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Es war zu früh für Vogelgezwitscher. Harold lag neben ihr, die Hände ordentlich auf der Brust und so friedlich, dass sie sich fragte, wo er im Schlaf wohl unterwegs war. Sicher woanders als sie: Wenn sie die Augen schloss, sah sie nur Baustellen. Du lieber Gott, dachte sie. So geht das nicht. Im Stockdunkeln stand sie auf, zog ihr Nachthemd aus und ihre beste blaue Bluse an, eine bequeme Hose und eine Strickjacke. »Harold?«, fragte sie leise. »Bist du wach?« Er rührte sich nicht. Sie nahm ihre Schuhe in die Hand und schloss lautlos die Schlafzimmertür. Wenn sie jetzt nicht losfuhr, dann nie.
Unten schaltete sie den Wasserkocher ein, streifte die Gummihandschuhe über und wischte, bis das Wasser kochte, ein paar Arbeitsflächen sauber. »Maureen«, sagte sie laut. Schließlich war sie nicht auf den Kopf gefallen und merkte, was los war, auch wenn ihre Hände es nicht merkten. Sie war nervös, das war los. Sie machte sich eine Thermosflasche Instantkaffee und ein paar Sandwiches, die sie in Frischhaltefolie wickelte, dann schrieb sie Harold eine Notiz. Und dann noch eine: »Tassen!« und noch eine: »Töpfe!«, und ehe sie sich versah, war die ganze Küche mit Post-Its gepflastert wie mit kleinen gelben Alarmlichtern. »Maureen«, sagte sie noch einmal und riss alles wieder ab. »Geh jetzt. Mach schon.« Sie hängte Harolds Gehstock an den Stuhl, wo er ihn nicht übersehen konnte. Dann schob sie die Thermoskanne und die Sandwiches in ihre Handtasche, schlüpfte in die Schuhe, mit denen sie immer Auto fuhr, zog den Wintermantel an, nahm den Koffer und trat in den herrlichen frühen Morgen hinaus. Der Himmel war klar und mit Sternen gesprenkelt, die Mondsichel wie ein schmaler Nagelsaum. Nur in Rex' Haus nebenan brannte Licht. Und immer noch sang kein Vogel.
Es war kalt, sogar für Januar. Das Mosaikpflaster war über Nacht vereist, und Maureen musste sich am Geländer festhalten. Die Ritzen zwischen den Pflastersteinen waren mit Eisnadeln gespickt, im Vorgarten standen nur noch ein paar glasierte Dornenstängel. Maureen drehte den Zündschlüssel, damit der Wagen vorheizte, während sie die Fenster frei kratzte. Das Eis war rau wie Schmirgelpapier und lag, so weit das Auge reichte, als rutschige Schicht auf der Fossebridge Road, von den Straßenlampen beleuchtet. Niemand sonst war unterwegs, es war schließlich Sonntag. Sie winkte zu Rex' Haus hinüber für den Fall, dass er wach war. Dann war alles getan. Sie fuhr los.
In der Fore Street waren die Streufahrzeuge schon unterwegs gewesen, rosa Matten aus Streusalz zogen sich den Hügel hinauf. Maureen fuhr Richtung Norden, am Buchladen und den anderen Läden vorbei, die bis Montag geschlossen waren, aber sie sah nicht hinüber. Es war lange her, seit sie zuletzt in der High Street eingekauft hatte. Harold und sie kauften inzwischen meist online, nicht nur wegen der Pandemie. Die stille Ladenzeile ging in Häuserreihen mit Nachtbeleuchtung über. Die wiederum wichen einer dunklen Leere, unterbrochen von einer geschlossenen Tankstelle. Maureen fuhr an der Abzweigung zum Krematorium vorbei, das sie einmal im Monat besuchte, fuhr immer weiter. Einmal in Gang gekommen, empfand sie keine Nervosität mehr, sondern eher ein kaum erklärbares Gefühl, dass sie das Richtige tat. Harold hatte recht gehabt.
»Du musst dorthin, Maureen«, hatte er gesagt. Sie hatte viele Gründe aufgezählt, die dagegen sprachen, aber schließlich hatte sie eingelenkt. Und ihm gezeigt, wie man den Geschirrspüler und die Waschmaschine bedient, weil er manchmal nicht wusste, welche Knöpfe es zu drücken galt, und hatte ihm einen Zettel mit klaren Anweisungen geschrieben.
»Bist du dir sicher?«, hatte sie ein paar Tage später noch einmal gefragt. »Findest du wirklich, ich sollte das machen?«
»Selbstverständlich bin ich mir sicher.« Er saß im Garten, während sie altes Laub zusammenrechte. Er hatte seine Jacke falsch zugeknöpft, und seine linke Körperhälfte schien gegen die rechte verschoben.
»Aber wer wird sich um dich kümmern?«
»Ich werde mich selbst um mich kümmern.«
»Und was ist mit dem Essen? Du musst essen.«
»Rex kann mir helfen.«
»Na, ob das klappt. Rex ist schlimmer als du.«
»Stimmt natürlich. Zwei alte Trottel!«
Dabei lächelte er. Ein so vollkommenes Lächeln, dass sie ihn schon vermisste, bevor sie überhaupt losgefahren war. Er konnte so verdammt sicher sein, wie er wollte, aber sie war es nicht. Sie hatte den Rechen hingelegt. War zu ihm gegangen und hatte seine Jacke richtig zugeknöpft. Er war geduldig sitzen geblieben und hatte zu ihr hoch geblickt, mit diesen Augen in Delfter Blau. Niemand außer Harold hatte sie jemals so angesehen. Sie strich ihm übers Haar, da hob er die Fingerspitzen an ihr Gesicht, zog sie zu sich herunter und küsste sie.
