Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der Inspektor
Das Boot, für das sie bezahlt hatte, stank nach Fisch. Den Bootsführer hat sie nie gesehen. Es gab die Mannschaft - ein paar Männer, immer mit dem Rücken zu ihr - und die anderen. Es war Nacht, und so war kaum zu erkennen, wie viele sie waren. Aber schließlich bleibt Fracht ja auch nicht stehen und zählt nach.
Um ihre Überfahrt zu bezahlen, hatte sie Hotelsex mit Fremden gehabt - einschließlich des Holländers, bei dem sie schwimmen lernte. Sie hatte Geld aller Nennwerte und Währungen gespart. Manches, dachte sie, müsse chinesisch sein, aber da waren auch Euros und Pfund und amerikanische Dollar. Sie rollte die Scheine jedes Mal neu zu einer Zigarre, die sie zur sicheren Aufbewahrung in sich einführte.
Stundenlang nichts als das Klatschen des Meeres gegen den Bugspriet. Die Fracht sitzt zusammengekauert da. Menschen aus unterschiedlichen Teilen des Kontinents. Niemand spricht, aus Angst, gehört zu werden. Die Gefahr umgibt sie, dick geschichtet, Ohren, die gut hören, bohrende Augen in stockfinsterer Nacht. Sie sitzen auf ihrer gebündelten Habe. Sie sitzen auf leeren Gedärmen. Sie haben seit Stunden nichts gegessen, mindestens seit einem halben Tag. Man hat ihnen geraten, es sei besser so.
Als das Boot langsamer wurde, reckten sich die Hälse. Köpfe drehten sich. Diejenigen, die ihr gegenübersaßen, starrten über ihre Schulter hinweg. Da drehte sie sich um und sah die Küstenlichter Europas. Vom Heck her kam ein lautes Platschen. Sie sah ein kämpfendes schwarzes Gesicht, jemanden, der sich neben dem Boot an eine Boje klammerte. Der Mann hing noch daran, als das Boot wegfuhr. Jetzt hörte sie zum ersten Mal die Instruktionen. Ein anderes Boot würde kommen und sie aufnehmen. Nur keine Sorge. Sie müssten damit rechnen, ungefähr eine Stunde oder etwas länger im Meer zu sein. Sie sollten sich einfach an der Boje festhalten und warten. Sie bräuchten keine Angst zu haben. Alles würde nach Plan laufen, wie schon so oft. Sie fühlte sich an die Hotelstimme erinnert, die sie benutzten, um Gäste zu beruhigen - sanft, liebenswürdig, lächelnd. Das Wasser wird gleich wieder angestellt. Es dauert nicht mehr lange, bis der Stromausfall behoben ist. Der Handwerker ist schon unterwegs zu Ihrem Zimmer. Selbstverständlich können Sie das Leitungswasser trinken, wenn Sie möchten, aber es empfiehlt sich nicht.
Ein Platschen. Wieder strampelte ein Körper in dem ungewohnten Element, und wie zuvor blieben zwei ängstliche Augen in der Dunkelheit zurück.
Ein älterer Mann weiter hinten am Seitendeck kündigt leise an, dass er nicht schwimmen kann. Er hat eine Kiste mit seinen Sachen auf dem Schoß, die langen Bauernarme darübergeworfen. Niemand sagte etwas, niemand drehte sich nach seinem Platschen um.
Sie kann wenigstens schwimmen. Der Holländer hatte sie abends regelmäßig in den Pool geschmuggelt. Er sagte ihr, sie solle sich aufs Wasser legen und so tun, als wäre es ein Bett. Dann zeigte er ihr, wie sie die Arme bewegen und immer denken müsse, sich nach etwas auszustrecken, was knapp außerhalb ihrer Reichweite lag.
