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Am 15. Juli 1990 schlug ein tödliches Erdbeben zu. Es war das stärkste, das bisher in der philippinischen Geschichte registriert wurde. Vier Minuten lang tauchte es mit apokalyptischer Turbulenz Zentralluzon mit Manila in eine Welle der Panik. Weiter im Norden der Hauptstadt, wo das Epizentrum mit einer Intensität von mehr als acht auf der Richterskala gemessen wurde, veränderte sich die Landschaft, als Berghänge abstürzten und die Erde aufbrach.
Tranquilino Penoy, bei den Bewohnern von Ermita auch als Gagamba, die Spinne, bekannt, war einer von denen, die den Einsturz des Camarin an der M. H. del Pilar-Straße überlebten. Es war das einzige Gebäude in Manila, das komplett zerstört wurde. Es war Sonntag, und es hätte bestimmt mehr Opfer gegeben, wären die Büros auf den oberen Stockwerken besetzt gewesen. Vor dem renommierten Restaurant stand der Losverkäufer auf seinem Posten, als die Erde mittags, Schlag ein Uhr bebte. Er vertrat den Portier, der zum Mittagessen in die Küche gegangen war.
Das Beben kam mit einem leisen, kurzen Vorspiel: ein Zittern der Tische, ein Klirren von Geschirr in der Küche. Doch dann folgte ein massiver Ruck nach oben, der den Gehsteig und mit ihm Gagamba hochhob. Er wurde die Straße hinunter geschleudert, als hätte ihn ein Windstoß wie ein vertrocknetes Blatt gepackt und hochgewirbelt. Die Erde stöhnte, als plötzlich in der Mitte der Straße ein riesiger Spalt klaffte, der gräuliches Wasser zu speien begann. Gagamba drehte sich gerade rechtzeitig zum Gebäude, um es bersten zu sehen. Dann wichen Stein, Stahl und Glas kläglich vor dieser urzeitlichen Wut.
Das gleichzeitige Aufheulen der Motoren von tausend Lastwagen? Das Tosen riesiger Wellen? Das Toben der Brandung an der Küste? Das Heulen eines Taifuns? Für Gagamba war das alles derselbe unheimliche Lärm. Dann plötzlich brach der dumpfe Aufprall der Steine ab, und es kamen undurchdringliche Staubwolken aus dem zertrümmerten Gebäudeinnern. Eine Grabesstille trat ein, unterbrochen vom Schreien und Stöhnen der unter den Trümmern Begrabenen. Die Strommasten entlang der Straße schwankten noch einige Zeit, und die Leitungen surrten und knisterten mit bläulich aufblitzenden Flammen inmitten der Schreie von Leuten, die aus anderen vom Einsturz bedrohten Gebäuden stürzten.
Gagamba schob seinen Karren weg und schaffte eine größere Distanz zu den Ruinen des Camarin, das noch immer in Staubwolken gehüllt war, die sich allmählich zu setzen begannen. Was war das für eine Kraft, die die Erde auseinanderriss? Alles, was ihm auf diesem Gehsteig vertraut gewesen war - die Topfpalmen vor dem Restaurant, das Wachhäuschen aus Holz, war genauso verschwunden wie die großen, glänzenden Wagen, die vorher wie immer entlang des Gehsteigs geparkt waren.
Menschen drängten sich um ihn und fragten, wer im Camarin eingeschlossen und wie er entkommen sei. Der Wächter und die Fahrer, denen es gelungen war, dem Inferno zu entgehen, scharten sich ebenfalls um ihn, um zu hören, was er zu berichten hatte. Auf all ihre drängenden Fragen folgte allerdings nur ein langsames Schütteln des schwerfälligen, beinahe unbehaarten Hauptes. Es war Gottes Wille, davon war er überzeugt. In der Tat bewegt sich Gott auf seltsamen, unfassbaren Wegen, und er, die nichtsnutzige Kreatur, blieb verschont.
Schau ihn mal an, schau ihn mal an! Sieht er nicht einer zweibeinigen Spinne ähnlich mit diesem kugeligen Kopf, diesem gedrungenen Körper? Und diese langen Arme! Ach, die ihn so ansehen, wissen ja nicht, dass sie so kraftvoll sind, die einzigen Körperteile, die er mit Präzision und Kraft bewegen kann. Und was die Beine betrifft: Er war mit kurzen, schlaffen Gliedern geboren worden, nicht länger als einen Fuß lang, und sogar jetzt mit seinen 50 Jahren blieben sie so nutzlos wie eh und je. Als kleines Kind war er mit einem Stützapparat ausgestattet worden, und zwar auf Anraten des Kinderarztes vom öffentlichen Krankenhaus, in dem er von großer Neugier umgeben auf die Welt gekommen war. Vielleicht hatte der Doktor geglaubt, dass die unteren Gliedmaßen durch den Gebrauch wachsen würden, doch ihnen fehlten die Knochen. So musste er sich mit seinen Armen fortbewegen, die Hände versehen mit kleinen Holzschuhen, und seinen sonst normalen Körper nachziehen. Sein Vater hatte den Knaben in eine Holzkiste mit kleinen Rädern auf der Unterseite gesteckt. Der Junge lernte mit vollendetem Geschick zu navigieren. Er konnte Kehren und Schleifen fahren, ja sogar Purzelbäume damit schlagen. Und einmal, nachdem er einen Taschendieb auf der Straße verfolgt hatte, stellte er den von der ungeheuren Kraft dieser halben Portion überraschten Gauner und nagelte ihn auf dem Asphalt fest.
