1. Kapitel
Zurück auf der Washington! Hartfield wusste nicht, ob er die hallenden Korridore wirklich vermisst hatte. Der erste Atemzug auf dem Raumschiff schmeckte trotz der Luftfilter nach Öl und Ozon. Nur der Gestank der vielen Leiber fehlte, an den er sich erinnerte. Kein Wunder. Als sie vor zwei Jahren mit der Washington von der Erde geflohen waren, drängten sich mehr als siebentausend Menschen an Bord. Dreimal mehr als die normale Besatzung ausmachte. Jetzt befanden sich gerade mal tausend Männer und Frauen auf dem Schiff.
Corporal Lindström hatte ihn zusammen mit Gallagher, Kim und Nakamura mit dem ersten Shuttleflug an Bord gebracht. Ihr blonder Pferdeschwanz hatte ihn an frühere Flüge mit ihr erinnert -zusammen mit John Flanagans Team.
Captain Lydia Fajid begrüßte ihn bei seiner Ankunft nahezu herzlich, zog man ihre kühle Reserviertheit in Betracht, die sie nur im Kampf um die Erde hatte fallen lassen. Sie wies ihm sein altes Quartier zu, bei dessen Betreten sich Hartfields Kehle zuschnürte. Der Raum wirkte, als wäre er gestern erst von Bord gegangen.
Er hatte es nicht lange in seinem Quartier ausgehalten. Außer alten Erinnerungen nachzuhängen hatte er dort nichts mit sich anzufangen gewusst. Es hatte ihn auf die Brücke getrieben, wo Kim mit Nakamura, Fajid und Gallagher die Sternenkarte studierte, die die Kommandotafel einnahm.
Mit nahezu gieriger Hast rief Kim einen Planeten nach dem anderen auf, der auf der Karte markiert war. Hartfield hingegen betrachtete die Gesamtheit der Markierungen. Fast alle von ihnen befanden sich am linken unteren Rand eines blau eingefärbten Bereichs. Dem Hoheitsgebiet der Ezzirash! Hartfield entdeckte weitere Farbbereiche. Das Hoheitsgebiet der Vierarmigen war violett eingefärbt, das der Mrin leuchtete grün auf. Nur am linken unteren Rand des blauen Bereichs grenzten weder andere Farbbereiche noch Planeten an.
»Was befindet sich dort?«, fragte Hartfield in die Runde und zeigte auf den farblosen Bereich.
»Ein Raumsektor, der keinem Hoheitsgebiet zugeordnet ist«, antwortete Kim, ohne von den Daten aufzusehen, die er gerade abgerufen hatte.
Nakamura blinzelte. »Warum wurde der Sektor nicht zugeordnet?«
»Keine Ahnung.« Kim schien sich nicht beirren zu lassen. »Hier!«, rief er. Das Bild eines grünblauen Balls legte sich über einen Teil der Karte. »Der könnte interessant sein.«
»Warten Sie«, sagte Nakamura. Nachdem sie ein paar Daten abgerufen hatte, schüttelte sie den Kopf. »Da ist nichts. Die Karte endet hier. Ebenso wie das Sprungtornetz.«
»Also schlicht ein weißer Fleck«, kommentierte Gallagher.
Seine Aussage klang vollkommen harmlos. Dennoch breitete sich ein flaues Gefühl in Hartfields Eingeweiden aus. Es begleitete ihn schon seit Monaten. Er hatte gehofft, es würde nachlassen, wenn er endlich etwas unternahm. Wie es schien, hatte er sich geirrt. Außer .
Energisch verwarf er den Gedanken. Selbst wenn die Insektoiden diesen nicht kartografierten Raumsektor bewohnten, brauchten sie ein Sprungtor, um in den Hoheitsbereich der Ezzirash zu gelangen. Und wie Nakamura eben bestätigt hatte, endete dort das Sprungtornetz.
