Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Im Alter von zweiunddreißig Jahren fing ich an, über die Liebe nachzudenken.
Mein Name ist Vivian. Ich wurde in China geboren. Die letzten zehn Jahre habe ich in Deutschland verbracht. Der Grund, warum ich kein Geheimnis aus meinem Alter mache, ist einfach. Ich bin eine eitle Frau und genieße die bewundernden Blicke meines Gegenübers - egal ob Mann oder Frau - und diese Ausrufe: »Aber das kann doch nicht sein, du siehst noch so jung aus!« Ich erinnere mich an einen jungen Mann, mit dem ich mich eine halbe Stunde meines Lebens im Bett gewälzt habe. Er dachte, ich sei erst zweiundzwanzig Jahre alt.
Das war für mich dann auch der schönste Moment dieser halben Stunde. Was kann man von einem jungen, unerfahrenen Mann sonst erwarten?
Im Zentrum des chinesischen Schriftzeichens für Liebe ist ein Herz, was bedeuten würde, die Liebe sei eine »Herzensangelegenheit«. Doch wie sollte es so etwas auf der Welt geben? Wie sollte ein fremder Mann, den ich zweiunddreißig Jahre lang nicht kannte, zu einer Herzensangelegenheit von mir werden können? Welche Voraussetzungen müssten erfüllt sein, um so jemanden im Herzen einzuschließen?
Ich dachte, die Liebe ist eine Illusion, nur Sex ist echt.
Ich mag Deutschland, und das nicht nur, weil ich mich hier immer viel jünger geben kann. Es ist ein sauberes, zivilisiertes Land mit einem leicht verwöhnten, rührenden Volk, das sich stark mit sich selbst beschäftigt und dennoch bemüht, die Probleme in dem Rest der Welt zu lösen. Die Armut wird durch die Presse auf Abstand gehalten, sorgt für reichlich Gesprächsstoff und ein schlechtes Gewissen. Ich zähle die Arbeitslosigkeit und die Schönheitsreparaturen beim Auszug aus einer Mietwohnung zu den größten Volkssorgen. Selbst siebzehnjährige Schüler interessieren sich bereits ernsthaft für die Rentenfrage.
In der Freizeit treiben die Deutschen im Fitnesscenter Sport, treten pflichtbewusst auf derselben Stelle der Laufmaschine, trinken dabei gefiltertes Mineralwasser, während die Sonne auf der Glaswand glitzert. Auf eine Reise nehmen sie Medikamente gegen Kopfschmerzen oder Jetlag-Beschwerden mit.
Was für ein Mensch wäre ich geworden, hätte ich in diesem Land den ersten Sonnenstrahl meines Lebens erblickt?
Der Himmel hier ist fast immer hellblau, überzogen mit sehr fein geformten, weißen Wolken - wie oft habe ich versucht, diese faszinierenden Bilder mit meiner kleinen Minolta festzuhalten. Das klare, unschuldige Sonnenlicht überstrahlt allen Kummer und alle Sorgen, sticht in meine Augen, in das Herz, wie ein zärtlicher Dolch. Sehr bald kommen mir die Tränen, ich sehe alles nur noch verschwommen, mir wird schwindlig. Die Sonne ist ein Tyrann, der keine zu lange, direkte Betrachtung erlaubt, ich füge mich und schließe die Augen. Wärme steigt in mir hoch, die bunten Flecken tanzen wie frisch geschlüpfte Schmetterlinge in der stillen Dunkelheit unter den Augenlidern. Blind sehe ich ihnen zu, sie tun weh. Schöne Dinge können oft verletzen.
Die Spuren der Sonne auf meiner Netzhaut; die Spuren der erfüllten, leeren Momente.
Mir kommt es manchmal vor, als würde das Licht, als würde die Luft duften. Sie sind eins. Ich kann sie nicht auseinanderhalten. Rein, durchsichtig und gewichtslos, umhüllt, trägt sie, lässt einen frei atmen.
Ich bewege mich hindurch mit leichten Schritten. Als wäre es das Selbstverständlichste, sie jederzeit wie einen schmiegsamen, weißen Schleier von mir abzuschütteln.
Ich sage mir sehr oft, so müsste sich die Freiheit anfühlen. Die Freiheit, für die immer noch unzählige Menschen ihr einmaliges Leben hingeben, in vielen Teilen der Erde, mein Heimatland zählt dazu.
In meiner Heimat Shanghai, der chinesischen Metropole an der pazifischen Küste, ist die Luft dagegen klebrig, sie hat ein Gewicht, sie macht sich bemerkbar. Im Sommer fühle ich, wie sie an meiner Haut hängt, weil ich aus allen Poren schwitze; im Winter dagegen dringt die beißende Nässe und Kälte tief unter die Haut.
Ich schleppe die Luft wie ein lästiges Gepäckstück, es gibt keinen Abstellplatz dafür.
Dazu ist sie grau, weil der Himmel immer grau ist, die Wolken formlos, farblos. Ich könnte meinen, sie hängen schwerer, tiefer als in Deutschland.
Der Himmel bei uns ist auch nicht ganz, er wird von Wolkenkratzern in Stücke geteilt, quer und durch, in alle Formen und Größen.
Um ihn genau zu beobachten, muss ich weit von der Stadt wegfahren, in einen der Vororte, wo es große Reisfelder gibt.
Er wirkt auf mich wie ein trauriges, entstelltes Gesicht. Er schweigt, denn auf ihn wird sowieso nicht gehört.
