Kapitel 11
Joey betrat den Essbereich, sah sich um und war überrascht, nur Jackson an dem Tisch sitzen zu sehen. Als Joey sich näherte, bemerkte er das Zögern und die Distanziertheit in Jacksons Verhalten - ein Mann, der in seinen Gedanken versunken war und seinen Blick auf einen Teller mit unappetitlichem, haferschleimartigem Brei gerichtet hatte.
»Jackson«, begrüßte Joey ihn vorsichtig und nahm neben ihm Platz.
Jackson starrte weiterhin ins Leere.
»Jackson, wo sind die anderen? Warum frühstückt sonst niemand mit uns?«
»Ich vermute, dass sie es satthaben, tagein, tagaus das Gleiche zu essen.« Er deutete auf den Teller und den Haferschleim. Dann seufzte er tief. »Immer das Gleiche, tagein, tagaus.« Es war, als wäre er ein Roboter, ohne jede Emotion. Aber Joey konnte eine unterschwellige Angst spüren, die Jackson nicht wahrhaben wollte; etwas, das an ihm nagte.
Mit besorgter Stimme ließ Joey nicht locker. »Du hast keinen Hunger, hm? Fühlst du dich nicht wohl?«
»Ich fühle mich gut.« Jackson starrte weiter auf den Teller. Der Brei war eine Mischung aus Haferflocken und Kartoffelpüree, die ungenießbar schien.
Joey beugte sich an ihn heran. »Jackson, hast du letzte Nacht etwas gehört? Irgendetwas?«
Nach einer langen Pause antwortete er: »Nur den Wind. Der Wind spielt mit den losen Dachrinnen, bewegt sie und macht laute Geräusche. Manchmal ist es so laut, dass ich nicht schlafen kann. Keiner von uns kann das.«
»Ist deshalb niemand hier? Schlafen alle noch?«
»Das würde ich vermuten.«
»Und du? Bist du müde?«
»Ich kann schlafen.«
»Aber bist du müde?«
»Nicht so, wie du denkst. Nicht physisch.«
»Wie denn dann, Jackson?«
»Ich bin es leid, zu warten. Ich will, dass es endet. Ich bin es leid, die ganze Zeit Angst zu haben. Es gibt nichts Schlimmeres, als die ganze Zeit Angst zu haben.«
»Deine Sitzungen mit Dr. Kezmet helfen nicht?«
»Kezmet? Er ist die Wurzel von allem, was hier passiert. Allem. Wir machen alle ein fröhliches Gesicht und tun so, als würde nichts geschehen. Aber es geschehen Dinge. Die Dunkelheit hier bewegt sich. Sie hat ein Eigenleben. Und .« Jackson unterbrach sich selbst, blickte sich um, um sicherzugehen, dass sie allein waren, und flüsterte: »Dr. Kezmet leitet das alles. Er ist nicht der wohlwollende Mann, für den er sich ausgibt, und er ist auch nicht daran interessiert, dass unser Übergang von hier nach dort sanft ablaufen wird. Er hat etwas Bösartiges an sich, etwas Dunkles. Er ist hier nicht der Retter, sondern ein Feind des Lichts. Als du ihn gestern bei deiner Aufnahme getroffen hast, hast du da nicht gespürt, dass mit ihm etwas nicht stimmt?«
Joey erinnerte sich an seine Begegnung mit Dr. Kezmet, und der beunruhigende Nachgeschmack ihrer Unterhaltung war ihm geblieben wie ein unheimlicher Spuk. Der Arzt besaß die unheimliche Fähigkeit, in die Tiefen der Psyche eines Menschen einzudringen, und seine Worte durchbrachen den Schleier der Verstellung, um die darin verborgenen Schwächen aufzudecken. Joey wurde das Gefühl nicht los, dass Kezmet die Macht besaß, seine innersten Knöpfe zu drücken, das Gewebe seines Wesens zu entwirren und die dunkelsten Ecken seiner Seele zu enthüllen. Es war ein beunruhigendes Gefühl, eines, das ihn am Rande eines dunklen Abgrunds taumeln ließ, ohne zu wissen, was ihn auf der anderen Seite erwartete. Tatsächlich fühlte sich Joey . ja, wie? Wertlos? Dass sein Leben ein Fehler gewesen war und er sich schuldig gemacht hatte, nichts Positives zur Entwicklung der Menschheit beigetragen zu haben, sondern nur ein unnützes Produkt von ihr zu sein? »Es war nicht das Orientierungsgespräch, das ich erwartet hatte«, antwortete er schließlich.
»Natürlich war es das nicht. Wir kommen jeden Tag in diesen Raum. Wir essen unser .«, er deutete auf den Teller, »was auch immer das ist, weil es angeblich gut für uns ist, obwohl es nach nichts schmeckt, und wir spielen Karten. Wir versuchen, uns gegenseitig bei Laune zu halten, auch wenn wir alle wissen, dass es nur eine Fassade ist. Es ist schwer, fröhlich zu bleiben, wenn man weiß, dass man bald sterben wird, meinst du nicht? Schlimmer noch, wenn man an einem Ort wie diesem sterben wird.« Er deutete mit der Hand auf die Umgebung. »Es ist dunkel hier drin, es bleibt immer ein Hauch, der nie verschwindet. Spürst du es nicht? Spürst du nicht die Dunkelheit?«
Joey musste zugeben, dass er das tat. »Ja. Das tue ich.«
»Es geht nie weg, dieses Gefühl der Dunkelheit.«
Joey lehnte sich noch näher an Jackson heran. Ihre Unterhaltung sollte geheim bleiben. »Gestern«, begann Joey leise, »hast du gesagt, dass Gretchen auf dem Platz saß, auf den ich mich setzte, und dass es ihr gutzugehen schien . und dann war sie plötzlich weg.«
»Das kommt hier oft vor. Die Leute kommen an, scheinen völlig gesund zu sein, und dann sind sie wieder weg.« Er schnippte mit den Fingern. »Einfach so.« Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtete wieder mit diesem distanzierten Blick den Haferschleim.