Sein Kopf, auf dem schon im Knabenalter nur spärlich Haar wuchs, war ungewöhnlich breit. Seine Augen traten aus dem Gesicht, als wäre er ständig ängstlich oder überrascht, und es schien, dass er weder zwinkerte noch seine Augen schloss. Abgesehen von diesen Missbildungen sah er ganz normal aus. Seine Nase war gerade, seine Lippen eher dünn, und seine dunkle Haut strahlte Gesundheit aus, denn Gagamba, der Spinnenmann, aß gut.
Didi Gamboa, die erste Inhaberin des Camarin, würde ihm nicht erlaubt haben, sich so lange am Eingang aufzuhalten, um seine Lotterielose anzubieten, wenn er nicht gewusst hätte, sich nützlich zu machen. Er war ein guter Aufpasser auf die geparkten Autos, außerdem ein willkommener Ersatzmann, wenn der Portier gerade für einen Stammgast des Camarin Besorgungen zu erledigen hatte oder in der Küche seine Mahlzeit einnahm. Viele Stammgäste des Camarin machten es sich zur Gewohnheit, ihre Lose bei ihm zu kaufen. Insgeheim glaubten sie, die Lose von einem Krüppel seien sicherlich mit etwas mehr Glück versehen als solche von normalen Verkäufern. Gagamba wollte nicht als Bettler bezeichnet werden. Nie hatte er eine Hand nach Almosen ausgestreckt und nie hatte er von den Kunden mehr als den Preis der Lose verlangt. Aber wenn ihm jemand eine zusätzliche Zehn-Peso-Note zusteckte, akzeptierte er es höflich und mit einem feierlichen: »Möge Gott Ihnen Glück und Gesundheit bescheren!« Draußen vor dem Restaurant ertrug er die Hitze und den Regen und verdiente dabei mehr als irgendeiner der Kellner. Der Portier bestätigte dies. Einmal versuchte er, nur die Trinkgelder zu errechnen, die Gagamba zugesteckt wurden. Der Spinnenmann verdiente mehr als 200 Pesos. Und was war mit den Geldern, die er nicht gesehen hatte?
»Gagamba ist reich. Er hat mehr Geld als irgendeiner von uns«, sagte er den Kellnern.
Obwohl sie nicht genau wussten, wo er wohnte, nahmen sie an, sein Haus in San Andres unterscheide sich wesentlich von ihren eigenen in den Elendsquartieren. Eines Nachts gegen elf Uhr, als das Camarin keine Gäste mehr hatte, sah der Portier, wie sich Gagamba am Boulevard selbst in einen Jeep hievte. An fast derselben Stelle stieg er täglich um zehn Uhr morgens aus. Einmal fragte ihn der Kellner, der Andres Bonifacio ähnlich sah, warum er sich in seinem Mercedes Benz nicht zum Eingang des Camarin bringen lasse, worauf er vergnügt erwiderte: »Und wer würde dann meine Lose kaufen?«
Gagamba war wirklich intelligent. Mit einer seriösen Ausbildung hätte er bestimmt eine brillante Karriere machen können. Er war der klügste von Aling Pacings zwölf Kindern. Der Schwachkopf eines Gatten der Gemüsehändlerin war schon tot. Eines Tages war er wie gewöhnlich betrunken gewesen und in einen der tiefen Kanäle des Viertels gefallen und ertrunken. Aling Pacing musste danach die große Familie unterhalten, und alle Kinder beendeten ihre Schulzeit nach der Grundschule, um zu arbeiten. Obwohl seine Missgestalt Gagamba vom Schulbesuch abhielt, hinderte ihn das nicht daran, die Bücher seiner Geschwister immer und immer wieder durchzulesen. Es wurde erzählt, dass Aling Pacing schon ein paar Wochen mit Gagamba schwanger war, als sie von einer riesigen Spinne fixiert wurde. Die Spinne hatte ihr Netz in dem
Palmblattgiebel des kleinen Hauses in San Andres gebaut, in dem die Familie lebte, als der Ort ein noch immer übel riechendes, mit Kangkong überwuchertes Stück Land war, das fast vollständig brachlag, nachdem die meisten anderen Besitzer ihre Rechte einem Grundstücksmakler abgetreten hatten. Aling Pacing hatte die kleine Familienparzelle jedoch nicht einfach aufgegeben.
Gagambas ungewöhnlich breiter Kopf war nicht mit Flüssigkeit gefüllt, was sonst bei abnormal großen Köpfen oft vermutet wird. Neben seiner Intelligenz besaß Gagamba auch ein hervorragendes Gedächtnis für Gesichter, Daten, Ereignisse. Ein phantastisches Gedächtnis, das nie gefordert wurde, außer wenn er Lotterielosnummern herunterrasselte oder sich an Nummernschilder erinnern musste, die übrigens genau in seiner Augenhöhe angebracht waren. Er las alle Zeitungen vom Kiosk an der Straße weiter unten und wusste sehr viel über die bedeutenden Leute, über deren Leben berichtet wurde. Er konnte sich daran erinnern, wer sie waren und wie ihre Beziehungen während der letzten 30 Jahre verliefen. Für ihn waren sie Männer von Rang und Würde, weil er sie ja ins privilegierte Heiligtum des Camarin hatte eintreten sehen. Ihre Augen, das wusste Gagamba, verrieten mehr als die Zeitungen, weil es für Augen schwierig ist zu lügen: Augen mit Begierde, Boshaftigkeit und Hass, Augen, die verführen, Augen, die töten.
Er hatte auch sich selbst betrachtet: den aufgedunsenen Kopf, den kurzen dicken Nacken und die Augen. Warum waren sie ohne Augenbrauen? Ein weiterer Schlag des Schicksals, der Gene oder was auch...
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