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Die Hallendecke senkte sich langsam. Unaufhörlich. Gleichmäßig. Sie kam geräuschlos herab, verschlang Zentimeter um Zentimeter der wolkenweißen Spanndecke, der spiegelnden Wandpaneele im Obergeschoss des Terminals, die Werbebilder für Trenchcoats, Parfüm und Versicherungsunternehmen, das silberne Geländer, sodann die Köpfe und Körper der im ersten Stock herumlaufenden Fluggäste. Die Decke krauchte tiefer und tiefer nach unten, stauchte die Halle auf die Höhe eines Schuhkartons zusammen, und Caren sah zu. Seit Monaten passierte ihr das. Zu Hause, im Hotel, im Zug, in der Redaktion, am Flughafen wie hier. Sie saß irgendwo oder lag auf ihrem Bett, dachte nach oder dachte an nichts, und auf einmal kam die Decke herab. Na gut, hatte sie sich in den ersten Wochen gesagt, steckte sie also in einer merkwürdigen Phase mit sinkenden Zimmer- und Hallendecken. Es würde vorübergehen. Sie versuchte es mit Meditation, schließlich sollte man - hatte sie anfangs gemeint - herabkommenden Decken etwas Sinnvolles entgegensetzen. Aber Caren gelang es nicht, sich auch nur zwei Minuten auf ihr Atmen zu konzentrieren. Die Gedanken trudelten sofort, mäanderten durch ihr Hirn, lenkten vom Luftholen und Luftlassen ab, forderten ihre Aufmerksamkeit. Und wenn sie die Augen schloss, sich das kinnlange, blonde Haar aus dem Gesicht strich und ans Atmen dachte, wenn sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wähnte sie zu hyperventilieren und lenkte sich flink mit dem Erstellen von Einkaufslisten, Staubsaugen, noch zu erledigenden Anrufen ab; Dingen, bei denen man vor sich hin atmen und die anstrengende Angelegenheit des Luftholens vergessen konnte.
Verwirrung, als es das erste Mal geschehen war: in Paris, auf ihrem Hotelbett, zehn Monate zuvor. Sie hatte gezwinkert, sich in den Arm gekniffen, hatte aufstehen, nach ihrem Handy greifen wollen, aber es war ihr nicht möglich gewesen. Sie war verunsichert, zugleich so gebannt gewesen, dass sie sich nicht hatte rühren, kaum atmen können. Natürlich, hatte sie in diesem Moment gedacht, natürlich hatte das mit Charlie zu tun, dem Anschlag, über den sie gerade berichtet hatte. Natürlich war das eine Reaktion, musste das eine hysterische Reaktion sein auf die Geschehnisse des siebten Januars, die sie aufgewühlt hatten - anders als jedes der Attentate, über die sie geschrieben hatte. In Paris, in der Métro, hatte Caren sich erstmals zwingen müssen, keine Angst zu haben, sich nicht umzusehen nach Gesichtern, die verdächtig aussahen (wie genau sähe so ein Gesicht aus?), nach Menschen, die große Taschen mit sich trugen, in denen sie vielleicht Bomben, Gewehre, Handgranaten und nicht einfach Akten oder die Wäsche aus der Reinigung transportierten. Vorher war es ihr nicht so gegangen. Nicht nach New York. Nicht nach Boston. Beide Male war sie mit dem Leben davongekommen. Unverletzt. Beide Male hatte sie nur durch glückliche Fügungen die Flugzeuge und Detonationen verpasst. Damals, an diesem Septembermorgen in New York. Dann, Jahre später, am Patriots' Day in Boston. Zufall, dass sie als Praktikantin bei WABC TV als Botin eingesprungen war, aus dem 110. Stock einen Umschlag zum Portier gebracht und danach, weil das Wetter so schön gewesen war, Bagels zum Frühstück für sich und ihre Kollegen geholt hatte, als das Flugzeug in den Nordturm gerast war. Fatum, dass sie mit den Freunden, die den Boston Marathon mitgelaufen waren, verabredet hatte, sie nicht an der Ziellinie, sondern ein paar Blocks weiter, fernab des Trubels zu treffen. So hatte sie es all die Jahre gesehen. Doch dann Paris. Keine unmittelbare Gefahr mehr für sie, kein Dabeisein, sondern ein normaler Arbeitsauftrag. Fang mal ein bisschen die Stimmung ein, erzähl, wie sich Paris gerade anfühlt. Auf dem Bürgersteig noch das Blut des ermordeten Polizisten. Ahmed Merabet. Caren war stehengeblieben und hatte den braunroten Fleck betrachtet. Die Bilder, die ein Zeuge versehentlich, wie er später behauptete, ins Internet gestellt hatte, so drastisch in ihrem Kopf, als sei sie dabei gewesen. Wie er verletzt daliegt. Um sein Leben bittet. Stirbt. Sie hatte ihn sterben sehen. Sie war dabei gewesen. Wieder einmal.
