Schweitzer Fachinformationen
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"Horch! Das Wild ist aufgescheucht!"
William Shakespeare
Die Fensterscheiben vibrierten. Fast unmerklich, sanft und beständig, aber das Rattern war, einmal wahrgenommen, nicht mehr zu ignorieren. Erst waren es die Frauen, die ihr gegenübersaßen, an denen sie Anstoß genommen hatte, aber nun, da diese aufgehört hatten, unerlässlich zu quatschen, musste Jean auf die Fensterscheibe starren, die das beständige Rütteln des Zuges erbarmungslos aufnahm.
Jeans Finger trommelten nervös auf der Ledertasche, die sie auf ihrem Schoß liegen hatte. Draußen rauschte die trübe Spätwinterlandschaft Südenglands an ihr vorbei. Sie hasste den März. Nach der durchaus besinnlichen und gemütlichen Weihnachtszeit, den zwölf Weihnachtstagen und zuletzt mehr oder weniger erholsamen zwei Wochen bei Tante Hattie in Llangollen, kam wie immer dieses lange Warten auf die ersten Boten des Frühjahrs - ein warmer Windhauch aus dem Osten, aufblühende Knospen und gelegentliches Zwitschern der zurückkehrenden Schwalben. Aber so war er, der März: unerbittlich, kalt und trostlos. So wie die gelben Felder, über denen noch nicht einmal eine zärtliche Schneedecke lag. Die großen, nassen Flocken weigerten sich beharrlich, auf den Wiesen und Wegen liegenzubleiben und verzogen sich in die Tiefen des kalten Matsches. Ihre Finger trommelten wieder.
Sie fragte sich, was sie in London erwarten würde. Vielleicht war ja diese Ungewissheit, so wurde ihr auf einmal klar, der Grund, dass sie alles und jeden momentan mit einem überkritischen Auge betrachtete. Als spürte die ihr direkt gegenübersitzende Frau, dass Jean gerade beschlossen hatte, ihre eigene Übellaunigkeit in Frage zu stellen, schaute sie sie an, um sie anzusprechen.
"Fahren Sie auch nach London?"
Jean schluckte die bissige Bemerkung, die sie auf den Lippen hatte, herunter. Sie war in Crewe zugestiegen, wo die beiden Schönheiten schon im Abteil gesessen hatten.
Aber sie nickte lächelnd. Wohin sollte man wohl sonst fahren in einem Zug nach London? Sie schaute die zwei jungen Dinger genauer an. Die erste war gekleidet wie so viele in dieser seltsamen Zeit: Hochfrisierte blonde Haare, einen Trenchcoat über einem Wollpullover, der ihre festen Brüste betonte, und der viel zu kurze Rock, der eine klare Botschaft an alle Männer aussandte. Jean bemerkte, wie sie ihre Lippen spitzte. Die junge Frau schien ihre Abneigung allerdings nicht zu spüren.
Die andere hatte zumindest keine in höhere Stockwerke toupierten Haare, sondern eine lange, dunkle Mähne, die von einem Pony in gerade Bahnen gelenkt wurde. Sie trug ein kariertes Hemd und einen beigefarbenen Rock, der diesen Namen allerdings nicht wirklich verdiente, da ihm die entsprechenden Längenzentimeter fehlten. Jeans Blick auf sich spürend, fühlte sie sich wohl bemüßigt, nochmals nachzuhaken.
"Wir fahren unseren Freunden hinterher, wissen Sie?"
"Ja, wir beide."
Jean nickte erneut. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber auch kein Wort zu viel reden, um das geschwätzige Pärchen nicht zu oberflächlicher Konversation zu ermutigen. Eine Ermutigung war allerdings auch gar nicht notwendig. Die Blonde, schon vorher Initiatorin der unsinnigen Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten gewesen, redete munter drauf los.
"Unsere Freunde spielen nämlich Fußball. Falls Sie wissen, was das ist."
Nun lachte Jean kurz auf. Und nun war es vorbei mit ihrem selbstauferlegten Schweigegelübde.
"Sie werden es mir nicht glauben, Liebste, aber in der Tat weiß ich, was Fußball ist." Die Blonde war überrascht. Sie berührte mit der linken Hand kurz ihre Haare, aber ganz vorsichtig, um das mit Spray zusammengehaltene Kunstwerk nicht zu zerstören. Sie schien nur kurzfristig beeindruckt zu sein.
"Ach, was Sie nicht sagen. Also, mein Freund, wissen Sie, der spielt nämlich in der ersten Liga. Ich will ja nicht unbedingt protzen, aber ich glaube, er ist richtig gut."
"Wie schön."
"Ja. Gordon ist einfach wunderbar. Samstag ist das Spiel."
"Sie kommen aus Liverpool?"
"Ja - am Samstag spielen wir gegen Arsenal, wissen Sie?", warf die Brünette ein, woraufhin die Blonde einen Gesang anstimmte: "Once and for Everton, once and for Everton ."
