit zu verstehen, dass sie schnell einsteigen soll, weil er nicht noch mehr Verspätung haben will. Erleichtert steigt die Frau ein und wartet anfangs noch darauf, dass der Schaffner zu ihr kommt, damit sie das Ticket lösen kann. Er klettert zwar an jeder Station an ihr vorbei - und es gibt sehr viele Stationen - aber kassiert sie nicht ab. Es scheint ihm total egal zu sein, dass die Frau dort ohne Ticket sitzt. Hauptsache, sein Zug hat keine Verspätung. In Deutschland habe ich so etwas noch nie erlebt. Und so fahre auch ich mit meinem 43?-Ticket bis zur letzten Station, ohne kontrolliert zu werden und beneide die Frau ein wenig um ihr »Schnäppchen«.
In Cambo-les-Bains müssen alle Leute aus dem Mini-Zug aussteigen und warten nun für das finale Saint-Jean-Pied-de-Port an einer Bushaltestelle. Jetzt wird heimlich gegafft und abgecheckt, mit wem man es zukünftig zu tun haben wird. Anhand der Kleidung und dem Equipment ist jetzt nämlich unumgänglich klar, dass hier nun wirklich nur noch Pilger stehen.
Oh, là, là, na das kann ja was werden, denke ich, denn ich staune auch, wer und was hier so alles dabei ist. Zum Beispiel eine Vierer-Truppe, die sich lautstark und bereits mit deutlicher Rotwein-Fahne darüber unterhält, ja fast schon prahlt, was sie alles schon bewandert hat. Sowieso hat diese letzte Busfahrt ein wenig etwas von einer aufgeregten, teilweise sogar schon angesäuselten Klassenfahrt auf ihrer ersten Tour weit weg von Mama und Papa - nur dass es sich hierbei eigentlich um Erwachsene handelt - Unbelieveable!
Bloß raus aus diesem Bus und auf zu meinem eigenen Trip!
Am Ziel angekommen, spuckt der Bus alle Pilger auf die Straße und gemeinsam begeben sie sich im Entenmarsch und wild schnatternd zum Ortskern. Ich bin kurz unsicher, weil ich den Weg eigentlich gar nicht kenne und überlege, ob ich die Busfahrerin fragen soll. Nicht, dass die ganzen Pilger ein völlig anderes Ziel haben. Ich traue mich aber nicht, weil sie die ganze Zeit schon einen sehr spöttischen und belustigten Ton angeschlagen hat. Wer weiß, wie viele durchgeknallte Pilger die pro Tag fahren muss? Die Arme! Ein Klassenfahrt-Transport pro Tag würde mir auch reichen.
Also reihe ich mich einfach als Letzte in die Entenmarsch-Schlange ein und ergebe mich meinem Schicksal. Liebe Pilger da vorne, ich folge euch nun überall hin und hoffe, dass ihr das richtige Ziel habt, gebe ich noch kurz ein Stoßgebet ab. Aber tatsächlich, die Enten-Mami (oder war es ein Papi?) hat ihren Dienst gut gemacht, denn ich werde vor das Pilgerinformationszentrum gespült. Hier fällt mir auch wieder ein, dass ich genau hierher wollte, um mir meinen Pilgerausweis zu besorgen. »Danke Mama«, quake ich. Da das zögernde Entlein allerdings auch das Letzte ist, muss es sich jetzt ganz hinten in der endlosen Schlange anstellen. Nun heißt es erneut, die Nerven zu bewahren, denn wieder gibt es um mich herum lautstarke Gespräche über wilde Pilger-Geschichten. Der Stolz vieler Erzähllustiger darüber, dass sie den Jakobsweg schon einmal gelaufen sind, ist unüberhörbar und man kann ihm kaum ausweichen. Und er dringt an die gespitzten Ohren der mindestens genauso zahlreichen, ängstlichen Neulinge. Zu keiner von beiden Gruppen möchte ich wirklich gehören (zu Ersterer kann ich ja auch gar nicht gehören, aber ich glaube, ich wäre auch trotzdem nicht so prahlerisch) und so aktiviere ich scheinbar automatisch meine Scheuklappen. Ich möchte versuchen zu ignorieren, was um mich herum los ist. Wie oft ich diese Scheuklappen den ganzen Weg entlang immer wieder aktivieren werde, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Aber ich werde es noch merken. Tatsächlich kann...