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Eines Tages rief mich eine ältere Gesangslehrerin aus Zürich, eine Frau Gerhard, an. Mit etwas gebrechlicher Stimme ließ sie mich wissen, dass sie für ihre Gesangsschüler für einige Stunden einen Begleiter bräuchte, es gäbe auch ein wenig Geld dafür. Obwohl ich zu dieser Zeit eigentlich mein Diplom vorbereiten musste, sagte ich zu. Frau Gerhard wurde zu meinem Schutzengel, weil sie immer wieder darauf bestand, ich müsse dirigieren. Auf ihre Anregung hin schrieb ich an alle in Frage kommenden Agenturen. Die meisten antworteten natürlich nicht, doch dann kam eine Nachricht von einer Stuttgarter Agentur, sie hätten meine Bewerbung an das Stadttheater Ulm weitergeleitet, wo auch Karajan begonnen hatte, und das Vorspiel sei nächste Woche. Das war natürlich eine tolle Sache. Ich war erst neunzehn und kam bei diesem Vorspiel auch gut an. Da ich aber schon als Korrepetitor für den Ring in Paris zugesagt hatte, stand ich allerdings für den Beginn der kommenden Saison nicht zur Verfügung. Daher wurde die Entscheidung vertagt, ich musste noch einmal mit konkreten schweren Opernszenen kommen und auch mit Sängern arbeiten. Ich übte bis dahin fleißig und wurde so tatsächlich ab Herbst 1994 Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung am Stadttheater Ulm.
Wegen meiner Verpflichtung in Paris konnte ich weder die Eröffnungspremiere vom Rosenkavalier noch Wiener Blut korrepetieren, und so war Funny Girl mein erstes Stück - ausgerechnet ein Musical! Aber beim Üben bemerkte ich, wie viel Spaß mir diese Musik machte. Außerdem ist man gleich mit allen Abteilungen des Theaters beschäftigt: mit Sängern, Schauspielern und dem Ballett. Das Schöne im deutschen Stadttheater ist, dass man irgendwann immer seine Chance bekommt. Nach zwei Monaten übernahm ich zwei Vorstellungen als Dirigent. Es gibt das ungeschriebene Gesetz an deutschen Bühnen, dass man auf jeden Fall eine zweite Vorstellung bekommt, um sich zu verbessern, denn beim ersten Mal kann ja immer etwas schiefgehen. Sollte auch die zweite Vorstellung nicht wunschgemäß klappen, bleibt man am Klavier. Das war natürlich alles sehr aufregend, ich durfte Bühnenproben und eine Bühnenorchesterprobe leiten und das erste Mal ein professionelles Orchester dirigieren.
Mein Vater half mir damals sehr, denn er hatte mich als Korrepetitor zwar sehr gelobt, aber an meinen Dirigierfähigkeiten hatte er noch große Zweifel. Die Grundlagen hatte ich zwar im Fach Orchesterdirigieren am Konservatorium gelernt und auch in der Dirigentenklasse hatte ich Klavier gespielt und zugeschaut, aber das war keine wirkliche Ausbildung. Mein Vater kam eine Woche vor meinem Debüt nach Ulm und ließ mich das Stück durchschlagen. Danach fragte er mich etwas verblüfft, wo ich denn das gelernt hätte. Er gab mir noch ein paar Ratschläge und kam auch zur ersten Vorstellung. Ich war hochgradig nervös, aber der Vorteil beim Musical ist, dass im Orchester der Drummer immer das Tempo hält. Egal was schiefgeht, man hat etwas, woran man sich festhalten kann. In der ersten Vorstellung passierte es dann auch nach 25 Minuten: ein Kapitalschmiss. Der Posaunist hatte mich nicht verstanden und nicht eingesetzt. Ich dachte, jetzt ist es aus, aber ich machte weiter. Später lernt man, dass es in einer solchen Situation meistens nicht aus ist, denn auch bei den Größten kann immer etwas schiefgehen. In der Pause waren alle sehr positiv, fanden den Schmiss nicht weiter schlimm, sondern hatten bemerkt, dass da ein Zwanzigjähriger mit den Sängern atmet, Freude an der Musik hat und diese auch weitergibt. Die zweite Vorstellung lief dann einwandfrei - ganz ohne Schmiss. Danach bekam ich von der zweiten Kapellmeisterin, die sich bereits bei meinem Vorspiel in Ulm für mich eingesetzt hatte, gleich die nächste Chance. Julia Jones dirigierte Wiener Blut, eine Operette, in der zwar alle Melodien von Strauß sind, aber das Stück als Ganzes stammt nicht von Strauß. Sie war der Meinung, ich sollte auch ein paar Vorstellungen übernehmen. Alle sagten, das sei schwerer zu dirigieren als Die Fledermaus, denn die Übergänge sind sehr oft ungeschickt geschrieben. Ich hatte auch großen Respekt davor, denn immerhin war es, wie mein Vater mir erzählte, Kleibers großes Erfolgsstück in Zürich, aber ich hatte große Lust auf diese Musik - allein schon wegen des Kaiserwalzers, der als Balletteinlage eingefügt war. Über die Weihnachtstage lernte ich fleißig. Die Ulmer spielten zwar viel Operette, aber einen Wienerischen »Nachschlag« musste man schon über eine gewisse Gestik vermitteln, was sich bei der Vorstellung dann auch bezahlt machte.
