Schweitzer Fachinformationen
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»Queenie? Queenie Hennessy?«
Als ich aufwachte, stand ein neuer Betreuer vor meinem Fenster. Einen Moment lang erschien er mir wie eine Lichtgestalt.
»Sie haben geweint«, sagte er. »Im Schlaf.« Erst als ich genau hinsah, erkannte ich, dass es kein Mann war, sondern eine große, grobknochige Frau im Nonnenhabit mit weißer Haube und dunkelblauer Strickjacke. Ich fuhr mit der Hand zur Wange hoch, um sie zu verbergen. Doch weder starrte die Unbekannte dorthin, noch senkte sie ihren Blick, wie es Leute meistens tun, zu meinen Fingern, meinen Füßen oder sonst wohin, nur weg von meinem Gesicht. Sie lächelte einfach.
»Dieser Harold Fry - macht Ihnen dieser Mann so zu schaffen?«, fragte sie.
Ich erinnerte mich an deine Nachricht. Dass du mich besuchen kämst, zu Fuß. Aber diesmal sah ich nicht die Hoffnung in der Nachricht, sondern nur die Kilometer. Schließlich bin ich am einen Ende Englands und du am anderen. Der Wind hat im Süden etwas Sanftes, aber hier oben ist er so wild, dass er einen umreißen kann. Es gibt einen Grund für diese Entfernung, Harold. Ich musste so weit von dir wegkommen, wie ich es ertragen konnte.
Die Nonne drückte sich vom Fensterbrett ab und wischte dabei einen kleinen Kaktus herunter. Sie sagte, sie habe von deiner aufregenden Nachricht gehört. Sie wusste, dass du von Kingsbridge nach Berwick upon Tweed laufen willst und ich nichts weiter zu tun brauche, als zu warten. Sie bückte sich, um das Topfpflänzchen vom Boden zu retten. »Ich kenne Mr Fry natürlich nicht, aber anscheinend haben Sie ins Leere gerufen und ein Echo zurückbekommen. Was für ein guter Mensch.« Sie lächelte den Kaktus an, als hätte sie ihn gerade gesegnet. »Ich bin übrigens Schwester Mary Inconnue.« Sie sprach es Ängkonnüh aus, wie im Französischen. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Sie zog den Stuhl heran und setzte sich an mein Bett. Ihre Hände lagen groß und rot in ihrem Schoß. Die Hände einer Spülerin. Ihre Augen waren von einem scharfen, klaren Grün.
»Aber schauen Sie mich doch an«, versuchte ich zu sagen.
Es ging nicht. Stattdessen griff ich nach meinem Heft und meinem Bleistift Stärke HB. Ich schrieb: Wie soll ich das denn anstellen? Wie könnte ich denn auf ihn warten?, und schleuderte dann den Bleistift weg.
Ich hatte gedacht, ich würde dich nie wiedersehen. Ich habe zwanzig Jahre im Exil verbracht, während mir ein Stück meines Lebens fehlte. Ich dachte, du hättest mich vergessen. Als ich dir meinen ersten Brief schickte, wollte ich damit mein Leben ordnen. Für mich selbst mit der Vergangenheit abschließen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du antwortest. Und ganz sicher nicht damit, dass du losläufst. Plötzlich gibt es so viel zu gestehen, wiedergutzumachen, zu kitten, und das kann ich nicht. Warum, glaubst du, habe ich Kingsbridge verlassen und bin nie zurückgekehrt? Ich fürchte, wenn du die wahren Gründe kennen würdest, dann würdest du mich hassen. Doch du musst die Wahrheit kennen, verstehst du? Sonst können wir uns nicht begegnen.
