Schweitzer Fachinformationen
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Das schmale Haus im Kolonialstil hat zwei Geschosse, drei Zimmer, zweieinhalb Bäder, Parkettboden und eine kleine Küche. Der Blickfang im Wohnzimmer ist ein gemauerter Kamin, umrahmt von Bücherregalen. Früher standen in diesen Regalen Bände von Federico García Lorca, Pablo Neruda, Juana Inés de la Cruz, Octavio Paz und Pita Amor. Meine Mutter, Isabella Marie Santiago-Snow, las mir gern aus ihren Lieblingsgedichten vor, und ihre ruhige Stimme floss dahin wie warmer Honig aus Juárez.
In unserem Haus mussten sich diese Dichterinnen und Dichter ihren Platz im Regal natürlich mit klassischen Kriminalromanen teilen, und die standen Schulter an Hardcover-Schulter mit dem unendlich Langweiligen und mitunter Grotesken: dicke Wälzer über Polizeiarbeit und Strafrecht, Beweiserhebung und Forensik samt Obduktionsfotos von Menschen in verschiedenen Stadien der Sezierung und Verwesung. Wir hatten Kriminalromane von Dashiell Hammett, Arthur Conan Doyle und Raymond Chandler sowie signierte Erstausgaben von Rudolph Fisher und Chester Himes. Und wir besaßen die Programmhefte von fünf August-Wilson-Stücken, die wir - meine Eltern und ich - im Fisher Theatre im Zentrum von Detroit gesehen hatten.
Nach dem Tod meiner Mutter vor nunmehr fünf Jahren ging das bescheidene Backsteinhaus im Viertel Mexicantown, das ursprünglich einmal »La Bagley« genannt wurde, in meinen Besitz über.
»Es ist nicht mehr das, was es mal war«, hatte sie über Mexicantown gesagt. Ein reichverziertes Kruzifix, das sie mit ins Krankenhaus genommen hatte, hing über dem Bett, während klare Flüssigkeiten in ihren langsam schwindenden Körper tropften. »Keiner hat Arbeit. Leute werden aus Häusern vertrieben, in denen sie jahrelang gewohnt haben. Diebe werden immer dreister. Lastwagen donnern durch Straßen, auf denen Kinder spielen. Verkauf das Haus, Octavio. Nimm das Geld. Zieh woanders hin. Vergiss Mexicantown.«
Ich log und sagte, das würde ich machen. Dann beteten wir den Rosenkranz.
Weder die Zeit noch die Politik sind freundlich mit Detroit umgegangen. In Mexicantown waren sie sogar regelrecht brutal.
In den 1940er Jahren kamen die Mexikaner aus dem gleichen Grund nach Detroit, aus dem Schwarze zehn Jahre zuvor den Süden verlassen hatten: gutbezahlte, feste Arbeit in den Autofabriken. Die einzige Farbe, die Henry Ford sah, war das Grün der Dollarscheine. Ihm war egal, ob du Latino, Araber oder Schwarzer warst, Hauptsache, du konntest eine Schraube festziehen oder eine Karosserie auf ein Chassis montieren. Schraube festziehen, Karosserie montieren, Lohn kassieren.
Als sich herumsprach, dass Arbeit bei Ford und General Motors einen guten, sicheren Job und gutes, sicheres Geld bedeuteten, kamen noch mehr Mexikaner nach Detroit.
Entgegen der landläufigen Meinung begann Detroits »weiße Flucht« nicht in den 60ern. Gringos sind schon immer aus den konzentrischen Kreisen von Detroit »geflohen«. Und zwar, um praktisch allen aus dem Weg zu gehen. Den Deutschen. Den Italienern. Den Iren. Griechen. Schweden. Finnen. Schwarzen. Mexikanern. Vietnamesen. Mittlerweile auch dem Zustrom von Chaldäern und Muslimen aus dem Nahen Osten.
Wir alle haben unsere wütenden und beängstigenden Gespenster in dieser verrückten amerikanischen Maschine.
In Mexicantown wurden Häuser, die sich zuvor nur Ärzte und skrupellose Geschäftemacher leisten konnten, schon bald zum Spottpreis von Mexikanern gekauft, die nach etwas strebten, das einst ausschließlich Weißen vorbehalten war: dem amerikanischen Traum.
Aus Liebe zu meiner mexikanischen Mutter kaufte mein afroamerikanischer Vater 1978 das zweigeschossige Häuschen im Kolonialstil. Meine Mutter sollte ihre Familie, ihre Freunde, ihre Kultur in der Nähe haben. Er selbst war eine Anomalie: ein Schwarzer, der in einem mexikanischen Viertel lebte. Doch dank nicht unerheblicher Bemühungen seitens meiner Mutter und aufgrund meiner Geburt wurde er schließlich akzeptiert. Auf samstäglichen Gartenpartys prostete man ihm mit Tequila zu, und sonntags betete man für ihn in der spanischsprachigen Messe in der Holy Redeemer Church.
Es schadete auch nicht, dass mein Vater ein Detroiter Cop war.