Fajid entfernte sich einen Schritt von der Tafel. »Das gefällt mir nicht. Das Sprungtor am Ziel führt direkt ins Hoheitsgebiet der Vierarmigen«, sagte sie mit gerunzelter Stirn.
»Ich weiß. Aber ich habe mir alle Planeten, die Harlan markiert hat, angesehen«, antworte Kim. »Das da ist der vielversprechendste. Er hat eine atembare Atmosphäre, knapp ein G Gravitation, eine Durchschnittstemperatur von fünfundzwanzig Grad Celsius und ist zur Hälfte mit Wasser bedeckt. Zudem liegt er nur einen halben Tag vom Sprungtor entfernt. Besser könnten wir es nicht treffen.«
Lydia Fajid sah Gallagher mit hochgezogenen Brauen an. »Wie lautet Ihr Befehl, Captain?«
Gallagher wandte sich Hartfield zu. »Ihre Meinung?«
»Wir haben noch Zeit. Die letzten Soldaten werden erst in ein paar Stunden an Bord sein. Ich würde mir gerne alle Daten ganz genau anschauen, ehe wir eine Entscheidung treffen.«
Eifrig wandte Kim ein: »Das ist wirklich nicht nötig. Ich bin mir sicher .«
»Machen Sie mir eine Tabelle mit den entsprechenden Daten«, unterbrach Gallagher ihn. »Sobald alle Mann an Bord sind, lassen wir Sie unsere Entscheidung wissen.«
Fajid nickte. »Verstanden, Sir. Dürfte ich Sie noch um Ihre Meinung zu einem anderen Problem bitten?« Dabei wandte sie sich ab, und Gallagher folgte ihr nach einem saloppen Gruß in die Runde.
Kim öffnete den Mund, schloss ihn wieder und wandte sich Hartfield zu. »Die Arbeit ist unnötig. Ich bin mir absolut sicher, dass .«
»Ich bin mir dessen bewusst, dass die wissenschaftliche Leitung der Mission in Ihren Händen liegt, Lieutenant Han-Sung«, unterbrach Hartfield ihn. »Aber die militärische Entscheidung obliegt Captain Gallagher und damit auch die Auswahl des Ziels. Tun Sie also, worum der Captain Sie gebeten hat.«
Hartfield hasste es, diese Karte zu ziehen. Aber es war besser, Kim gewöhnte sich frühzeitig daran.
***
Schon bei seinem ersten Atemzug auf der Washington glaubte Carl, keine Luft mehr zu bekommen. Der Gestank von Öl und Ozon hing in der abgestandenen Luft und würgte ihn. Die Wände schienen auf ihn einzustürzen. Alles war auf einen Schlag zu eng. Die vielen Menschen und Stimmen im Hangar schienen ihn erdrücken zu wollen.
Blind tastete er nach der nächstbesten Stütze und hielt sich an der Landefähre fest. Keuchend rief er sich den Anblick der Ebene in Erinnerung. Der Horizont, der sich endlos vor ihm dehnte. Der hohe Himmel über seinem Kopf. Der Wind, der ihm eisig ins Gesicht blies. Weite. Freiheit. Egal wie kalt und öde sie sein mochte.
Der kurze Moment genügte, sodass er wieder Luft bekam und die Augen öffnen konnte. Ophelia stand vor ihm und musterte ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen.
»Stimmt etwas nicht? Ich sagte, aufschließen!«
Carl winkte ab. »Alles gut. Kein Problem.«
»Sicher? Vielleicht sollten Sie sich besser beim Doc .«
Sie war zu nah, viel zu nah.
»Mir geht es gut!« Schnell drängte sich Carl an ihr vorbei, um zu den anderen aufzuschließen.
Ophelias Schritte trieben ihn vor sich her durch die hallenden Korridore. Nur keine weitere Blöße geben! Es ging ihm gut, nur sein misshandelter Rücken schmerzte. Trotzdem fühlte es sich an, als würde er durch ein Albtraumlabyrinth hetzen. Er schwitzte, als sich die Tür zu einem kleinen Raum mit ein paar Stockbetten öffnete und er begriff, dass sie am Ziel waren.