Der Moment der Ergebenheit. Als die Decke erstmals herabgesunken war, hatte sie auf ihrem Bett im Pavillon des lettres gelegen. Dem kleinen, windschiefen Hotel im Achten, in dem sie schon gewohnt hatte, als es noch L'Élysée geheißen und vergilbte Blümchentapeten hinter quietschenden Messingbetten geklebt hatten, in dem sie wohnte, seit ihre Familie nicht mehr in Paris lebte, und sie hatte gedacht: Wenn ich jetzt - jetzt also doch - sterben soll, ist dagegen wirklich nichts zu machen. Wenn es ein Kreislaufzusammenbruch, Herzinfarkt oder Schlaganfall ist, kündigt er sich immerhin friedlich an. Denn nach dem ersten Schrecken war nichts Bedrohliches an der herabkommenden Decke und dem schwindenden Raum gewesen. Was sie gefühlt hatte, war warm und sacht und so tröstlich gewesen, dass sie es regelrecht bedauert hatte, als es nach fünf oder fünfzehn Minuten - jegliches Zeitgefühl verloren - vorbei gewesen war. Die herabkommende Decke ein schützendes Plumeau, das sie und ihr Übrigsein behaglich zudeckte. Denn Caren war übrig. Schuldig. Unschuldig. Wer wusste das schon. Jedenfalls übrig. Ihre Familie und Freunde, überhaupt jeder, hatte von Glück und Schutzengeln gesprochen und allem, was man in Fällen wie diesem eben sagte. Kollegen hatten über sie schreiben wollen, sie in ihre Talkshows eingeladen. Caren hatte abgelehnt, obwohl sie als Journalistin durchaus die Geschichte sah und verstand, wie ungewöhnlich das alles war. Davonzukommen. Zweimal. Aber ihre war eine abwegige Geschichte, eine Version der Wirklichkeit, die Schweigen gebot, da sie dem, was den anderen und was tatsächlich passiert war, nie Rechnung tragen konnte. Sie war nur übrig. Das erste Mal als Einundzwanzigjährige. Und dann wieder, vor zwei Jahren erst, mit dreiunddreißig.
Bis zum siebten Januar in Paris hatte Caren es so nie betrachtet. Für sie waren es nichts als Zufälle gewesen. Doch mit Charlie traten Zweifel an die Stelle der Schicksalsergebenheit. Skrupel. Die Gewissheit, dass manches einfach geschah, löste sich in Luft auf. Sie konnte sich nicht erklären, warum ausgerechnet dieses Attentat, dem sie nicht ausgesetzt, dem sie nicht unmittelbar entronnen war, sie derart drangsalierte und dies neue, schonungslose Licht auf die Vergangenheit warf. Doch sie, die als Kind wegen ihrer Weichherzigkeit, ihrer Schwäche für Außenseiter und Schwächlinge unablässig als Butterbirne gehänselt worden war, die sich früh gepanzert und schließlich angeeignet hatte, zu sämtlichen Dingen des Lebens eine abwehrbereite, beobachtende Distanz zu wahren, fühlte sich mit einem Mal wie die einzige Überlebende eines Infernos, das niemand hätte überleben sollen. Überleben dürfen. Eigentlich.
Meist sank die Decke ihres Schlafzimmers herab. Es war quadratisch und hatte bodentiefe Fenster Richtung Süden, vor denen zwei Rotbuchen mit wächsern glänzenden Blättern standen. Wenn der Herbst kam, sich das kernige Grün färbte, die Sonne darauf schien, loderten die Bäume wie Feuer. Ein wärmendes, knisterndes Flammengeäst nur für sie, Caren, die es dann andächtig bestaunte und würdigte. Da sie die erste Etage eines kleinen Londoner Mietshauses in Brook Green bewohnte, eines, das ihr Freund Ben als biederen Zuckergusskarton bezeichnete, war das herbstliche Feuer im Garten genau genommen kein Schauspiel für sie allein, sondern auch für Mr Russell aus dem zweiten Stock und das Ehepaar Liman aus dem Parterre. Allerdings bezweifelte Caren, dass ihre Mitmieter ihre Vision vom Flammengeäst teilten. Sie waren umgänglich, pragmatisch, korrekt, Bankangestellter, Taxiunternehmer und Physiotherapeutin, mit Kehrdienst und Schornsteinfegen beschäftigt, nicht mit Naturphantastik. Sie leerten Carens Briefkasten, wenn sie verreiste, gossen ihre Pflanzen, eine Orchidee und zwei Grünlilien, und Caren revanchierte sich, selten, da die anderen längst nicht so viel unterwegs waren wie sie. Seit Jahren gab es im Sommer einen nachbarschaftlichen Grillabend bei den Limans, zu dem Laternen in die Äste der Rotbuchen gehängt wurden. Das legte nahe, dass die anderen Hausbewohner durchaus einen Bezug zu den Bäumen in ihrem Garten hatten, aber sicher keinen so innigen wie Caren, die mit ihnen sprach, mit ihnen die Jahreszeiten durchlebte und sich bereits beim Augustgrillen auf den Herbst freute, auf seine Farben und sein Feuer. Das Ende des Sommers rätselhaft, ein theatralischer Abschied auf Zeit. Der pensionierte Mr Liman bemerkte dazu im Vorjahr, er frage sich neuerdings, wie viele Sommer ihm und den anderen im Haus wohl noch blieben. Er äußerte das ohne Pathos und besonderen Anlass, zumindest wusste niemand um einen akuten oder aktuellen. Er sagte es vor sich hin, als...
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