Jack Jordan
Die Herzchirurgin
Aus dem Englischen
von Sigrun Zühlke
Über dieses Buch: Anna Jones ist eine erfolgreiche Herzchirurgin und seit Kurzem alleinerziehende Mutter. Sie steht also unter Dauerstress, und die Aussicht, in zwei Tagen dem bekannten und beliebten Politiker Ahmed Shabir, der als der nächste Premierminister gehandelt wird, einen mehrfachen Bypass zu setzen, trägt das ihre dazu bei. Trotzdem ist Anna zuversichtlich, was die Operation angeht - bis sie abends nach Hause kommt und dort anstatt ihrer Nachbarin, die als Babysitterin aushilft, und ihres Sohnes Zack einen Haufen sehr zwielichtiger Typen vorfindet, die sich in ihrem neuen Haus zu schaffen machen. Ehe sie sich von ihrem Schreck erholt hat, erklärt einer der Männer ihr ganz ruhig, dass ihre Nachbarin tot sei und sie ihren Sohn entführt hätten. Ihr Haus, ihr Telefon, ihr Auto und überhaupt ihr ganzes Leben werde von nun an streng überwacht - und ihre einzige Chance, Zack lebend wiederzubekommen, bestünde darin, dafür zu sorgen, dass Shabir die Operation nicht überlebt. Sollte sie irgendjemanden ins Vertrauen ziehen, würde der Junge sofort getötet und sie bei nächster Gelegenheit ebenfalls.
Als Anna wieder halbwegs klar denken kann, beginnt das Ringen. Sie setzt dem Primum non nocere des hippokratischen Eides - dem Schwur, zuallererst keinen Schaden am Patienten anzurichten - in ihrer Verzweiflung das Triage-Prinzip entgegen - wenn von zwei Patienten nur einer gerettet werden kann und man als Arzt entscheiden muss, wer die besseren Lebenserwartungen hat. Wie wird sie sich entscheiden?
TEIL 1 1
Anna Donnerstag, 4. April 2019, 16:32 Uhr An meinem Hals ist Blut.
Nur ein einziger Tropfen, kaum größer als eine Sommersprosse. Ein geradezu winziges Detail, wenn man die gesamte Szene betrachtet. Vor mir liegt ein aufgeschnittener Mann mit blank liegenden Knochen, die schwarzen, teerbefleckten Lungenflügel auseinandergedrückt, um das Herz freizulegen. Und dennoch, trotz dieses dramatischen Anblicks, drehen sich meine Gedanken um diesen kleinen Spritzer, der sich in meine Haut brennt.
Ich nehme das Skalpell von der linken Hand in die rechte und rolle mein Handgelenk, bis ich das befriedigende Knacken unter der Haut spüre.
Alle Augen sind auf mich gerichtet, schätzen die Ruhe meiner Hand im grellen Licht der OP-Leuchten ab. Auch unter ihren prüfenden Blicken bleiben meine Handflächen trocken und mein Griff ruhig und sicher. Doch unter meiner OP-Kluft schlägt mein Herz so heftig, dass ich es beinahe schmecken kann.
Peters Downings Herz hingegen liegt regungslos da.
Sein doppelter koronarer Bypass hatte vollkommen unkompliziert verlaufen sollen, bis es plötzlich anders kam. Nachdem ich mir den Weg durch seinen Brustkorb geschnitten und gesägt hatte, hatte ich versucht, aus einem Stück seiner Beinvene eine Umleitung für den blockierten Abschnitt der Aorta zu bauen, um wieder einen freien Blutzufluss zum Herzen zu ermöglichen. Als ich die Aortenklemme entfernte, um den Blutfluss wieder in Gang zu bringen, und die kaliumgesättigte Lösung wegspülte, die Peters Herz stillgelegt hatte, hätte es eigentlich aus seinem medizinisch induzierten Schlummer erwachen sollen.
Ich starre in seinen klaffenden Brustkorb und warte auf ein Zucken, eine Kontraktion, den ersten, lebensrettenden Ruck.
Nichts.
»Lunge aus, bitte.«
»Lunge aus«, wiederholt Dr. Burke.
»Zurück auf Maschine.«
»Zurück auf Maschine«, ruft Karin von der Perfusionsstation zurück.
Ich reiche meiner Assistentin das Skalpell und warte in der ohrenbetäubenden Stille. Als die Herz-Lungen-Maschine die Aufgabe des Herzens wieder übernommen hat, spüre ich, wie die Anspannung im Raum sich löst wie ein heißer, abgestandener Seufzer.
»Geben wir ihm noch eine Minute«, sage ich und klemme die Aorta erneut ab. »Das arme Ding ist wahrscheinlich vollkommen fertig.«
»Sind wir das nicht alle?«, witzelt Dr. Burke mit einem aufmunternden Zwinkern über seine Brille hinweg.
Eine mitfühlende Geste, aber wir wissen beide, dass ich hier auf mich allein gestellt bin. Bis zu diesem Punkt ist jede Operation ein Gemeinschaftswerk: Dr. Burke kümmert sich um die Medikation, die Beatmung und die Überwachung der Parameter; Karin kontrolliert die Herz-Lungen-Maschine, der Arzt am Fuß des Tisches entnimmt das Stück Beinvene für die Transplantation. Jeder Spezialist hat seine eigene Assistenz. Neben mir steht Margot, die mir Besteck und Tupfer anreicht. Aber wenn es ums Herz geht, liegt die Verantwortung allein bei mir.
