1. KAPITEL
Eine Dame wählt ihren Gemahl nur selten selbst aus, ihre Freundinnen jedoch durchaus. Ist es da verwunderlich, dass sie die Gesellschaft ihrer Freundinnen bevorzugt?
(Gertrude, Countess of Chatham)
Grosvenor Square
London, England
Gertrude ließ das Skandalblatt mit einem zufriedenen Seufzer sinken. Sie war sich bewusst, dass sie diese elende Zeitung zum ersten Mal nicht mit der sonst üblichen Verachtung zur Hand genommen hatte. Sie hasste diese Skandalblätter wegen des Schadens, den sie anrichten konnten - und anrichteten - aber dieses hier erwies sich als äußerst erfreulich. Nicht das gewöhnliche Gewäsch, so viel stand fest.
Gutes kam auf Delia zu, und das war das erste Anzeichen dafür. Sie würde eine Auswahl an Verehrern haben. Selbst über ihr Geschick bestimmen können. Das alles hatte sich Tru fest für ihre Tochter vorgenommen. Sie griff nach ihrer Teetasse.
"Sie wirken sehr zufrieden mit sich", sagte Hilda, während sie im Schlafzimmer herumhuschte, aufräumte und Trus Sachen für den heutigen Tag zusammensuchte.
"Oh, das bin ich auch."
"Und das hat damit zu tun?" Hilda zeigte mit skeptischer Miene auf die abgelegte Zeitung.
"In der Tat. Delia wurde heute äußerst lobend in der Tittle Tattle erwähnt." Chatham selbst war wenig schmeichelhaft davongekommen, ganz im Gegensatz zu Delia. Und das war alles, was zählte.
"Ach ja?" Ihre Zofe zog die Augenbrauen hoch und drapierte vorsichtig Trus frisch gebügeltes Kleid auf der Chaiselongue. "Dann wird Lady Delia gewiss erfreut sein."
Tru nickte und lächelte ein wenig unsicher. Sie hoffte es jedenfalls. Große Dinge standen bevor. Dinge, die ihre Tochter wegen ihrer Jugend und Unerfahrenheit noch nicht zu schätzen wusste, Tru jedoch sehr wohl.
Hilda neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. "Was meinen Sie, Mylady? Ihre Perlen? Oder doch vielleicht die Saphirbrosche?"
Tru betrachtete das sonnengelbe Kleid, das sie an diesem Tag tragen wollte. "Saphire passen besser zum Frühling, finde ich."
Ihre Zofe nickte zustimmend und war ihr beim Anziehen behilflich, wobei sie ihr das Korsett ganz fest schnürte. Tru sah in den hohen Standspiegel. Hilda würde eine ganze Weile brauchen, um die widerspenstige Lockenmähne in eine annehmbare Frisur zu verwandeln.
Die Leute sagten immer nur, das Leben wäre kurz, aber es konnte unendlich lang sein, wenn man unglücklich war - unglücklich verheiratet. Dann zogen sich die Tage schleppend dahin, wochenlang, monatelang, jahrelang, ohne Gnade. Das würde Delia erspart bleiben.
Doch obwohl Tru diese Vorstellung gefiel, so durchzuckte sie auch ein leichtes Gefühl der Sorge dabei. Ein kleiner, dunkler Verdacht, den man für eine Vorahnung hätte halten können, wenn sie an einen solchen Unsinn geglaubt hätte, was sie definitiv nicht tat.
Schließlich war jeder seines Glückes Schmied. Sie würde dafür sorgen, dass ihre Tochter jede Chance darauf erhielt.
Jasper Thorne las die Zeitung und dann gleich noch ein zweites Mal, ehe er sie auf seine Brust sinken ließ. Er lag noch im Bett; sein Diener hatte ihm ein Tablett mit einer dampfenden Tasse Kaffee auf seinen Nachttisch gestellt und ihm einen guten Morgen gewünscht. Von Ferne hörte er, dass sich auch die anderen Bediensteten rührten.
Normalerweise hatte er keine Vorliebe für solche Skandalblätter, aber mitunter nahm das Leben eine Wende, die sogar ihn überraschte. Und so kam es, dass er nicht nur einen Diener hatte, sondern auch die Gesellschaftsseiten der Klatschblättchen las, als wäre er ein blaublütiger Gentleman, der sich für Derartiges interessierte. Andererseits - wie sonst hätte er etwas über die Welt lernen sollen, in die er einzutauchen gedachte?
Die Schöne der Saison ist eingetroffen.
"Lady Cordelia Chatham", murmelte er, den Klang ihres Namens kostend.
Lady Cordelia.
Sie hörte sich genau wie das an, was er suchte - wie die, nach der er suchte. Zufrieden schnippte er mit dem Finger gegen die Zeitung. Diejenigen, die sich eine adelige Braut von bester Abstammung wünschen, brauchen nicht länger Ausschau zu halten. Tatsächlich.
Der Earl of Chatham fuhr senkrecht in seinem Bett hoch und packte fluchend die Zeitung fester. Er las erneut und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.
Lady Cordelia Chatham. Seine Tochter. Wie alt war das Mädchen inzwischen? Fieberhaft rechnete er nach. Das Kind - feierte sein Debüt.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal gesehen hatte. Ganz sicher hatte er nicht mehr an sie gedacht, seit . Wenn überhaupt jemals. Nicht mehr seit dem Tag ihrer Geburt, als die Hebamme ihm mitgeteilt hatte, er hätte eine Tochter bekommen. Ein Mädchen. Ein nutzloses Mädchen. Keinen Sohn.
