Schweitzer Fachinformationen
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Der Tag, der mein Leben in eine neue Bahn stoßen sollte, tarnte sich zu Beginn als gewöhnlicher Mittwoch. Ein Mittwoch im vergangenen Mai. Der Duft des herannahenden Sommers wehte durchs geöffnete Bürofenster, vor dem die letzten Kirschblüten wippten, untermalt vom steten Rauschen des Verkehrs im Spandauer Viertel. Berlin. Diese Stadt, die ich liebte, genau wie die Agentur, für die ich als Webdesignerin arbeitete.
Ich teilte das Bürozimmer mit Fee, meiner Freundin aus Studienzeiten, der ich den Weg in unser Team geebnet hatte. Gerade hielt unser Praktikant ihr ein Tablet mit eigenen Entwürfen vor die Nase.
»Das geht so nicht.« Fee verdrehte die Augen. »Viel zu überladen, mehr Mut zur Lücke! Du musst den Blick der User auf das Wichtige lenken.«
Der Junge seufzte und verließ betrübt den Raum.
Ich blinzelte zu Fee hinüber.
Sie schnaubte. »Ja, was?«
»Ja, nichts. Ich meine, er ist Schüler und experimentiert herum. Oder hat er einen echten Auftrag erhalten?«
»Er ist doch hier, um was zu lernen. Da werde ich ja noch was sagen dürfen.« Fees schmale Lippen zuckten leicht, sie musste wohl über sich selbst lachen.
»Der arme Kerl kann aber nichts für deinen akuten Liebesfrust.«
»Okay, Mama. Ich werde ihn nachher für seinen Kaffee loben.«
Ich klickte mich weiter durch das Sketchbook-Menü. Eine große Tischlerei hatte uns mit einem Onepager beauftragt. Vor einem holzähnlich gemaserten Hintergrund führten stilisierte Werkzeuge, linear nach Größe abfallend, den Blick zum Call-to-action-Button. Ich skizzierte eine Säge für den Entwurf und nahm einen Schluck Kaffee, setzte den Becher ab. Ein Tropfen floss vom Rand über den pinkfarbenen Schmetterling, der neben zartbunten Blumen das Porzellan schmückte. Gedankenverloren starrte ich darauf. Die Tasse erinnerte mich an meinen Vater. An meinen vierten Geburtstag, als er mir .
»Ella?« Fees Stimme riss mich in die Gegenwart zurück. Durch ihre Ponyfransen schaute sie mich an. »Kommst du nicht weiter?«
Wir waren ein eingespieltes Team und halfen uns jederzeit, wenn es mal irgendwo hakte.
»Doch, alles gut«, winkte ich ab. »Bis zum Termin werde ich locker damit fertig.«
Sie nickte, und still wandten wir unsere Gesichter wieder den Monitoren zu.
Müde fuhr ich mit der U7 nach Hause. Ich blickte einem gemütlichen Feierabend auf meiner Noller Scholle entgegen. So nannte ich die Altbauwohnung, die in der Nollenberger Straße lag und die ich liebte. Das Einzige, was mir fehlte, war ein lebendiges Wesen beim Nachhausekommen. Zum Beispiel eine Katze. Doch der Wunsch schien mir egoistisch. Ich hätte sie zu oft allein lassen müssen.
Ich gähnte verhalten, als ich aus der Bahn stieg. Immerhin war morgen Christi Himmelfahrt, und ich konnte ausschlafen. Mittags war ich mit meiner Mutter verabredet.
Im Hausflur empfing mich der typische Treppenhausgeruch betagter Gebäude, der die Nostalgie der altrosa Farbe an den Wänden unterstrich. Ich ließ die Eingangstür hinter mir zufallen, öffnete wie jeden Abend meinen Briefkasten. Mein Blick blieb an einem gepolsterten großen Briefumschlag hängen, den der Postbote eben noch durch den Schlitz gequetscht haben musste. Briefmarken mit der Silhouette von Queen Elizabeth. Meine Adresse war mit steiler Handschrift notiert. Der Absender sagte mir nichts. Edward Hawkins.
Ich nahm die vier Treppenabsätze bis in meine Wohnung, zog Pumps und Jacke aus und machte es mir mit dem geheimnisvollen Päckchen auf dem knallgelben Sofa bequem, rieb mir die schmerzenden Zehen. Gespannt riss ich den Umschlag auf und hielt einen Stapel mit mehreren Kuverts in der Hand. Obenauf lag ein mittig gefalteter Briefbogen. Ich klappte ihn auseinander. Zeilen auf Englisch, wieder in dieser steilen Schrift.
Sehr geehrte Ms Franke, Sie mögen mir bitte verzeihen, dass ich Sie ohne jede Vorwarnung anschreibe. Doch ich glaube, es ist der beste Weg, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Mein Name ist Edward Hawkins. Ich arbeite seit vielen Jahren als Verwalter auf dem Gut Ihres Vaters Thomas Lorenz in der Grafschaft Cumbria. Ich bedauere zutiefst, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es Ihrem Vater gesundheitlich schlecht geht. Vor Kurzem wurde bei ihm Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Niemand weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt.
Da er sehr schwach ist, hat er mich gebeten, Sie ausfindig zu machen und davon in Kenntnis zu setzen. Er hofft, Sie vor seinem Tod noch einmal wiedersehen zu können und dass Sie ihm eine Chance geben, sich mit Ihnen auszusprechen. Das würde ihm die letzte Phase seines Lebens erleichtern. Sie sind also herzlich eingeladen, nach Tarn Hows zu kommen. Hier im Green Ghyll Cottage, dem Landhaus Ihres Vaters, wartet jederzeit ein komfortables Gästezimmer auf Sie.