Eine Hitzewelle versengt mir den Rücken, kribbelt mir über die Schulterblätter.
Konzentrier dich.
Ich mustere die Brusthöhle. Der Bypass ist gut gelungen, die Transplantate sind sauber gesetzt, mit luftdichten Verbindungen. Wir haben dem Herz Zeit gegeben, sich zu erholen, haben einen Medikamentencocktail verabreicht, um die elektrische Aktivität zu stimulieren, und haben auf metabolische Abweichungen von der Norm oder andere Probleme getestet, die wir eventuell übersehen haben könnten. Ich habe mein Werk wieder und wieder gecheckt und noch einmal versäubert, in der Hoffnung, auf einen Fehler zu stoßen, den ich beheben kann. Nichts hat funktioniert.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Wir nähern uns rasch dem Ende des Vierstundenfensters, das wir haben, bevor das Herz unwiederbringlich Schaden nimmt. Sobald das verstrichen ist, wird jede weitere Sekunde zu einem Nagel am Sarg unseres Patienten.
Auf meiner Oberlippe kribbelt der Schweiß. Ich muss an den Rat denken, den mir mein Mentor einst gegeben hat:
Zeige niemals, dass du nervös bist. Wenn du in Panik gerätst, geraten sie ebenfalls in Panik. Du kannst ein Schiff nicht in den Hafen bringen, wenn die Mannschaft über Bord gesprungen ist.
Ich greife in die Brusthöhle und umschließe das Herz des Patienten mit der Hand, drücke es ein paarmal leicht zusammen und lasse wieder los, in dem Rhythmus, in dem es so lange geschlagen hat. Dann entlasse ich es sanft aus meinem Griff. Das Fleisch ist da, wo ich es berührt habe, rosig geworden und sieht beinahe hübsch aus, wie eine von der Kälte gerötete Wange.
»Versuchen wir es noch ein letztes Mal«, sage ich.
Langsam löse ich die Aortenklemme, verlängere das Leben des Patienten, so lange ich kann. Das Blut strömt in das Herz.
Nichts geschieht.
Wieder drücke ich das Herz, doch auch nachdem das Kalium ausgespült ist, fühlt es sich seltsam kalt an, feucht und glitschig.
Komm schon, Peter.
Meine Schultern verspannen sich, als ich mich über den Tisch beuge und meine ganze Kraft in die Bewegung lege, mit der ich das Herz massiere. Schweiß sammelt sich auf meinem Gesicht. Margot tupft jeden Tropfen schweigend ab.
Ich weiß nicht genau, wie viel Zeit vergangen ist - eine Minute, zehn -, doch als ich von der Brusthöhle aufblicke, am ganzen Körper schwitzend und hinter meiner Maske schwer atmend, wird mir klar, dass das gesamte Team mich mitfühlend ansieht. Da trifft es mich mit voller Wucht.
Dieses Herz wird nie wieder schlagen.
Stressschmerzen pulsieren hinter meinen Augen; die verspannten Muskeln in meinen Schultern krampfen. Ich blicke auf meine Hände hinunter, die von der Anstrengung schmerzen und zittern, und erlaube mir einen winzigen Seufzer.
»Herz aus, bitte.«
Karin nickt und wendet den Blick ab. Ein Mensch wird heute sterben, und wir werden seinen Tod orchestrieren. Ich mit dieser Anweisung. Sie, indem sie den Schalter umlegt.
»Herz aus«, bestätigt sie.
»Lunge aus, bitte.«
»Lunge aus«, antwortet Dr. Burke.
Und dann warten wir.
Die Herz-Lungen-Maschine kommt zum Stillstand. Die Schläuche leeren sich, während das Blut in das Kreislaufsystem des Patienten zurückfließt. Und dann das Unvermeidliche: die flache Linie eines reglosen Herzens auf dem EKG-Monitor. Das Schrillen des EKG-Alarms gellt durch uns alle hindurch, füllt den OP-Saal, hallt von den Apparaten wider, von den gefliesten Wänden und jeder Edelstahlfläche.
Ich sehe auf die Uhr.
»Zeitpunkt des Todes: 16 Uhr 53.«
2
Anna Donnerstag, 4. April 2019, 17:10 Uhr »Mein herzliches Beileid.«
Ein schwächerer Chirurg hätte in diesem Moment vielleicht auf seine Schuhe hinuntergeblickt. Zu sehr auf sich selbst bedacht, um den Blick der Angehörigen des verstorbenen Patienten auszuhalten, in dem Moment, wo ihnen das Herz bricht. Aber ich sehe Mrs Downing in die Augen und werde Zeugin von allem: des beinahe tonlosen, erschrockenen Luftholens, als der Schlag sie trifft, der Tränen, die in ihren Augen glänzen und dann überquellen. Neben mir tritt Schwester Val aus der Kardiologie nervös von einem Fuß auf den anderen.
Ich habe Mrs Downing beim Erstgespräch mit ihrem Mann kennengelernt und gesehen, wie sie mein Büro mit hoffnungsvoll federnden Schritten verließ. Es war ein Routineeingriff mit sehr geringem Risiko. Mein Ruf und meine Erfahrung halfen ihr, nachts in den Schlaf zu finden, und sie waren es auch, die ihren Ehemann dazu brachten, die Einverständniserklärung zu unterschreiben. Bald,...