Ich habe mit einem Teil meines Entschädigungsgeldes dieses Haus wieder zum Leben erweckt und sogar noch sieben andere Häuser auf der Markham Street gekauft und renovieren lassen. Das einzige Haus, das ich abreißen ließ, war eines nördlich von mir, das mal ein Schmuckkästchen gewesen war, aber nach zwei Jahrzehnten mit kaputten Crack- und Meth-Pfeifen, Heroinspritzen, menschlichen und tierischen Fäkalien und versuchten Brandstiftungen in der »Devil's Night«, wie die Nacht vor Halloween genannt wird, einfach nicht mehr zu retten war.
Ein Garten auf diesem leeren Grundstück wäre schön.
Paprika, Grün- und Weißkohl, Salat und Tomaten.
Was ist ein Schwarzmexikaner ohne Garten?
Besonders, wenn du nicht in den frühen oder späten Abendstunden mit einer Flasche NegraModeloBier oder einem gekühlten Glas Cabresto Tequila in der Hand voller Stolz auf deine harte Arbeit blicken kannst.
Während ich fort war, am Mittelmeer und in Skandinavien abgetaucht auf den Boden zahlreicher Schnapsflaschen, dachte die Stadt offenbar, es wäre eine gute Idee, die demolierten Straßenlampen durch acht neue solarbetriebene LED-Straßenlampen zu ersetzen. Eine weitgehend wirkungslose Maßnahme, um Straftaten auf einer nahezu verlassenen Straße in Mexicantown zu verhindern.
Ich hatte versucht, nach dem Prozess und dem Geldsegen mein Leben weiterzuführen. Als Normalbürger zu leben. Doch ich konnte nicht ganz vergessen, dass ich in einem Job, den ich geliebt hatte, gescheitert war. Ein Judas für die Apostel in Blau geworden war. Die Blicke, die mich in Supermärkten und Restaurants verfolgten, die gnadenlose Ablehnung. Man sah mich an, als wäre da jemand dicht hinter mir - eine verschwommene und beunruhigende Gestalt.
Alle lieben den Helden.
Keiner liebt den Verräter.
In Oslo hatte ich eine Frau kennengelernt, die mir half, meinen Alkoholkonsum zu mäßigen. Eine schöne junge Frau mit weicher brauner Haut, einem Lächeln wie ein Sonnenaufgang und bernsteinfarbenen Augen. Sie hieß Tatina und war halb Somalierin, halb Deutsche, eine Geflüchtete aus dem schon Jahre andauernden Bürgerkrieg in Somalia. Sie hatte Gräuel gesehen, die mein Vorstellungsvermögen bei weitem überstiegen. Doch irgendwie hatte ihre Seele überlebt, und sie nahm Licht auf und strahlte Wärme aus. Unter dem eisblauen norwegischen Himmel hielt ich sie drei Monate lang in den Armen, liebte sie, spürte meinen Körper schwerelos werden, wenn sie lachte. Ihr Atem auf meiner Brust fühlte sich an, als wäre ich genau dort, wo ich sein musste.
Es fühlte sich an wie zu Hause.
Da ich aus Detroit stamme, habe ich dem Glück natürlich nie so recht getraut.
Also kehrte ich in eine Stadt zurück, wo Glück sich meist darauf beschränkt, eine gewisse Zufriedenheit in einem hinnehmbaren Maß an diffuser Angst, unspezifischer Abscheu und unerklärlichem Überdruss zu finden.
Es war Anfang Herbst, als ich unversehens wieder in Mexicantown vor meinem Haus auf der kleinen West Markham Street mit ihren gerade mal zwölf Häusern stand. Direkt vor der Eingangstür lag ein Päckchen. Bevor ich die Stufen hinaufging, blieb ich stehen und schaute mich um. Eine wohlgenährte buntgefleckte Katze verharrte mitten auf der Straße und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an, als wollte sie sagen: »Was glotzt du so blöd?«, ehe sie weiterschlich.
Ich stieg die Stufen hinauf und ging vor dem Päckchen in die Hocke. Es hatte die Größe und Form eines Schuhkartons und war säuberlich in Packpapier eingeschlagen. Ich war zwar ein Jahr weg gewesen, aber nach meiner Zeugenaussage gegen den ehemaligen Bürgermeister und etliche Detroiter Cops - jetzt entlassen oder im Gefängnis -, die ihm bei seinen diversen kriminellen Machenschaften behilflich gewesen waren, hatten sich die Gemüter noch immer nicht ganz beruhigt. Ein in Packpapier eingeschlagener Schuhkarton konnte durchaus ein Willkommensgeschenk von jemandem enthalten, der wütend war, dass ich Karrieren zerstört und mich mit einem dicken Batzen Geld von einer bankrotten Stadt aus dem Staub gemacht hatte.
Nachdem ich das Päckchen eine Weile beäugt hatte, hob ich es vorsichtig an.
Zu leicht für eine Bombe. Kein verräterischer Geruch. Ich riss das Papier ab - ein ausrangierter Schuhkarton von einem Paar Nike Air Max 90, Herrengröße 43 - und suchte nach Drähten. Nichts. Vielleicht lag eine simple Warnung drin: ein Zeitungsartikel über den Prozess...
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