Die Reisekosten würde er selbstverständlich übernehmen. Vielleicht kann der beigelegte Stapel früherer Briefe Ihres Vaters Ihnen bei der Entscheidung helfen. Darf er darauf hoffen, dass Sie seinen letzten Wunsch erfüllen?
Hochachtungsvoll Ihr Edward Hawkins
Wie vom Donner gerührt ließ ich den Zettel sinken. Mein Vater. Von dem ich bis vor fünf Minuten nicht mal gewusst hatte, ob er noch lebte. Geschweige denn, wo. Ich war fast fünf gewesen, als er meine Mutter und mich verließ, ohne sich je wieder blicken zu lassen. Er lebte also. Auf einem Landgut in England. Und nun wollte er mich sehen, bevor er sterben würde.
Mein Hals fühlte sich staubtrocken an. Ich könnte meinen Vater kennenlernen, nur um ihn schon bald wieder zu verlieren.
Natürlich hatte es eine Zeit gegeben, in der ich meine gekränkten Gefühle beiseitegeschoben und im Internet nach ihm geforscht hatte. Aber ich hatte nie etwas über ihn herausgefunden, und den offiziellen Weg über die Ämter wollte ich nicht gehen. Alles, was ich von meiner Mutter wusste, war, dass er nach einer Reise nicht mehr zu uns zurückkehren wollte. Er hatte ihr am Telefon erklärt, er würde sich anderswo ein neues Leben aufbauen. Kein Abschiednehmen von uns, von mir.
»Mit dem sind wir durch!«, pflegte meine Mutter zu sagen, und: »Wir brauchen keine Männer.«
Nicht einmal den Unterhalt für mich wollte sie von ihm annehmen. Ich verstand sie. Und tat das bis heute. Ihn dagegen nicht. Wie konnte man seine Familie auf Nimmerwiedersehen im Stich lassen? Vielleicht hatte ich deshalb meiner Suche nach ihm nie mehr Nachdruck verliehen. Die Unabhängigkeit und der Stolz meiner Mutter waren mir in Fleisch und Blut übergegangen. Es fehlte mir an nichts. Und jetzt das.
Stumm betrachtete ich die ungeöffneten Briefe meines Vaters, die Mr Hawkins seinem Anschreiben beigelegt hatte. Etwa zehn. Merkwürdig. Sie waren an unsere frühere Anschrift in Berlin adressiert. Die Wohnung, in der ich anfangs aufgewachsen bin.
Mein Herz klopfte bis zum Hals, als ich meinen Daumen unter den ersten Falz schob, ihn aufriss und die Papierbögen auseinanderfaltete.
Green Ghyll Cottage, im Juli 1998, las ich die oberste, in schwungvollen Kurven geschriebene Zeile. Ich schluckte. Da war ich sechs Jahre alt gewesen, und die Adresse hatte noch gestimmt.
Liebe Etterli, seit meinem letzten Brief an Dich sind wieder einige Monate vergangen. Bestimmt bist Du schon richtig groß geworden. Das musst Du auch, sonst passt Dein Schulranzen ja gar nicht auf Deinen Rücken! Ich stelle mir vor, dass er türkis ist, denn das war immer Deine Lieblingsfarbe. Bist Du schon aufgeregt?
Wenn ich wüsste, wann genau Dein großer Tag ist, würde ich kommen und mit Euch Deine Einschulung feiern. Aber von Deiner Mama höre ich, dass Du mich nicht sehen möchtest. Bestimmt bist Du wütend, weil ich nicht mehr bei Euch bin. Weißt Du, manchmal passieren Dinge, die Dir keine Wahl lassen. Auch wenn sie wie ein Fehler aussehen und für andere schwer zu verstehen sind. Du sollst aber wissen, dass ich Dich vermisse, jeden Tag denke ich an Dich. An Dein Lachen mit den schiefen Milchzähnen. Und die dunklen Locken, die Dir nach Deinen wilden Indianerabenteuern immer wie Spirellinudeln vom Kopf abstanden.
Willst Du mich mal besuchen kommen? Es gibt vieles, das ich Dir gern zeigen würde. Ich wohne in einem kuscheligen kleinen Landhaus in England. Es heißt Green Ghyll Cottage. Das bedeutet grüner Bach, denn in der Nähe fließt ein schmaler Bach. Das Land hier hat eine Königin und ist voll mit Hecken und Teetrinkern. Und stell Dir vor, die Autos fahren alle auf der verkehrten Straßenseite! Auf den Weiden grasen Schafe, und in meinem Garten habe ich einen Pavillon aus Glas mit vielen Schmetterlingen. Sie sind lebendig und bunt wie Du. Ich bin mir sicher, Du würdest hier viel Spaß haben.
Nun wünsche ich Dir alles Liebe für Deinen großen Tag. Anbei ein Geschenk für Dich. Ich habe es in Nordamerika gekauft, in einem Indianerreservat. Wenn Du es trägst, ist ein Teil von mir immer bei Dir. Aber auch sonst ist immer ein Teil von mir bei Dir. In der Schule, zu Hause und draußen, überall in der Welt. Wo Du auch bist.
Bleib behütet und beschützt, kleine Etterli. Dein Papa
Ich verharrte reglos. Fühlte Hitze, die...
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