Ein Gesicht mit einer schwarzen Wollmütze hockt in ihrer Nähe. Als das Boot leise abdreht, sieht sie die Boje. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und bückt sich gerade, um sie aufzuheben, da schubst eine Hand sie über Bord, und sie fällt seitwärts ins Meer. Zuerst, wundersamerweise, scheint sie nicht nass zu werden. Sie ist im Wasser, aber das Wasser nicht in ihr. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, an den sich Hoffnung und Erstaunen klammerten. Dann, urplötzlich, drang das Wasser durch ihre Kleidung, so schockartig, dass sie um sich schlug, bis sie die harte Plastikboje spürte.
Das Boot entfernte sich, und die Nacht und ein Gefühl der Leere schlossen sie wie eine Mauer ein. In unsichtbarer Ferne hörte sie das nächste Platschen. Vom Boot aus waren die Küstenlichter klar gewesen. Jetzt sind keine mehr zu sehen. Das Meer ist im Weg, es wogt und schleudert sie um die Boje herum. Die Boje ist schwer zu fassen. Sie ist zu dick, zu rund. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich am Ankerseil festzuhalten und die Hände zu wechseln, sobald ein Arm erschlafft.
Wie lange war sie schon im Wasser? Was ist Zeit unter diesen Umständen? Was eine Stunde? Und was zehn Minuten? Zeit lässt sich auch anders messen. An der Kälte. An der Angst. An der Dauer, bis Fleisch fühllos wird, bis es verrottet und sich von den Knochen löst. Sie begann, an den Worten der Mannschaft zu zweifeln. Sonst wäre schon etwas geschehen. Das erschien ihr eher glaubhaft, weil selten geschieht, was eigentlich geschehen sollte.
Sie sah die Sonne aufgehen und sich höher an den Himmel schieben. Die letzten blinkenden Lichter erloschen. Das Meer schwoll an, und die Küstenlinie Europas verwandelte sich in grauen Dunst.
Der Holländer hatte ihr beigebracht, wie ein Hund zu schwimmen. «Hundepaddeln.» Aus eigenem Antrieb war sie nur auf eine Länge des Poolbeckens gekommen. Aber er hatte sie ermutigt weiterzumachen, zu üben. Einen Monat später schaffte sie fünfzig Bahnen. Einmal war sie zur Belustigung eines Hotelgastes, der die ganze Zeit mit einem Cocktail im Liegestuhl saß, hundert Bahnen geschwommen und hatte die Wette um zehn Dollar gewonnen.
Ihre Schultern schmerzen, ihre Lippen sind aufgequollen, die Augen brennen. Ihre Haut will nichts mehr von ihr wissen. Sie hat den seidigen Glanz verloren, den die Gäste immer so gern kommentierten. Jedes Mal, wenn jemand stehen geblieben war, um sie zu tätscheln, hatte sie es genossen, das langsame Wunder ihrer selbst in den Augen und im Gesicht eines vollkommen Fremden aufscheinen zu sehen.
Am späten Nachmittag beschließt sie zu schwimmen. Sie hat eine Plastiktüte mit ihrer Hoteluniform und dem Stechmesser aus dem Gitterstab des Vogelkäfigs bei sich. Sie wird die Boje mitnehmen.
Die erste Aufgabe besteht darin, das Messer herauszubekommen. Trotz der langen Stunden im Meer ist die Uniform noch trocken. Sie kann die Falte eines Ärmels im Inneren der Plastiktüte ertasten. Das Messer ist in den Rock eingerollt. Sie muss mit den Fingern einer Hand an dem Knoten zupfen. Die andere Hand hält die Boje fest. Mehrmals lässt sie das Seil los, um mit beiden Händen zu zupfen. Jedes Mal kommt sie ein bisschen weiter, bevor das Meer sich scheitelt und sie sinkt. Einmal, als sie es fast geschafft zu haben glaubte, war ihr Kopf schon unter Wasser. Aber auch diesmal reichte es nicht, und sie kam wieder an die Oberfläche - in Panik bei dem Gedanken, wie schnell, wie leicht es mit dem Untergehen ging, ein Aussetzer genügte, und schon war es passiert. Sie erinnert sich, dass sie einmal eine Frau beim Abkauen einer Nabelschnur gesehen hat. Als sie den Knoten oben an der Plastiktüte abbeißt, verpufft etwas heimatliche Luft, Wäscheluft.