»Maureen, du wirst erst wieder zur Ruhe kommen, wenn du gehst«, hatte er gesagt.
»Na gut. Dann gehe ich eben. Ich gehe, und nichts wird mich aufhalten! Aber wenn du nichts dagegen hast, gehe ich nicht zu Fuß. Vielen Dank auch, da bin ich konventioneller. Ich nehme das Auto.«
Sie hatten gelacht, weil sie beide wussten, dass Maureen Muskeln spielen ließ, die sie gar nicht hatte, stärker erscheinen wollte, als sie sich fühlte. Dann rechte sie wieder Blätter zusammen, und er widmete sich wieder der Betrachtung des Himmels. Die Stille war aufgeladen mit allem, wofür Maureen die Worte fehlten.
Und jetzt war sie also unterwegs, dachte an nichts anderes als an Harold und entfernte sich immer weiter von ihm. Gestern Abend hatte er ihre Autoschuhe geputzt und ordentlich neben den Stuhl mit ihren Kleidern gestellt. »Ich werde dich morgen früh nicht wecken«, hatte sie versprochen, als sie ins Bett gingen und einander Gute Nacht wünschten. Er hatte ihre Hand fest mit der Seinen umschlossen, bis er einschlief, und dann war sie ganz dicht an ihn herangerückt, hatte dem beständigen Schlag seines Herzens gelauscht und versucht, etwas von Harolds Frieden in sich aufzunehmen.
Maureen fuhr langsam, obwohl es wenig Verkehr gab. Wenn ihr ein Auto mit seinen hellen Scheinwerfern entgegenkam, bemerkte sie es schon früh, konnte an der richtigen Stelle ausweichen und sogar höflich dankend winken. Dann war die Landstraße wieder dunkel, und sie sah draußen nur die Hecken und Bäume vorbeifliegen. Bald erreichte sie eine doppelspurige Schnellstraße. Dort wurde es sogar noch besser, weil die Straße gerade, breit und immer noch ziemlich leer war; die Laster parkten noch in den Haltebuchten. Kurz vor Exeter kamen viele Baustellen, genau wie sie in der Nacht geträumt hatte, und die Umleitungen verwirrten sie. Sie war nicht mehr auf der A38, sondern auf einer Reihe von Umfahrungsstrecken und Wohnstraßen mit vielen kleinen Kreiseln. Nach weiteren zwanzig Minuten fiel ihr am Rand eines Neubaugebiets auf, dass sie schon eine ganze Weile kein gelbes Umleitungsschild mehr gesehen hatte. Hier gab es nichts als Wohnblöcke und kleine, spindeldürre Bäume, die in Aussparungen im Pflaster wuchsen. Es war immer noch dunkel.
»Na toll«, sagte sie. »Großartig.« Das sagte sie nicht nur zu sich selbst. Sie hatte die Angewohnheit, mit der Stille zu sprechen wie mit jemandem, der ihr absichtlich das Leben schwer machte. Sie konnte immer schlechter auseinanderhalten, was sie dachte und was sie tatsächlich sagte.
Maureen fuhr an weiteren Wohnblocks und spindeldürren Bäumen vorbei, an dicht geparkten Autos und an Lieferwagen in Frühschicht, sah aber immer noch keinen Hinweis auf die A38. Sie bog in eine Anliegerstraße ein, weil dort eine Reihe heller Straßenlampen stand, doch die Straße endete als Sackgasse. Links sah sie eine große Lagerhalle, umgeben von einem stacheldrahtbewehrten Zaun. Die Tore standen offen.
Maureen fuhr an den Rand und holte ihren Straßenatlas heraus, hatte aber keine Ahnung, wo sie anfangen sollte zu suchen. Sie schaltete ihr Handy ein, aber auch das half nicht weiter, außerdem würde Harold noch schlafen. Eine Weile saß sie einfach da. Schon jetzt ratlos. Harold würde sagen: »Frag doch jemanden«, aber so war Harold eben. Der Sinn des Autofahrens bestand für sie gerade darin, dass sie nicht mit fremden Leuten reden musste. »Okay«, sagte sie energisch. »Du schaffst das.« Sie würde ihre Straßenkarte nehmen und wie Harold handeln. Sie würde in der Lagerhalle um Hilfe bitten.
Maureen stieg aus, und sofort schlug ihr die Kälte ins Gesicht, biss sie in die Ohren und in die Nase. Als sie den Parkplatz überquerte, flammten links und rechts Scheinwerfer auf, die sie fast blind machten. Aus einer Bude, einem Fertigbau links vom Hauptgebäude, kam Licht, aber Maureen musste vorsichtig gehen, mit ausgestreckten Armen balancieren. Ihre Autoschuhe aus Wildleder hatten einen Riegel über dem Spann und flache, besonders griffige Sohlen, die auf nassem Pflaster guten Halt gaben, aber auf Glatteis nutzlos waren. Überall hingen Schilder mit Hunden und Warnungen vor regelmäßigen Kontrollgängen, und Maureen bekam Angst, die Hunde könnten plötzlich auf sie zustürmen. In ihrer Kindheit hatte der Bauer des Dorfes seine Hunde frei laufen lassen. Sie hatte immer noch eine kleine Narbe unter dem Kinn.
Maureen klopfte ans Fenster der Bude. Die Nachtwache, ein junger Mann, war alles andere als wach. Zusammengesunken auf einem Camping-Klappstuhl, hatte er die Beine ausgestreckt; sein Turban war an die Wand gequetscht, sein Mund stand offen. Sie klopfte noch einmal, ein wenig lauter, und rief: »Entschuldigen Sie bitte!«
Aufgeschreckt rieb er sich die Augen, stemmte sich aus dem Stuhl hoch und schien immer größer zu werden. Er war so groß, dass er den Kopf einziehen...
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