Einleitung
»Du mußt auf mich achten, wenn du mich sehen willst .«
Vers aus einem alten koptischen Evangelium
Ich habe lange überlegt, ob es angebracht ist, diese Geschichte überhaupt zu erzählen. Ist nicht alles schon gesagt und aufgeschrieben worden? Alles über die Blindheit des Menschen und seine Schwierigkeiten, auf den Wegen der Bewußtwerdung voranzukommen zu einem Bewußtsein von der Welt, seinen Verbindungen mit der Welt, von seinem Inneren und seinen Beschränkungen; sich bewußt zu werden, daß es die Hauptaufgabe der Überlieferung und der Bildersprache ist, etwas weiterzugeben, aufzuzeigen und besser zu verstehen.
Seit der Mensch versucht, von seinen Erfahrung zu berichten und sie anderen zu vermitteln, hat er eine Unzahl von Werken geschaffen: Texte geschrieben, Filmen produziert und Rituale ersonnen, die mehr oder weniger gekonnt und zutreffend dieses große Unsichtbare beschreiben, diese versteckte Dimension, welche sich am Ursprung der Wesen und Dinge befindet. Er hat geformt, gemalt, gesungen, er hat sogar Tempel und Kathedralen gebaut, in denen das Wesentliche miteinander verbunden werden und Sinn finden sollte.
Heute sind diese Worte, Sätze, Pinselstriche oder Musiknoten immer noch vorhanden, gegenwärtig und stehen jenen Augen und Herzen zur Verfügung, die imstande sind, sie zu sehen und zu fühlen. Und dennoch! Man könnte fast glauben, daß der Mensch auf ewig dazu verdammt ist, das Offensichtliche immer wieder von neuem entdecken zu müssen, so als könne es nur eine persönliche Erfahrung und ein persönliches Weltverständnis geben. So als wäre diese Kenntnis gar nicht zu vermitteln, sondern nur immer wieder von neuem zu erfahren.
Eigenartig, aber jede Generation, jedes menschliche Wesen muß für sich mit eigenen Worten und aus eigener Anschauung diesen ewigen Weg immer wieder neu finden, der zum Sinn und zur Einheit der Welt führt. Er muß diese Worte wiederfinden: »Jeder muß seinen Platz in der Welt immer wieder neu erobern.«
Wie in einem unendlichen Kreislauf, der den Menschen dazu bringt, die Weltschöpfung noch einmal zu durchleben, muß er seine Welt hinter sich lassen, um »die Welt« wiederzufinden und um die großartige befreiende Erfahung seiner Einheit mit allem Lebendigen und dem Kosmos selbst zu machen, so beängstigend sie auch sein mag. In dieser unendlichen Weite sind wir so viel wie nichts oder so wenig wie ein winziges, durch die Elemente hin- und hergerütteltes Lebensästchen. Und auf fast paradoxe Art und Weise können wir gerade dann anfangen, frei zu sein, wenn wir nichts mehr sind und den Sinn dieser Offensichtlichkeit begreifen.
Es gibt keine menschliche Gemeinschaft, die dieses Offenkundige - jede gemäß ihrer Kultur mit ihren eigenen Worten und Symbolen- nicht begriffen hätte, keine Gemeinschaft, die nicht versucht hätte, ihren Mitgliedern einen Zugang zu bieten, der es jedem menschlichen Wesen ermöglicht, auf seinem Lebensweg ein Gleichgewicht zwischen den negativen und den positiven Kräften zu finden.
Es geht also demnach nicht um das Wissen an sich, denn es existiert, es steht zur Verfügung, sondern um den Zugang oder vielleicht um die Übermittlung dieses Wissens. Wie findet man den Zugang, wie vermittelt man es? Wie viele gelehrte Menschen, wie viele Weise, wie viele Traditionen haben sich diese einfache Frage gestellt?
Wie soll man das Wesen der Welt und das Wissen darum weitergeben, wo doch allein die Inkarnation dem Menschen die Möglichkeit gibt, menschlich zu sein? Was soll man und wie soll man es tun, daß so oft gebrauchte Worte wie Demut, Harmonie oder Zuhörenkönnen sich endlich im Gebaren und im täglichen Umgang verwirklichen? Welcher Weg könnte den Menschen endlich dazu bringen, sein Herz und seinen Geist dem anderen und der Schwerelosigkeit der Welt zu öffnen?
Auf diese Fragen haben bestimmte Kulturen in Ritualen und Traditionen eine Antwort gefunden, andere haben es dem Zufall überlassen, dem Zufall des Lebens, der durch aufeinanderfolgende Umbrüche den Menschen dazu verdammt, auf dem Weg seines Menschseins voranzuschreiten und »dem Weg der Bewußtwerdung zu folgen«.
Im ersten Fall werden die Lebenskräfte gelenkt und organisiert, um die Gemeinschaft zu nähren und jene, die ihr die Lebensgrundlage verschaffen; im zweiten Fall läßt man dem wilden, brutalen und letztlich zerstörerischen Chaos freien Lauf.