»Erzähl mir von Gretchen«, drängte Joey.
»Ich weiß nicht viel über sie. Wir kommen nie auf den Hintergrund oder die Geschichte von jemandem zu sprechen. Es ist zu deprimierend, Erinnerungen wachzurufen und über sie zu sprechen, wenn man weiß, dass unsere Leben, wie wir es kannten, vorbei ist. Also leben wir in den Tag hinein. Wir spielen Karten, machen Witze und tun, was immer wir an einem Ort wie diesem tun können. Nur Dr. Kezmet zieht uns immer wieder runter. Er denkt, er tut das Richtige, aber dem ist nicht so. Ich bete jede Nacht zu Gott - jede . einzelne . Nacht - und bitte ihn, mich zu sich zu holen, aber meine Gebete werden nicht erhört.«
»Eines Nachts«, sagte Joey, »wird seine Antwort >Ja< lauten.«
»Es kommt mir vor, als würde ich schon seit Monaten beten. Ich wünschte, es würde einfach vorbei sein.«
»Gretchen - was ist mit ihr passiert?«
»Was mit ihr passiert ist? Sie ist gestorben. Das ist mit ihr passiert.«
»Wie?«
Jackson zuckte mit den Schultern. »Das weiß niemand. Wir gehen alle davon aus, dass ihre Zeit gekommen war.«
»Wo ist sie verstorben?«
»In ihrem Bett, denke ich. Alle sterben in ihren Betten.«
»Nirgendwo sonst?«
»Immer in ihren Betten. Das hat uns Dr. Kezmet jedenfalls so gesagt. Dass sie in ihrem Bett gestorben ist. Dass sie alle im in ihrem Bett gestorben sind.«
»Aber du glaubst das nicht.«
Jackson schwieg.
»Jackson«, fragte Joey, »glaubst du das?«
»Am letzten Tag, an dem wir zusammen Karten spielten, ging es Gretchen nach ihrer Sitzung mit Dr. Kezmet nicht gut, obwohl sie am Kartentisch ein fröhliches Gesicht machte. Wir wussten alle, dass es ihr nicht gut ging, aber wir trauten uns nicht zu fragen.«
»Und in dieser Nacht«, sagte Joey, »starb sie.«
Jackson nickte, dann schnippte er ein zweites Mal mit den Fingern. »Einfach so.«
»Und die Leiche? Ich nehme an, hier gibt es ein Leichenschauhaus.«
»Wenn ja, dann hat es noch keiner von uns gesehen.«
»Hast du ihre Leiche gesehen?«
»Ich habe noch nie eine Leiche gesehen. Sie verschwinden einfach.«
»Was ist mit dem Gerichtsmediziner? Sicherlich kommt jemand, um sie abzuholen.«
»Wir sehen immer nur den Limousinenfahrer, der aus dem Nebel kommt, um einen neuen Patienten zu bringen.«
»Der, der mich hergebracht hat?«
»Genau der. Er bringt alle her.«
»Und er ist der Einzige?«
Jackson nickte. »Ja. Der Einzige.«
»Was glaubst du, ist mit Gretchen passiert? Und bitte, sei ehrlich. Das bleibt zwischen uns.«
»Manchmal glaube ich, dass die Wände Ohren haben. Meistens haben wir alle Angst, unsere Meinung zu sagen, weil wir befürchten, dass jemand zuhört, der es nicht tun sollte.«
»Was glaubst du, ist mit Gretchen passiert?«
Nach einer Pause sagte Jackson: »Ich glaube, die Dunkelheit hat sie geholt, so wie sie uns alle holen wird«.
»Die Dunkelheit? Willst du damit andeuten, dass das Licht für uns unerreichbar sein könnte? Dass dieser Ort es fernhält?«
»Hier, und unter Doktor Kezmet, glaube ich fest daran, dass das Licht für uns unerreichbar ist. Ich weiß nicht, warum ich das glaube, aber ich glaube es einfach.« Die Art, wie Jackson die Worte mit seinem emotionslosen Tonfall vortrug, war unheimlich.
Mit dieser Aussage schob Jackson seinen Teller mit dem kalten, grauen Haferschleim beiseite und erhob sich von seinem Platz. Er verabschiedete sich mit der gleichen eiskalten Haltung wie Milo. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Essbereich und ließ Joey allein in dem Raum zurück, der nun eine Eiseskälte wie das Vakuum des Weltraums auszustrahlen schien.
Joey saß da und dachte über Jacksons Worte nach, über die quälende Erkenntnis, dass an diesem Ort etwas viel Unheimlicheres vorging. Das Gefühl der Vorahnung wurde stärker und zwang Joey, tiefer zu graben und die in den Schatten verborgene Wahrheit aufzudecken; ein Drang, der nicht von ihm selbst ausging, ihn jetzt aber antrieb. Sein neu entdeckter Ehrgeiz, da war er sich sicher, entstammte einer unbekannten Inspiration, auch wenn er nicht zugeben wollte, dass sie göttlich war.
Entschlossen schwor Joey, die Geheimnisse des Hospizes zu lüften, selbst wenn er sich der unergründlichen Dunkelheit stellen musste, die ihn erwartete - ob nun im zweiten Stockwerk der Einrichtung oder in der Gestalt von Dr. Kezmet. So oder so, seine Reise würde mühsam sein. Und seine Entschlossenheit würde ihn, zu welchem Preis auch...