In dieser Saison dirigierte ich dann auch meine erste Oper: Don Giovanni. Rein technisch gesehen viel leichter als Wiener Blut, aber gestaltungsmäßig natürlich eine andere Kategorie. Wenn man in der Provinz eine Vorstellung übernimmt, kann man nicht viel anders machen als der für die Produktion verantwortliche Dirigent. Wenn ein Vorgänger ein Tempo vielleicht zu langsam genommen hat und alle darunter gelitten haben, kann man das zur Freude aller Beteiligten ändern, man kann auch die Dynamik ändern, muss es aber deutlich zeigen. Die Musiker waren sehr nett zu mir; wenn etwas unklar war, ließ mich das der Konzertmeister wissen, und die Hornistin sprach des Öfteren über das Thema Klang mit mir. Ein Orchester ist der beste Lehrer für einen jungen Dirigenten. Dazu war Ulm ein kleines Theater mit einer wunderbar kreativen Stimmung. In der Praxis lernt man etwa Dinge wie, dass man schnelle Läufe mitunter langsam spielen muss oder langsame Tempi eher fließend, wie man eine ganze Szene am Laufen hält oder wie man eine Szene, die nicht stimmig ist, durch das gewählte Tempo positiv beeinflussen kann. In einem kleinen Theater fix engagiert zu sein, bedeutet auch, dass sich niemand ein Blatt vor den Mund nimmt. Manche Kollegen sind nett, manche weniger, aber auch damit muss man lernen umzugehen. Jede neue Produktion, sei es Carmen oder Traviata, wird an einem so kleinen Haus wie eine Uraufführung erarbeitet, weil sie oft viele Jahre nicht auf dem Spielplan stand. Außerdem machen diese kleinen Theater alle Formen der Bühnenkunst: Oper, Operette, Schauspiel, Ballett, Musical, Kinderproduktionen, Kammeroper und Barockoper. Man lernt dadurch, welche Anforderungen das Theater abseits der Musik an den Dirigenten stellt: Dass man das Tempo für die Tänzer halten muss, wie man eine Schleife beim Musical dirigiert, in der die Musik sich so lange wiederholt, bis der Umbau oder Dialog fertig ist, oder dass man den Schlussakkord so lange halten muss, bis der Vorhang ganz gefallen ist. Ebenso wie man nach Dialogen mit der Musik einsetzt, dass man auf Scheinwerfer warten muss und dass es eben nicht nur darum geht, einfach die Musik zusammenzuhalten, sondern die ganze Vorstellung. Natürlich gab es in Ulm keine Sänger vom Niveau eines großen Hauses, sondern eher ältere Routiniers oder auch ganz junge Talente. Mit ihnen muss man behutsam umgehen. Jeder braucht individuelle Unterstützung, man muss vorsichtig sein mit seinen Kommentaren und Äußerungen. Bevor man Orchesterpsychologie lernt, muss man an einem Opernhaus Sängerpsychologie lernen, denn diese ist noch viel diffiziler. Schnell gehen da die Emotionen hoch und Tränen fließen. Als junger Dirigent will man sich einerseits merklich einbringen und hat einen starken Gestaltungswunsch, andererseits muss man sich auch zurücknehmen und auf die anderen achten, von denen man ja gleichzeitig auch viel lernen kann.
Im zweiten Jahr in Ulm verließ der erste Kapellmeister das Haus. Auch Julia Jones wechselte nach Darmstadt und es blieben außer unserem Generalmusikdirektor James Allen Gähres nur noch der Studienleiter, der zum Zweiten Kapellmeister aufrückte, und ich, da der andere Korrepetitor nicht dirigieren wollte. Dadurch kamen plötzlich viele wunderbare Aufgaben auf mich zu: Eugen Onegin, Der Bettelstudent, Così fan tutte, West Side Story, Die verkaufte Braut, Werther und Der fliegender Holländer. Es bewarben sich viele Dirigenten um den Posten des Ersten Kapellmeisters, aber im Orchester und auch von Seiten des Generalmusikdirektors hieß es immer wieder: »Warum bewirbst du dich nicht?« Ich war erst einundzwanzig und hatte Bedenken, ließ mich dann aber doch dazu überreden und nach meinem Vordirigat mit der Verkauften Braut fiel dann die Entscheidung tatsächlich für mich.
Bald kam dann meine erste Premiere mit Humperdincks Hänsel und Gretel. Das hieß für mich, zum ersten Mal Orchesterproben mit dem Opernorchester zu haben, denn bisher hatte ich nur das Kammerorchester in Ulm dirigiert, das ein Laienorchester war. Plötzlich hatte ich auch Verantwortung für die Sänger und war nicht mehr nur der »Nachdirigierer«. Ich trat dabei in jedes denkbare Fettnäpfchen. Man hatte mich schon vorgewarnt, dass dies ein schweres Stück sei, aber ich hatte keine Ahnung, wie schwer es tatsächlich ist. Durch die große Anspannung und weil ich es immer noch besser machen und perfekt vorbereitet sein wollte, verlor ich etwas von der...
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