Élise fürchtet sich vor ihrem Haus ohne mich. Wie jedes Mal, wenn ich fortgehe:
»Es ist schon genug«, sagt sie, »dass du nicht mehr da bist. Aber käme ich zurück, nachdem ich dich zum Bahnhof gebracht habe, und fände hier Unordnung vor, wäre ich sehr unglücklich.«
Warum sollte ich es ihr verübeln, dass sie mich im letzten Augenblick offenbar vergisst und sich um ihren Haushalt sorgt? Sie kränkt mich damit keineswegs, sie verrät mir nur die Verwirrung, in der meine Abwesenheit sie zurücklässt. Wer von uns beiden ist treu?
Im Zug die ersten Begegnungen:
X., noch ein Unbekannter, teilt mit mir die Kabine, er schläft über mir.
Ich möchte X. sagen, dass ich sein Freund bin. Sobald ich mit jemandem in gesenkter Stimme gesprochen habe, fühle ich mich freier mit ihm und mit mir selbst.
In einem Kellergewölbe sitze ich zwischen X. und H.
Ich sage zu X.:
»Sie sind mein Bruder.«
H.: »Sie ehren ihn sehr.«
»Aber auch Sie, Jean, sind mein Bruder.«
Als wir Arm in Arm hinausgehen, sehen wir im Licht des Mondes unsere drei Schatten.
X.: »Das sind doch die drei ...«
X. versteht dieses Wort nicht wie alle Welt, darauf wette ich. Er missbraucht es nicht.
Oh, dreigestaltige Hekate!
Für Augenblicke spüre ich, wie ich mit X. und H. auf die Ebene einer zauberhaften Vertrautheit gleite.
Noch nie erschien meine Einsamkeit mir so groß, ohne dass sie mir etwas von meiner Geselligkeit genommen hätte. Das heißt, ich bringe mir bei, mich unter den anderen zu bewegen, ohne etwas von mir selbst aufzugeben. Diese Gewandtheit ist sehr nützlich. Sie ähnelt jener des Schwimmers im Wasser oder des Heiligen im Licht der Gnade. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mir erlaubt sei.
Was für eine Freude, gegen jedermann, gegen sich selbst frei von Vorurteilen zu sein, einfach, behutsam!
Meine Sinnlichkeit beherrsche ich mühelos, gelegentlich schlägt sie aus, aber sie wirft mich nicht aus dem Sattel. Ich bin Herr über mein Pferd.
Ich unterhalte mich mit H. und sage: »Die Bücher sind unsere besten Freunde.«
»Und wir?«, ruft er empört. Und zeigt mit dem Finger auf X. und auf sich.
Ist das eine Falle? Offenbar bin ich in ihr gefangen.
Ich weiß, man kann gewisse Verwirrungen spüren, ohne es sich einzugestehen. Ich weiß, man kann sich sagen, man sei verwirrt, oder glauben, man sei es, und es ist nicht wahr. Man täuscht sich, oder man gibt es vor.
Manchmal jedoch, wenn ich eine seiner Hände über einen Tisch wandern sehe oder sie sich an einer Lehne festhält, wie ein Vogel, der sich niederlässt und einschläft, möchte ich sie ergreifen, aber damit würde ich jemanden aufwecken.
Die großen Dinge, die in mir vor sich gehen, sind eigentlich klein. Wüsste man davon, würde man mich zwischen zwei Matratzen ersticken, gleich jenen, die ein tollwütiger Hund gebissen hat. Aber solange ich der Einzige bin, der meine Verwirrung kennt, bin ich nicht ganz verloren.
Als X. heute Abend mit unserem Freund H. so leichtfertig über mich sprach, vielleicht um mich auf die Probe zu stellen, stand ich jäh auf, meiner Schüchternheit zum Trotz, um wegzugehen, irgendwohin, wie ein Baum, den ein Blitz entwurzelt und weit fortschleudert. Alle konnten merken, dass ich außer mir war.
Was macht es schon, dass ich leide und durch wen ich leide! Dieses Drama betrifft nur die Chimären, die sich tief in meinem Herzen eingenistet haben.
Ich sage zu X.:
»Monster.«
F., der es gehört hat, sagt wie im Traum:
»Siehe da, die Sprache Racines.«
Mögliche Begriffsbestimmung:
»Monster nenne ich ein Wesen, das imstande ist, Worte auszusprechen, welche die Einbildungskraft irreführen, und dann so tut, als habe es nichts gesagt.«
Als mich im Dunkeln ein Unbekannter am Arm fasst, schreit X., der vor uns an der Kreuzung aufgetaucht ist, mich an :
»Sagen Sie noch einmal, dass ich ein Monster bin?« Koketterie natürlich. Eifersucht womöglich?
Heute Abend ging ich in das Zimmer, das X. und H. teilen, und wir lasen dort ein Gedicht über die Mutter von Jean, die in seiner Abwesenheit starb.
Herr, werde ich mich nicht erheben? Werde ich stets auf mich selbst zurückfallen, auf die Seite, wo ich mein Herz zu stark pochen fühle, so stark, dass es mich betäubt? Werde ich mich nicht aufrichten, um ihm Raum zu geben, damit es sich entspannen kann? Reiche mir die Hand.
X. sagt zu mir: »Wahrscheinlich müssen Sie noch einmal durch das Chaos hindurch und die Ordnung wiederherstellen.«
Was meint er damit?
Mein einziger Sieg: dass ich in jeder Sekunde durchs Feuer gehe und mein Lächeln nicht verliere, dem nichts etwas anhaben kann.
Warum bin ich nicht längst geheilt? So oft schon litt ich die gleichen Qualen : Verletzung, Tod, Grablegung, Auferstehung. Wozu noch einmal diesen Trauerzyklus des Adonis durchlaufen? Bin ich nicht zur Genüge mein eigener Schatten geworden, mein eigenes Gespenst, mein Phantom ?