Er sah wieder auf die Zeitung. Vielleicht doch nicht ganz so nutzlos.
In seinen Gedanken trug sie immer noch Zöpfe und verbrachte die Tage im Kinderzimmer, beschäftigt mit Dingen, die weibliche Kinder eben so taten. Irgendwie hatte sie das jedoch wohl hinter sich gelassen. Sie war jetzt erwachsen, und seine Frau hatte es versäumt, ihn darüber in Kenntnis zu setzen. Natürlich. Gertie war eine eingebildete Ziege, die keine Lust hatte, irgendetwas zu tun, das ihn zufrieden machte.
Die Frau neben ihm regte sich im Schlaf, ohne aufzuwachen. Mit geschlossenen Augen griff sie nach der Bettdecke und zog sie sich über die nackte Hüfte.
Seit dem Tag, an dem er Gertie geheiratet hatte, war sie eine einzige Enttäuschung für ihn gewesen, sein Ehejoch, das Einzige, das er in seinem Leben bereut hatte, doch es gab kein Entkommen. Leider war seine Frau gesund und munter und würde ihn wahrscheinlich überleben. Er war an sie gekettet. "Dumme Kuh."
Seine Bettgefährtin erschrak beim Klang seiner Stimme. Sie hob stöhnend den Kopf und murmelte: "Was ist los?"
"Nichts, worüber du dir Gedanken machen müsstest. Schlaf weiter."
"Dann rede gefälligst nicht, ja?"
Er starrte das Prachtstück an, das neben ihm lag. Sie war ein kleiner Frechdachs, aber er hatte so lange um sie geworben, bis er sie endlich für sich gewonnen hatte, dass er ihr ihre Dreistigkeit nicht übel nahm. Er würde ihr freches Mundwerk gern in Kauf nehmen, solange ihm dafür ihr Mund zur Verfügung stand, wann und wo auch immer er wollte. "Es geht um meine Tochter", brummte er.
Fatima schlug verschlafen ein Auge auf. "Deine Tochter? Ich wusste gar nicht, dass du eine hast."
"Offenbar feiert sie ihr Debüt, und das ist mir entgangen."
"Wie kommt das?" Fatima stützte sich auf einen Ellenbogen und sah in ihrer Verschlafenheit entzückend aus, als sie blinzelnd auf die Zeitung in seiner Hand schielte.
"Meine Frau hat es versäumt, mich darüber zu informieren."
"Deine Frau? So etwas hast du also auch?"
"Natürlich", schnaubte er.
"Ihr wohnt aber nicht zusammen."
"So ist es." Er war kurz nach der Hochzeit bei ihr ausgezogen. Vor einer Ewigkeit.
"Warum sollte sie dich dann darüber informieren?"
Er sah sie mit finsterer Miene an. "Bist du etwa auf ihrer Seite? Die feine Gesellschaft mag die Countess of Chatham ja bewundern, aber ich weiß, dass sie in Wirklichkeit eine ."
"Ach, die Countess . ja! Ich habe einen Brief von ihr auf dem Schreibtisch in deinem Arbeitszimmer gesehen."
"Tatsächlich? Wann ist er denn gekommen?"
Sie zuckte mit einer ihrer reizenden Schultern. "Ich weiß es nicht. Vor ein paar Wochen."
"Vor ein paar Wochen? Warum hast du mir nichts davon gesagt, du dummes Mädchen?"
Jetzt verdüsterte sich ihr Gesichtsausdruck. "Ich bin nicht deine Sekretärin. Er liegt auf deinem Schreibtisch, zusammen mit deiner übrigen Korrespondenz. Es ist nicht meine Schuld, wenn du sie einfach ignorierst. Der Brief liegt dort, zusammen mit all den anderen Briefen, die du nicht beachtet hast."
Er presste die Lippen aufeinander. Auf seinem Schreibtisch. Ungeöffnet wie die zahllosen anderen Schreiben von den vornehmsten Händlern in London. Vom Tuchhändler. Vom Herrenausstatter. Von seinem Club. Lästig, alle miteinander. Verfluchte Nervensägen, die es wagten, ihn zu belästigen, als wäre er ein Niemand und nicht ein angesehener Earl.
Wahrscheinlich hatte er den Brief ja doch gesehen und ihn bewusst ignoriert. Einen Brief von seiner Frau hatte er sicher als störend empfunden, ähnlich wie eine Rechnung. Dann hatte er ihn zur Seite geschoben und vergessen.
Das spielte jetzt keine Rolle mehr. Jetzt wusste er Bescheid. Jetzt konnte er die Kontrolle übernehmen.
Seine Tochter war im heiratsfähigen Alter. Plötzlich war sie ein Objekt der Begierde. Und das gedachte er voll und ganz auszunutzen.
Die Duchess of Dedham stieß beim Frühstück einen Freudenschrei aus und sprang auf. Der Lakai, der an der Tür zum Esszimmer eingedöst war, wachte erschrocken auf. "Stimmt etwas nicht, Euer Gnaden?"
Valencia zerknüllte die Zeitung...