Wir haben sehr viele Industrien, wir produzieren für die ganze Welt; wir sind stolz auf die erzielten Fortschritte und die hohen Wachstumsraten, wir möchten von den anderen Ländern ernst genommen, respektiert werden. So haben wir auch unseren blauen Himmel verloren - hoffentlich nicht für immer.
Also fällt es mir nicht schwer, in Deutschland zu bleiben, das Land liebzuhaben.
Natürlich auch wegen der Männer hier.
Die meisten - wenn nicht alle - Asiatinnen stehen auf die großen, blonden oder braunhaarigen Männer. Gegensätze ziehen sich an. Ich bin keine Ausnahme. Ich hatte genug von den kleinen, braunäugigen Männern in meiner Heimat. Es wurde auch geflüstert oder indirekt darauf hingewiesen, dass ein bestimmter Körperteil der westlichen Männer länger und dicker sei, auch dass die westlichen Männer erfahrener in der Liebeskunst seien.
Zu Hause konnte ich diese Männer nur auf der Leinwand oder im Fernsehen bewundern, wie sie die Welt retten und Frauen erobern, entweder in adretten Anzügen oder in sportlichen Kampfausstattungen, das Kinn ist stets glatt rasiert, die durchtrainierten Körper strahlen Männlichkeit aus; sie erledigen alle Aufgaben wie geborene Multi-Tasker. Die blauen Augen sprechen von überwältigender Leidenschaft, wenn es darum geht, die verehrten schönen Frauen ins Bett zu schleusen. Obwohl ich dabei immer lachen muss, finde ich es sehr erotisch und möchte gern eine dieser Frauen sein, die ihnen in die starken Arme fallen.
Diese Männer brauchen nur an sich selbst zu denken. Ihre Frauen haben bestimmt keinen Ärger mit der Schwiegermutter, der Schwägerin etc. Ihre Schultern tragen keine Last. Sie lernen sich kennen, verlieben sich, schlafen miteinander, wenn es ihnen nicht mehr gefällt, trennen sie sich ohne schlechtes Gewissen. Egoismus ist legitim, wir leben alle nur einmal.
Ich glaube, James Bond hat den ästhetischen Geschmack asiatischer Frauen in Bezug auf Männer zutiefst geprägt. Die Regisseure hätten vorher nie im Traum daran gedacht. Jetzt vielleicht. Ihr Protagonist hat eine nachhaltige Wirkung auf die zukünftige Entwicklung der gesamten Weltbevölkerung. Männer und Frauen verschiedener Hautfarben nähern sich einander an, mischen sich und zeugen neue Gesichter, neue Farben, neue Rassen. So ist die Welt schließlich vorangebracht worden.
In Deutschland wimmelt es auf den Straßen, in den Kneipen, in den Straßenbahnen überall von Männern, die ich mir nach Belieben ins Bett holen kann. Eine Sexangelegenheit, die ich mir in China nie zugestehen würde.
Wie ein tropischer, freier Fisch schwimme ich im Meer der wunderbaren, gebräunten Männerkörper.
Ich bin ein Sommermensch, der Winter ist für mich keine geeignete Jahreszeit für den Männerfang.
Ein stinknormaler Januartag begann. Der Januar ist der wohl deprimierendste Monat in Mitteleuropa. Manchmal hoffte ich, dass der Wecker kaputt ginge und ich mit ruhigem Gewissen einen Tag verschlafen könnte. Aber der schrille Ton riss mich - wie immer pünktlich - aus dem Schlaf. Ohne zu zögern sprang ich aus dem Bett und fing mit den »Jeden-Morgen-Toilettenhandlungen« an. Der Prozess wird in der kalten Jahreszeit zu einem besonders straffen Ritual, das jegliche Dynamik und Freude ausschließt.
Frühstück gab es nicht, die Zeit war mir zu schade, ich schlief lieber zwanzig Minuten länger. Ich spähte aus dem Fenster, mein Herz sank, es schneite immer noch.
Winter bedeutet Farblosigkeit, ich kann keine schönen Klamotten anziehen, die sexy Frauen und Mädchen verschwinden von den Straßen, überall haben sie sich in bewegende geschlechtslose Beine mit grauen oder schwarzen Mänteln oben drüber verwandelt. Alle Leute sehen gleich aus, es ist unerträglich.
Obwohl viele meiner deutschen Bekannten behaupten, sie mögen den Winter, der Schnee sei doch wunderbar, hindert es sie nicht daran, mit der Familie oder allein nach Teneriffa zu fliehen.
Ich hatte seit einem Monat keinen Freund, seit zwei Monaten keinen Sex, deshalb hatte ich einen großen Pickel auf dem Kinn, ich konnte ihn nicht ausdrücken, weil er noch nicht reif war. Ich hatte sicher keinen Liebeskummer, aber starkes Selbstmitleid.
Ich hängte mir einen dicken Schal um den Hals - der Abschluss der Vorbereitung auf den Arbeitstag - und ging raus zur Haltestelle. Extra zwei Minuten früher als sonst, denn ich konnte schlecht durch den Schnee gehen - aber die Straßenbahn wartete nicht.
Es war fast noch so dunkel wie in der Mitte der Nacht, der Boden komplett mit Schnee bedeckt. Ich zog den Kopf ein und passte bei jedem Schritt auf, dass die Schuhe nicht nass wurden. Die Körperhaltung veränderte sich, ähnelte einem Tanz auf dem Eis. Jeder Schritt hinterließ einen tiefen Fußabdruck, der bald wieder vom Schnee verwischt werden würde, als wäre ich nie hindurchgeschritten.
So stand ich nach fünf Minuten an der Haltestelle, ein dunkler Mantel...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.