1. Kapitel
Direkt und ehrlich.
So würde Liam Stone mich wollen, hat er behauptet - aber das ist nicht die Art, mit der er mir begegnet ist. Er hat mich belogen. Er hat mich verletzt. Und trotzdem klammert sich irgendein geisteskranker, dämlicher Teil von mir noch an die Vorstellung, es könne eine logische Erklärung für das Gespräch zwischen ihm und Derek geben, das ich gestern Abend belauscht habe. Derselbe Teil von mir, der Liam als meinen Helden betrachtet hat, den Mann, der bereit war, meinem sprichwörtlichen Godzilla den Kampf anzusagen.
Dabei war er nie wirklich mein Held. Und nach einer schlaflosen Nacht im Cherry Creek Inn habe ich mich der Realität gestellt. Ich darf nicht riskieren, ihm zu trauen - oder sonst irgendjemandem -, bis ich mich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt habe, die jemand aus meinem Gedächtnis löschen will. Das bedeutet, ich muss Colorado und meine Identität als Amy Bensen hinter mir lassen und mich nach Texas aufmachen. Genau daran arbeite ich gerade.
Begleitet von einem Windstoß betrete ich das Pfandleihhaus in der Innenstadt von Denver, streiche mir das lange blonde Haar aus dem Gesicht und blicke mich um. Die Vitrinen aus Glas bilden ein T, und dahinter ist niemand zu sehen. Trotzdem spüre ich das allzu vertraute Gefühl, beobachtet zu werden, und würde am liebsten gleich wieder gehen. Laut dem Kerl vom Flohmarkt, der mir für fünfzig Dollar eine billige Ausweisfälschung gemacht hat, kann ich hier eine qualitativ hochwertigere bekommen, die es mir erlauben wird, zu verschwinden. Und genau die brauche ich, denn Liam Stone verfügt über genug Macht und Reichtum, um mich zu jagen und aufzustöbern, wenn ich meine Spuren nicht gründlich verwische.
»Hallo?«, rufe ich und schlinge in der Kälte der Klimaanlage die Arme um meinen Oberkörper. Ich friere in der weißen Shorts und dem roten Tanktop, die ich nach dem katastrophalen Ende des Dinners mit Liam gestern Abend bei Walmart gekauft habe. Es geht mir wirklich gegen den Strich, dass ich nicht zurück in meine Wohnung kann, um meine Sachen zu holen - auch wenn das meiste davon ohnehin Liam gekauft hat. Sobald ich endlich untertauchen kann, werde ich das Geld von meinem New Yorker Konto holen und mich mit ein paar zusätzlichen Basics eindecken, die sich auch anfühlen wie mein Eigentum.
Ich gehe weiter in den Laden und bete, dass der Zwanziger, den ich dem Taxifahrer in die Hand gedrückt habe, reicht, damit er auf mich wartet. »Hallo?«, rufe ich noch einmal, ernte jedoch wieder nur Stille.
Je mehr Sekunden verstreichen, desto unwohler wird mir. Zu guter Letzt beschließe ich, nach dem Taxi zu schauen und mir einen neuen Plan zu überlegen, und wende mich in Richtung Ausgang.
»Señorita.«
Als ich mich umdrehe, sehe ich mich einem untersetzten Mann Mitte fünfzig gegenüber, dessen buschiger Bart genauso grau und drahtig ist wie sein zu langes Haar. »Ich bin auf der Suche nach Roberto«, erkläre ich. Ist dieser schmuddelige Fremde mein Ticket in die Freiheit?
Als er in seinen Jeans und dem fadenscheinigen, zerknitterten T-Shirt vor mir steht, umwabert ihn Zigarettengestank. »Ich bin Roberto«, verkündet er. Mit zwei Fingern greift er sich eine Strähne meines langen blonden Haars, und es kostet mich große Mühe, nicht vor ihm zurückzuzucken, als er hinzufügt: »Mein Kontakt hat gesagt, Sie wären dunkelhaarig.«
Ich weiche einen Schritt nach hinten und hebe meine billige, übergroße Handtasche vor den Körper - zwischen ihn und mich. »Das war eine Perücke«, sage ich. »Ich hab sie dabei.«
»Für einen schnellen Identitätswechsel«, kommentiert er. »Kluge Mami.«
Was eine »Mami« sein soll, weiß ich nicht, aber nach der grauenhaften Fälschung von seinem Kontakt auf dem Flohmarkt habe ich beschlossen, dass ich eine bessere Tarnung brauche. Im schlimmsten Fall gehe ich immer noch mit meinen Amy-Bensen-Fotos durch.
»Zweitausendfünfhundert Dollar«, sagt er.
Mir fällt die Kinnlade herunter. »Was? Nein, mir hat man gesagt, es kostet fünfhundert.«
»Sie müssen dringend genug verschwinden, dass Sie zwei Haarfarben wollen. Das bedeutet, Sie brauchen die besten Papiere, die ich Ihnen machen kann. Die kosten zweitausendfünfhundert Dollar.«
»Ich hab keine zweitausendfünfhundert Dollar. Was bekomme ich für fünfhundert?«
»Nichts. Man hat Ihnen eine falsche Auskunft gegeben.«
Mir krampft sich der Magen zusammen. »So viel habe ich nicht.«
»Tja, dann«, entgegnet er mit schmal werdenden Lippen, »müssen Sie wohl Ihren Flohmarkt-Ausweis benutzen.« Und schon hat er sich abgewandt und interessiert sich nicht mehr für mich.