Ich erinnerte mich an das erste Mal, als ich dich im Brauereihof sah. Dann stellte ich mir deinen Sohn mit meinen roten Wollfäustlingen vor und sah auch Maureen in eurem Garten in der Fossebridge Road Nr. 13. Mit lodernden Augen hatte sie neben dem Wäschekorb gestanden. Spar dir lieber das Laufen, dachte ich. Die Nonne mit dem komischen Namen hat recht: Du bist ein guter Mensch. Vor zwanzig Jahren hatte ich die Chance, mit dir zu reden, und habe den Mund nicht aufbekommen. Immer wieder sind alle Versuche misslungen. Jetzt habe ich keinen Mund mehr, nur noch Worte. Bleib lieber, wo du bist.
Es ist zu spät.
Schwester Mary Inconnue las das in meinem Heft und sagte nichts. Lange saß sie da, die Hände im Schoß, so reglos, dass ich mich schon fragte, ob sie eingeschlafen war. Dann krempelte sie die Ärmel hoch wie eine Nonne, die sich anschickt, den Stier bei den Hörnern zu packen. Sie hatte glatte, braungebrannte Arme. »Zu spät? Es ist nie zu spät. Mir scheint, es gibt noch eine ganze Menge, was Sie Harold Fry zu sagen haben. Deshalb sind Sie doch so wütend, oder nicht?«
Das saß. Ich weinte wieder.
Sie sagte: »Ich habe einen Plan. Wir werden ihm einen zweiten Brief schreiben. Mit dem ersten haben Sie sich ganz schön was eingebrockt. Jetzt müssen Sie die Suppe auch auslöffeln. Aber diesmal schreiben Sie ihm nicht, was er auch vorgedruckt auf einer Grußkarte lesen könnte. Sondern die Wahrheit, die ganze Wahrheit. Erzählen Sie ihm, was wirklich gewesen ist.«
Ich wandte den Blick zum Fenster hinüber. Draußen jagten schwarze Wolkenfetzen wie Gaze über den matten Himmel. Die Sonne war eine metallische Lichtscheibe, die dunklen Zweige des Baums schüttelten sich. Ich stellte mir vor, wie du am einen Ende von England eine Landstraße entlangläufst. Ich stellte mir vor, wie ich selbst am anderen Ende in einem kleinen Zimmer im Bett sitze. Ich dachte an die Meilen zwischen uns, die Bahnschienen, die Busrouten, die Straßen, die Flüsse. Ich sah die Kirch- und anderen Türme vor mir, die Schiefer- und Blechdächer, die Bahnhöfe, die Städte, die Dörfer, die Felder. Und die vielen Menschen. Menschen, die auf Bahnsteigen warten und in Autos vorbeifahren, die aus Busfenstern schauen und Straßen entlanggehen.
Seit ich Kingsbridge verlassen habe, bin ich allein geblieben. Ich bin in ein verlassenes Holzhäuschen am Strand gezogen und habe mein Herzblut in einen Garten am Meer gesteckt. Habe ein kleines Leben gelebt, nichts Erwähnenswertes. Aber die Vergangenheit ist immer noch in mir, Harold. Ich habe sie nie hinter mir gelassen.
»Sie müssen diesen Brief nicht alleine schreiben«, sagte Schwester Mary Inconnue. »Ich werde Ihnen helfen. Im Büro steht eine alte Reiseschreibmaschine.«
Ich erinnerte mich, wie lange ich gebraucht hatte, um meinen ersten Brief Buchstabe für Buchstabe zu Papier zu bringen, damit Schwester Lucy ihn auf ihrem Laptop abschreiben konnte. Vermutlich hast du bemerkt, was für ein Gekritzel meine Unterschrift und deine Adresse auf dem Umschlag waren. Mit den ganzen Faxen, die nötig waren, um diesen Brief auf die Post zu bekommen, wäre eine Brieftaube wahrscheinlich schneller gewesen.
Aber Schwester Mary Inconnue fuhr fort: »Wir schreiben jeden Tag ein Stück. Sie, Queenie, machen Notizen, und ich tippe sie ab. Sie können nicht zufällig Steno?«
Ich nickte.