Diese Zurschaustellung stupider Fußballgeselligkeit ging Jean entschieden zu weit. Schnell warf sie eine Frage ein.
"Sie fahren nicht zusammen mit den beiden?"
Die Dunkelhaarige lächelte versonnen aus dem Fenster hinaus. "Aber nein. Die fahren natürlich mit der Mannschaft. Wobei die uns schon alle gerne dabei hätten." Dann fing sie an zu kichern, als ob ihre Andeutung ein gelungener Witz gewesen wäre. Ihre Freundin brach in schallendes Gelächter aus.
"Und nach dem Spiel geht es in den Marquee Club."
"Oh, Pat, das wird der Knaller."
Um das Gespräch möglichst schnell wieder zu beenden, zückte Jean den Brief, der sie in erster Linie dazu bewogen hatte, Tante Hattie den Rücken zu kehren und zurück nach London zu kommen. Sie öffnete den Umschlag mit dem königlichen Siegel und las noch einmal die Worte, unterschrieben von der Queen daselbst, die sie zu einem persönlichen Gespräch vorlud. Dies war einer der Gründe dafür, dass sie sich ganz formal in ihre Uniform gekleidet hatte. So bildete sie einen sichtbaren Kontrast zu den jungen Damen, die mit ihr im Abteil saßen. Vielleicht war das einer der Gründe, dass die beiden sie wie die Gattung einer seltsamen Tierspezies anschauten und hinter vorgehaltenen Händen flüsterten und kicherten. Es war Jean egal.
Sie schaute sich die Frauen an, die offensichtlich in vollkommener Zufriedenheit über die Umstände, die ihnen das Leben zugespielt hatte, lebten. Sie musste den Impuls unterdrücken, die beiden jungen Frauen mit Verachtung zu bedenken, denn schon immer war sie misstrauisch gegenüber Menschen, die, ohne nachzudenken, das Leben in vollem Maß genossen und nicht ahnten, dass ihre Jugend irgendeinmal verwelken musste.
Sie dachte an ihre eigene Jugend, die so vollkommen anders gewesen war. Keine aufreizende Kleidung und kein ausschweifendes, zügelloses Leben. Ein Flämmchen Wärme flackerte in ihr auf, als sie an den einen, seltsamen Mann dachte, den sie vor langer Zeit in ihr Herz geschlossen hatte: Moritz Fischer. Sie dachte an die Schiffspassage nach Uruguay, die ihr Leben so nachhaltig und tiefgreifend verändert hatte, und für einen kleinen Moment wurde ihr klar, dass ihre Verachtung eigentlich nur ein billiger Ausdruck ihrer eigenen Enttäuschung war. Bevor sie jedoch diesen Gedanken zulassen konnte, sagte die Frau, die ihr gegenübersaß: "Was?" Jean schreckte auf.
"Was?"
"Was? Sie schauen mich so an."
"Oh. Entschuldigung. Sie haben mich an eine Freundin erinnert." Jean sah die betörende Gestalt von Smeralda das Schiffsdeck herablaufen.
"Wirklich? Oh, na dann."
Sollte die Frau für einen kurzen Moment verunsichert gewesen sein, so schien sie sich schnell erholt zu haben. Dann fingen die beiden wieder an zu schwätzen. Es ging, soweit Jean das mitbekam, um Mode, um Tanzen und Musik. Aber sie hörte auch nur noch mit einem halben Ohr zu, denn einmal in Gang gebracht, folgte sie der ratternden Erinnerungsmaschine, die sie 36 Jahre in der Zeit zurückblicken und die Gestalten von Smeralda und Moritz vor ihrem geistigen Auge erscheinen ließ. Schwelgend wunderte sie sich, wie viel Zeit vergangen war, da die Erinnerung noch so frisch und unmittelbar wirkte. Das Schuldgefühl der Älteren, die die Chancen der Jugend ungenutzt haben verstreichen lassen, legte sich wie ein kaltnasser Film auf ihre Haut. Sie blickte hinaus und sah die veränderte Landschaft. Sie hatten Watford bereits hinter sich gelassen. Die ersten Vororte verunstalteten den Blick auf das feuchte Frühjahr.
Immerhin wurden Jeans Gedanken dadurch abgelenkt, dass der Schaffner dem Abteil noch einen Besuch abstattete und, wie zu erwarten war, die beiden Schönheiten mit aufreizenden Blicken bedachte. Während er die braunen Pappkarten mit seinem Stanzer entwertete, starrte er auf das lockende, helle Fleisch, das ihm in Form von langen Beinen und schlanken Armen entgegenblickte. Mit einem schmierigen Grinsen schob er sich seine Schirmmütze ein Stück nach hinten und verabschiedete sich mit "Die Damen", ohne dabei Jean eines Blickes zu würdigen. Es war offensichtlich, dass die beiden Angesprochenen die zur Schau gestellte Animalität des Mannes auch noch...
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