Heute stehen wir vor einer schlimmen Entscheidung: der Entscheidung zwischen ethischen Regeln und der Grausamkeit des Chaos, zwischen Leben und Tod. Nein, es handelt sich nicht um eine totalitäre, von außen kommende Ethik, die auf einer Ideologie beruht, es handelt sich nicht um noch so eine unter vielen anderen von außen aufgezwungenen Ethiken, sondern um eine innere Ethik, die mit der Erfahrung und mit dem Sinn des Lebens, den sie enthüllt, verbunden ist.
Manchmal geschieht es, daß uns das Leben etwas Wundervolles schenkt, nämlich die Begegnung mit einem Ort, einem Bauwerk oder einem Menschen, dem dieser Weg, der zur Erfahrung der Einheit des Geistes führt, noch innewohnt. Diese Menschen oder diese Orte strahlen eine derartige Schönheit aus, eine derartige Kraft, daß unser verlorener, verirrter Geist immer wieder versucht, ihre verborgene Macht zu ergründen; dieses Unsichtbare, das sich uns zwar enzieht, uns aber dennoch trägt und uns innewohnt.
Neben solchen Orten und Personen gehören die Kogis mit ihrer Kultur zu den wenigen, die den Weg des Gleichgewichts zu wahren und zu pflegen wußten. Seit vielen Jahrhunderten erforschen sie die verschiedenen Facetten des Lebens und halten erstaunlich hochentwickelte Kenntnisse und ein tiefes Weltverständnis am Leben; Kenntnisse, die man wiederentdecken sollte, um unserer heutigen Gesellschaft wieder Sinn zu geben.
»Das wirklich Neue entsteht immer, indem man wieder zur Quelle zurückkehrt. Warum war Jean-Jacques Rousseau so ungemein revolutionär? Weil er sich für die Quelle der Menschheit, d.h. den Ursprung der Zivilisation interessierte, und im Grunde muß jede Neuerung über die Rückkehr zur Quelle und die Rückkehr zum Alten führen .«1
Der Zufall des Lebens hat mir erlaubt, mit dem Wesentlichen in Berührung zu kommen und an die Quelle der Menschheit zurückzukehren, indem er mich zu den Kogi-Indianern geführt hat. Er hat mir die Chance geboten, meinen Weg neu zu finden und zu versuchen, ihn auf Worte und Formen einer anderen Zeit auszurichten.
Und dann muß ich an die Freude zurückdenken, die ich verspürt habe, als ich bestimmte Bücher entdeckte; an dieses Gefühl, wie Worte verborgene Gefühle und Erinnerungen wachriefen oder mir einfach ermöglichten, unendliche, durch die menschliche Vorstellungskraft erforschte oder geschaffene Welten zu entdecken; an den Jubel und die Freiheit, die uns das Wissen verschafft; an die Demut, zu der dieses Wissen uns anregt. Also habe ich dieses Buch geschrieben: eine Art Kompromiß zwischen einer Geschichte und der Wirklichkeit, ein unvollkommener Versuch, diese »Zwischenwelt« zu erforschen, diesen Abgrund voller Ungewißheit, der die Welt der Kogis von der modernen Gesellschaft trennt.
Es ist ein Augenzeugenbericht und die Schilderung eines Weges, der mich zu einer Begegnung mit den Kogis geführt hat und zu meiner Verpflichtung diesem Volk gegenüber, ihm zu helfen, Kogis im Lande der Kogis bleiben zu können. Möge dieser Weg eine Einladung zu tausend anderen Wegen sein; Wege, die wir dringend wiederentdecken müssen, wenn wir die für das Überleben nötigen menschlichen Werte wiederfinden wollen.
Jedenfalls hoffe ich, daß es Ihnen genauso viel Vergnügen bereitet, diese Seiten zu lesen und den Weg der neun Welten zu entdecken, wie ich selbst Vergnügen hatte, diesen Text zu schreiben, um das Abenteuer mit Ihnen zu teilen.
Am Ende dieses Buches werden Sie vielleicht wie ich eine eigenartige Entdeckung machen: Man wird nicht als Indianer geboren, man wird zum Indianer.
»Der indianischen Welt zu begegnen, ist heute kein Luxus mehr. Es ist, für den der begreifen will, was sich in der modernen Welt abspielt, zu einer Notwendigkeit geworden. Verstehen ist nichts, sondern versuchen, bis ans Ende all der dunklen Gänge zu gelangen, und versuchen, einige Türen zu öffnen: d.h. im Grunde, versuchen zu überleben.«2
Am Anfang war die Mutter. Alles war dunkel. Es gab weder Sonne noch Mond. Überall war Meer, dann kam die Welt .
Die Welt hat die Form eines Eies, eines sehr großen Eies, das mit der Spitze nach oben steht. In diesem Ei sind die neun Welten. Es handelt sich um große, abgerundete Plattformen, die übereinandergesetzt sind. Wir leben auf der Erde in der Mitte, wir nennen sie Senenùmayang. Oberhalb dieser Welt, bis ganz oben, sind noch weitere vier Welten Bunkuàneyumang, Alunayumang, Elnauyang und Koktomayang. Diese Welten sind gut, sie heißen...