»Na, also. Wir werden gemeinsam schreiben, Sie und ich, bis Harold Fry hier ankommt. Ich werde den Brief in der Ich-Form schreiben, als wäre ich Sie. Ich transkribiere alles, es wird kein einziges Wort fehlen. Harold Fry bekommt Ihren Brief sofort nach seiner Ankunft ausgehändigt.«
Sie müssen mir versprechen, dass er ihn liest, bevor er zu mir gelassen wird.
»Ich gebe Ihnen mein Wort.«
Und schon bekam die Vorstellung für mich etwas Verlockendes. Schon feilte ich an den ersten Sätzen. Vielleicht schloss ich dabei die Augen, denn als ich sie wieder aufmachte, hatte sich Schwester Mary Inconnue wieder ein Stück bewegt; sie saß jetzt am Fußende. Sie hatte eine Lesebrille mit blauer Plastikfassung aufgesetzt, die sie ein bisschen glupschäugig aussehen ließ, und hielt einen abgewetzten Lederkoffer hoch, so groß wie eine Aktentasche. Der Schlüssel war mit Schnur an den Griff gebunden.
Sie lachte. »Sie sind eingeschlafen. Da bin ich schnell ins Büro rüber und war so frei, mir die Schreibmaschine auszuborgen.« Sie schlug in meinem Heft eine neue Seite auf und legte es mir auf den Schoß, den Bleistift dazu.
»Sehen Sie, was hier geschieht?«, fragte Schwester Mary Inconnue und schloss den Lederkoffer auf. Sie hob die Schreibmaschine heraus, eine Triumph Tippa. Dasselbe Modell hatte ich auch einmal. »Harold Fry läuft durch England. Sie sind zwar hier, haben Ihre Reisen schon hinter sich, aber auch Sie machen sich auf den Weg, nur anders. Das ist das Gleiche, wenn auch nicht dasselbe. Finden Sie nicht auch?«
Ich nickte. Und wenn ich nicht mehr hier bin, wird wenigstens mein Brief hier sein.
Schwester Mary Inconnue nahm Platz und stellte sich die Schreibmaschine auf den Schoß. »So«, sagte sie und bewegte ein paarmal die roten Finger. »Wo ist denn hier der Tabstopp?«
Wir arbeiteten den Rest des Vormittags und dann weiter nach dem Mittagessen bis in die Dämmerung. Einmal in Gang gekommen, konnte ich gar nicht mehr aufhören. Ich deutete auf meine Notizen. Ergibt das einen Sinn?
»Und wie«, sagte sie.
Ich riss die vollgeschriebenen Blätter aus dem Heft und nummerierte sie; Schwester Mary Inconnue tippte alles der Reihe nach ab. Ich nahm mir immer vor, bis zur nächsten Seite schreibe ich noch, und wenn dann die nächste Seite kam, schrieb ich auch die wieder voll. Ich schrieb alles auf, was du bisher gelesen hast, während Schwester Mary Inconnue in die Tasten hackte. Und das machen wir immer noch. Ich schreibe, und sie tippt.
»Gut«, sagt sie. »Sehr gut.«
Später kam die diensthabende Krankenschwester zu unserem Abendritual. Sie reinigte mir den Mund mit Mundwasser und einem Schwämmchen am Stab. Sie strich Gel auf die Stellen, wo meine Lippen rissig waren, und wechselte dann die Verbände. Dr. Shah, der Palliativarzt, fragte, ob meine Schmerzen stärker geworden seien, aber ich verneinte, sie seien wie immer. Ich müsse nichts Unangenehmes aushalten, sagte er. Wenn mich etwas störe, könnte man die Medikamente anders einstellen. Nachdem die Krankenschwester mir ein neues Schmerzpflaster angelegt hatte, massierte mir Schwester Lucy die Hände. Mit ihren glatten Pummelfingern knetete sie meine steifen Finger durch, lockerte die Gelenke und strich...
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