Die Hartnäckigkeit, mit der ich stets den Anschein erwecken will, auf die Welt und in der Welt auf Meinesgleichen einzugehen, bewegt mich. Kann ich glauben, dass ich noch so kühl dazu fähig sei, oder täusche ich mich? Längst habe ich die vorgesehenen Grenzen überschritten, und ich bewege mich in besonderen Zwischenräumen, zu denen die gewöhnlichen Lebenden keinen Zugang haben. Es wäre Poesie, würde es nicht etwas noch Selteneres sein.
Traue nicht mehr den Worten ; ihr Gewicht, ihre Schwerkraft hat nichts mehr zu tun mit der deiner Gefühle, die so luftig sind, so frei von Hemmnissen ; ihre Bedeutung hat nichts mehr zu tun mit deinem Denken. Entwirf eine neue Sprache, damit man dich nie ganz verstehe.
Der Kreis, in den du eingetreten bist, hat keinen Namen, den man kennt, aber wirst du deinem Abenteuer gewachsen sein?
Beim Abendessen beobachte ich meine Nachbarn und spüre, dass ich für einen Augenblick (wesenhaft) unsichtbar bin, oder verraten mich die Flammen, die mich umgeben? Wo bin ich? Die wissen es nicht, die meinen, ich sei hier, ganz und gar, voll und ganz, ich nähme teil.
Was für ein Abgrund zu allen Seiten von mir!
Die andere Welt bewacht mich, schließt mich aus, sondert mich ab. Wie viele Drachen, wie viele Cherubim muss meine Hand vertreiben, damit sie mein Glas oder mein Brot nehmen kann, und all das Unendliche, das ich in Bewegung setze, um es an meine Lippen zu führen. Eine riesige Anstrengung! Man erweckt, noch zu leben, nicht besser den Anschein, man ahmt alle Gesten der Lebenden, die mich nichts mehr angehen, nicht tragischer nach, man spricht all die Worte, die in beliebiger Lage erforderlich sind, nicht aufrichtiger aus, wenn ich jenseits des Todes, in der Unterwelt, wirklich nur noch etwas gemein habe mit der finsteren Bewegung der Schatten.
Brauche vielleicht sein Blut für einen bösen Zauber.
Der Ekel entsteht manchmal aus einem Übermaß an Begehren, der Tod aus einem Übermaß an Leben.
Oh, heilsame Hässlichkeit! Nicht die Schönheit spiegelte sich in meiner Seele, sondern ihr verunstaltetes Abbild, und ich besaß keinerlei Anmut mehr. Endlich bin ich ernüchtert. Ich sehe mich, wie ich bin, und ich sehe X., wie er ist.
Ich hatte mich verkannt, und bei solchen Dingen ist man gerettet, sobald man feststellt, dass man sich verkannt hat. Nur wer gesehen hat, wie man sich verkennt, verkennt einen. Dieser Irrtum ist eine Sünde. Dass man ihn die ganze Zeit nicht bemerkt, ist etwas anderes, das ist die Leidenschaft. Man liebt die Schönheit, wo sie nicht ist.
Sind wir zusammen? Ich sehe ihn nicht mehr. Gerade da wir uns trennen, finde ich ihn, entdecke ich ihn, ohne Maske, aber, mein Gott, wie herrlich war die Maske!
Ist es die Hässlichkeit, nein, die Schönheit ist es, die mich beschützt? Alles andere als sie lehne ich ab. Ohne sie fühlte ich mich dermaßen benachteiligt, dass ich die nötige innere Anstrengung aufbrachte, sogleich mein Reich zurückzuerlangen, welches das ihre ist.
Habe ich eine einzige Geste gezeigt, habe ich ein Wort gesagt, das mich vor mir selbst entehrt? Plötzlich umhüllte mich die Nacht, sie drang mir ins Mark, schläferte mich ein, begrub mich für immer in Vergessenheit, fern aller Herrlichkeit. Ich hätte vergeblich das Licht gesucht, für mich gab es keines mehr, nirgendwo.
Ich kämpfte gegen ein Meer und einen Himmel von Finsternis, und ich zerstreute mit meinen Händen die Hölle. Oh, Frieden ! Oh, mildes Licht ! Ich kenne nicht mehr den Schatten einer Wolke, weder Mitleid noch Tränen, und aus meiner Grausamkeit, meiner Härte, meiner Gewalt gegen mich selbst entsteht meine Sanftheit.
Sogar F., du, F., armer sechster Buchstabe des Alphabets, F., wer hätte gedacht, dass du an meiner Erlösung Anteil hattest! Dass die Vorsehung es nicht verschmäht hat, sich deiner zu bedienen als ihres Engels an meiner Seite, um mir zu Hilfe zu kommen!
Heute Abend zeigt mir F. schlicht und einfach M. und sagt :
»Sehen Sie nicht, wohin seine Neigung geht?«
Genau so, als hätte er einen Spiegel genommen, um mich mir selbst zu zeigen. So genau, dass ich mich frage, ob F. nicht das Spielzeug meiner Wahnvorstellungen war und Opfer der Täuschung des Himmels, der für F. all das auf M. projizierte, was sich in mir abspielte, denn es war keineswegs M., der diese Neigung hatte, sondern ich. Sofort begann ich, mich wieder aufzurichten.
Ich will solches Elend nicht mehr. Wie konnte ich es ertragen? Man lässt sich vom Nichts ablenken, man lässt sich vom Teufel etwas vormachen, und plötzlich erkennt man ihn an der Wegbiegung an seinem Lachen als das, was er ist; man begreift das Elend seines Gefährten. Ist es möglich, dass ich mich mit ihm...