Sie muss das Messer rausziehen, ohne dass die Uniform nass wird, und die Tüte wieder zubinden, nicht ganz so fest diesmal, aber auch nicht zu locker für das Meer.
Es dauerte eine Ewigkeit, sich durch das vertäute Seil zu säbeln, Faser um Faser. Als die letzte riss, sprang die Boje weg, und sie musste hinterherschwimmen. Ihr Körper tat nicht, was sie wollte. Er benahm sich wie ein Brett. Sämtliche Glieder waren steif. Sobald sie nach der Boje griff, schwappte das Ding weg, und sie musste weiter paddeln. Sie glaubte die Boje schon verloren, dachte, das sei es gewesen, bis hierher und nicht weiter, so nah am Land, als ihre Hand das Seilende zu fassen kriegt. So geht sie wenigstens nicht unter. Der Rest bleibt ihr überlassen. Eine Hand gegen die Boje gedrückt, die andere an das Seil geklammert, beginnt sie mit Froschbeinschlägen in Richtung Küste zu schwimmen.
Bei Sonnenuntergang trat sie immer noch. Sie hatte das schreckliche Gefühl, sich vom Land zu entfernen, statt ihm näher zu kommen. Aber sie schwamm weiter, es gab keine andere Wahl. Irgendwann in der Nacht hatte sie plötzlich das gegenteilige Gefühl. Ihr war, als würde sie ans Ufer gezogen. Die Lichter, die sie in der Nacht zuvor gesehen hatte, tauchten wieder auf. Es war nicht so weit wie befürchtet.
Als Kind hatte sie Bilder vom Meer und der Welt darüber gemalt. Wo beides zusammenstieß, malte sie einen schrägen Boden, wie eine Hotelrampe für Rollstühle. Genauso präsentiert sich ihr Europa. Sie findet sich im geisterhaft flachen, von Hunden und Menschen verpissten Wasser wieder. Hier ein durchtränkter Batzen Papier. Dort die blinden Augen eines Fischkopfs, der sich auf einem Stück Spiraldraht dreht. Nach zwei Nächten im Meer hebt sie ihr Gesicht vor einer Reihe sonnenbadender, dem Meer entgegengestreckter Füße aus der seichten Brühe in die leise murmelnde Luft.
Einer nach dem anderen kommen die Sonnenbadenden aus ihren Liegstühlen hoch. Sie setzen sich auf, die Gesichter hinter Sonnenbrillen, unter weißen Schlapphüten. Mit den Fingern zeigend, denkt sie, aber vielleicht auch nicht. Sie kämpft sich mit weichen Knien auf die Beine, die kostbare Plastiktüte an sich gedrückt, schafft ein paar stolpernde Schritte wie eine verkrüppelte alte Frau. Wegen all der Menschen fühlt sie sich getrieben, weiterzugehen, sich zu bewegen. Sie zwingt ein Lächeln auf ihr gespanntes Gesicht, schlägt eine Richtung ein und hält sich an den nassen Kies. Nur ein bisschen mehr, und das Lächeln zerreißt ihr das Gesicht. Sie erlaubt sich nicht, den Strand hinaufzublicken. Sie kennt das schuldige Erröten, das sie im ersten Hotel gespürt hatte, sooft ihr Blick an der Obstschale hängenblieb, die für die Gäste in der Empfangshalle stand. Dieses Schuldgefühl war ihr ein Rätsel, da sie im Hotel doch nie aufs Essen aus gewesen war. Es hatte etwas mit Überfluss zu tun - und sie wusste, der Überfluss lag gleich hinter dem Strand. Also setzt sie ihr...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.