»Das obere Bett neben der Tür ist noch frei«, sagte Yoona. Sie selbst hatte mit ihren Sachen bereits das obere Bett gegenüber belegt.
Er nickte ihr stumm zu, legte seine Jacke dort ab und warf wahllos seine Sachen in einen der freien Spinde. Seine Hände zitterten immer noch. Was war das für ein Scheiß? Er hatte doch keine Platzangst.
Die Tür ging auf, und eine blonde Pilotin mit den Rangabzeichen eines Corporals füllte den kleinen Raum noch mehr. »Ophelia! Du hier?«, rief sie. »Als ich es gehört habe, bin ich sofort hergekommen.«
»Britt!« Mit einem Freudenschrei umarmte Ophelia die andere Frau.
»Wie geht´s dem Kleinen?«
»Gut, gut. Nell passt auf ihn auf.«
Die Pilotin klopfte Ophelia auf die Schulter. »Kommst du später rüber in die Bar? Wir haben Bier. Und bring deine Jungs mit. Wir wollen doch dein neues Team kennenlernen.«
»Aber klar! Gerne!«
»Dann bis später!« Mit einem lässigen Gruß verließ die Pilotin wieder den Raum.
Es schien sich nicht um eine Einladung zu handeln, die er ablehnen konnte, begriff Carl frustriert.
***
Carl rieb sich das Gesicht. Gott, war er müde! Sein Rücken schmerzte wie Feuer. Er war kurz davor, den Doc aufzusuchen, um sich vor dem Besuch in der Bar zu drücken.
»Auf! Auf!« Ophelia klatschte gutgelaunt in die Hände. »Ihr müsst unbedingt den Rest der Crew kennenlernen.«
»Ist das ein Befehl?«, fragte Michael dumpf.
»Natürlich ist das ein Befehl.«
Mit düsterer Miene stand Michael von seinem Bett auf. Nun folgten auch Andrew, Jekaterina und Yoona seinem Beispiel.
Mit einem Seufzen quälte Carl sich als Letzter aus dem Bett. Wenn das Ophelias Führungsstil war, dann war ihm Jekaterinas deutlich lieber.
Ophelia schritt mit wippendem Pferdeschwanz voraus. Sie schien vor Energie geradezu zu vibrieren. Fast jeden, der ihnen entgegenkam, begrüßte sie mit Namen. Als sie die Bar betraten, die den Charme eines Bahnhofsklos versprühte, eilten ihr aus allen Ecken Besatzungsmitglieder entgegen, die sie umarmten oder ihr auf die Schulter klopften.
Obwohl Ophelia ihre Teammitglieder pflichtschuldig alle mit Namen vorstellte, kam Carl sich deplatziert vor. Bier wurde geöffnet. Lachen ertönte. Der Raum schwirrte vor Stimmen. Carl hielt auf einmal eine Bierflasche in der Hand, ohne zu wissen, wer sie ihm gereicht hatte. Er hätte alles dafür gegeben, stattdessen im Bett vor sich hin zu dösen.
»Komm, setz dich!« Ophelia fasste nach seiner Hand und dirigierte ihn zu einem Tisch. »Wir brauchen noch ein paar Spieler für eine Partie Poker.«
Dankbar um den Stuhl ließ Carl sich darauf fallen und nahm einen Schluck Bier. »Ich wüsste nicht, um was ich spielen sollte.«
Patty, die dunkelhäutige Frau aus der Reparaturcrew, saß ebenfalls am Tisch und schob ihm feixend ein Schälchen mit Nüssen entgegen. »Wir spielen um Nüsse. Oder um Strafdienst. Aber ich glaube, dafür ist es zu früh.«
Ein dunkelhaariger Pilot namens Oliver begann, die Karten zu mischen. Während er sie bereits austeilte,...