»Nein«, schiebe ich rasch hinterher. Die Ausweisfälschung, die sein Kontakt mir heute Vormittag gemacht hat, würde man mir nicht mal im Supermarkt an der Kasse abnehmen, geschweige denn am Flughafen. »Warten Sie.« Er dreht sich zu mir um und hebt fragend eine dunkle Augenbraue. »Ich habe siebenhundert Dollar.«
»Zweitausendfünfhundert.«
Meine Gedanken rasen, während ich ausrechne, wie viel mir zum Überleben bleibt, wenn ich höher gehe. Ich entschließe mich zu einem festen »Tausendfünfhundert Dollar. Das ist alles, was ich habe«.
Gierig gleitet sein Blick an meinem gesamten Körper hinab, dann zurück zu meinem Gesicht, und ich fühle mich besudelt. »Vielleicht können wir einen Handel machen«, schlägt er vor. »Sie geben mir etwas, was ich will. Ich gebe Ihnen etwas, was Sie wollen.«
Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Ich will überleben. Ich will antworten. Ich will Amy Bensen verschwinden lassen, aber nicht auf diese Weise. »Nein, ich .«
»Doch«, widerspricht er, und seine Hände landen auf meinen Schultern.
Panik bricht über mich herein und schickt einen Adrenalinstoß durch meine Adern. Ich schlage seine Hände weg. »Nein!«
Unbeeindruckt packt er meine Handgelenke. »Du wirst es genießen, versprochen.«
»Lassen Sie mich los!«, fauche ich. Über meine Kopfhaut zieht ein vertrautes Prickeln, Vorbote eines meiner gefürchteten Flashbacks, die mich völlig außer Gefecht setzen können. »Nein. Nein.« Wie ein Messer schneidet der Schmerz durch meinen Kopf. »Oh Gott. Nicht jetzt.«
»Oh Gott ist richtig«, verspricht er. »Das wirst du wieder und wieder stöhnen.«
In seinen Augen sehe ich, was er vorhat. Er wird mir keinen Ausweis fälschen. Stattdessen wird er mich zu einem Opfer machen, wenn ich es zulasse. Ich habe es so satt, jedermanns Opfer zu sein.
Abrupt reiße ich das Knie hoch und lege all meine Kraft in den Stoß in seine Weichteile. Grunzend krümmt er sich nach vorn und japst vor Schmerzen. Das Prickeln in meinem Kopf wird deutlicher, und hastig stoße ich die Tür auf, um die Flucht zu ergreifen, bevor ich zusammenbreche. Mit einem raschen Blick nach rechts bestätigt sich, dass der Taxifahrer mich im Stich gelassen hat. Blind renne ich los, so schnell ich kann.
Vor meinen Augen tauchen schwarze Punkte auf, und ich haste in ein Diner und steuere geradewegs auf das Toilettenschild zu. Sobald ich auf dem winzigen Örtchen bin, schließe ich mich ein und presse den Rücken an die Tür. Der Schmerz zerreißt meinen Schädel, und mit geballten Fäusten rutsche ich an der Tür nach unten, gerade rechtzeitig. Unvermittelt finde ich mich in der Vergangenheit wieder.
Ich parke meinen Toyota Camry vor dem Haus und stelle mir vor, wie es sein wird, wenn ich in ein paar Monaten auf dem College bin und nicht mehr zu einer bestimmten Uhrzeit zu Hause sein muss. Als mich die heiße texanische Nachtluft empfängt, fällt mir auf, dass auf der Veranda kein Licht brennt. Wie ungemein . seltsam.
Stirnrunzelnd werfe ich die Wagentür zu. Der SUV meiner Eltern steht in der Auffahrt. Da meine Mom mich nicht auf der Veranda erwartet, um mir vorzuhalten, dass ich zehn Minuten zu spät bin, hat sie vielleicht die Migräne eingeholt, gegen die sie sich vorhin noch gewehrt hat. Trotzdem ist mir nicht ganz wohl, und ich halte den Schlüssel in der Hand bereit.
Rasch marschiere ich aufs Haus zu und schleiche - in der Hoffnung, einer Standpauke zu entgehen - auf Zehenspitzen die Verandatreppe hinauf. Die dritte Stufe knarzt laut, und ich erstarre. Verflixt noch mal, das ist alles Danas Schuld. Ich habe ihr schon vor einer halben Stunde gesagt, dass ich aus dem Kino losmuss, aber da hat gerade der Captain des Footballteams mit ihr geredet, in den sie hoffnungslos verknallt ist. Hastig nehme ich die restlichen Stufen, und sobald ich die Veranda erreiche, schließen sich Finger um meinen Oberarm. Ich schnappe nach Luft, und eine große Hand legt sich über meinen Mund. Panisch greife ich danach und versuche, sie wegzuzerren.
Im nächsten Augenblick werde ich gegen die Wand gedrängt, die Hand ist noch immer über meinem Mund. »Hast du's drauf angelegt, dass dich jemand schnappt und dir was antut?«
Blinzelnd erkenne ich meinen großen Bruder in der tintenschwarzen Nacht, und er nimmt die Hand von meinem Mund. Ich ziehe eine Grimasse, reiße das Knie nach oben und stoppe Millimeter vor seinen Weichteilen. »Ich sollte dir was antun. Du hast mir eine Scheißangst eingejagt, Chad! Seit wann seid ihr wieder hier, du und Dad?«
Er ignoriert die Frage. »Wenn du etwas Ungewöhnliches siehst, wie zum Beispiel, dass auf der Veranda kein Licht ist, dann stürm nicht einfach mitten hinein und hoff, dass es schon irgendwie gut geht. Dich bloß in deiner Märchenwelt von Dates am Samstagabend und Teenager-Getuschel rumzutreiben hält dich nicht am Leben.«
Augenblicklich bin ich sauer....