Vor sechs Jahren .
Es ist heiß und stickig, und ich bin stinksauer. Ich halte mit meinem Motorrad auf der Landstraße kurz vor New Beanfels, Texas, neben einer Limousine an, während zu meiner Linken die Sonne untergeht. Dann nehme ich den Helm ab, streiche mir die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht, die daran festkleben, und steige von der Maschine. Ich lege den Helm auf den Sitz und stemme die Hände gegen den Bund meiner ausgeblichenen Jeans. Die Türen der Limousine öffnen sich, und zwei bullige Typen in Anzügen steigen aus. Einer der beiden öffnet die hintere Tür, und ich knirsche mit den Zähnen, als Rollin Smith aussteigt, der zweiunddreißigjährige Sohn des Ölmagnaten Sheridan Smith. Er trägt einen teuren Anzug und streckt sich. Wie immer perfekt frisiert - außer wenn meine Mutter ihm gerade mit den Fingern durch das Haar gefahren ist. Die Vorstellung, dass sie mit diesem Mistkerl geschlafen hat, um ihn so dazu zu bringen, die Schulden meines Vaters zu vergessen, ist nur schwer zu ertragen. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Sache wir tatsächlich drinstecken. Wie die Schuld wirklich aussieht. Wie groß sie ist, oder womit ich mich einverstanden erklärt habe, um sie verschwinden zu lassen.
Das Arschloch bedenkt mich mit einem arroganten Grinsen, und ich tröste mich über seine Anwesenheit mit einem Tagtraum hinweg, in dem ich seinen widerlichen Schädel gegen das Wagenfenster ramme. Ich spiele das wieder und wieder durch. Ich spüre regelrechte Euphorie, als ich mir vornehme, ihn umzubringen, bevor diese ganze Sache vorbei ist.
»Ich hoffe, das Lächeln bedeutet, dass Sie gute Neuigkeiten für mich haben«, meint er, als er mit seinen Bodyguards, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen, vor mir aufbaut. Er hat keine Ahnung, wie mutig es ist, mir derart nahe zu kommen. Jetzt steht er so dicht vor mir, dass ich ihm die Hände um die Kehle legen könnte. Der widerliche Geruch seines Aftershaves, das ich mehr als einmal an meiner Mutter gerochen habe, steigt mir in die Nase.
»Habe ich gelächelt?«, erwidere ich. »Vermutlich bin ich einfach nur froh, Sie zu sehen. Wo ist Ihr Vater?«
»Ich habe ihm gesagt, dass wir beide uns mal in Ruhe unterhalten müssen. Haben Sie den Zylinder gefunden?«
»Noch nicht«, lüge ich, obwohl ich mehr getan habe, als nur das zu finden, was er will. Jetzt weiß ich auch, worum es sich dabei handelt und warum es Sheridan niemals in die Hände fallen darf.
»Wirklich? Denn ich habe aus einer verlässlichen Quelle gehört, dass Sie ihn längst haben. Soweit ich weiß, ist er sogar schon seit Wochen in Ihrem Besitz, während wir seit Monaten darauf warten.«
Bei seinen Worten gefriert mir das Blut in den Adern, denn wenn das stimmt, kann es nur eines bedeuten: Jemand aus der Elitetruppe aus Schatzjägern, mit denen ich zusammenarbeite, hat mich verraten. Aber ich lasse mir dennoch nichts anmerken. »Eine Quelle muss nicht gleich verlässlich sein, nur weil Sie sie bezahlen, es sei denn, Sie haben Beweise. Und da Sie offenbar keine haben, hat man Sie wohl übers Ohr gehauen.«
»Sie haben uns selbst erzählt, dass Sie eine handfeste Spur hätten. Ein Mann, der vermeintlich besitzt, wohinter wir her sind.«
»Er war eine handfeste Spur, bis er von jemandem umgebracht wurde. Er ist wegen eines gottverdammten Zylinders von der Größe eines Radiergummis gestorben. Aber mir wird so etwas nicht passieren. Ich bin raus aus der Sache.«
Ich rechne damit, dass er flucht oder wütend wird. Aber das tut er nicht, was mich sehr irritiert. Hier stimmt doch was nicht. Er starrt mich einfach nur an, und die Sekunden verstreichen. »Falls Sie Ihre Spielchen mit uns spielen und auf mehr Geld aus sind .«
»Das hier ist keine Verhandlung. Ich steige aus.«
Er starrt mich an, und die Sekunden scheinen sich endlos zu dehnen. »Ich muss die Mitglieder des Konsortiums anrufen, damit sie weitere Geldmittel genehmigen.«
»Von mir aus können Sie den gottverdammten Dagobert Duck anrufen, das ist mir scheißegal. Ich sagte doch schon, dass es hier nicht ums Geld geht.«
»Und dennoch schuldet Ihr Vater uns welches.«
»Nicht mehr.« Ich greife nach der Reisetasche, die ich auf das Motorrad gebunden habe, und schleudere sie auf den Boden. Darin befindet sich die Hälfte meiner Ersparnisse, und ich wünsche mir, dass ich diese Arschlöcher einfach gleich ausgezahlt hätte.
Rollin bedeutet einem seiner Männer, die Tasche aufzuheben, die dieser ihm dann reicht. »Zehn Millionen?«
»Ganz genau. Für mich hat sich die Schatzsuche gelohnt. Aber es ist so, wie ich gesagt habe: Ich bin raus. Meine Familie ist ebenfalls raus aus der Sache. Und halten Sie sich gefälligst von meiner Mutter fern, oder ich lege Sie um.«
Er sieht mich verächtlich an. »Wir haben Ihnen doch gesagt, dass wir Ihr Geld nicht wollen. So leicht kommen Sie uns nicht davon. Es geht das Gerücht, dass Sie diesen Zylinder längst haben. Sie müssen wissen, dass jedes einzelne Mitglied unseres elfköpfigen Konsortiums Sie umbringen würde, um in seinen Besitz zu gelangen, ebenso wie viele andere Leute. Mit anderen Worten: Es ist in Ihrem besten Interesse, ebenso wie in dem Ihrer Familie, allseits bekannt zu machen, dass wir den Zylinder haben.«
Mein Blut wird zu Eis, aber ich halte mich an den einzigen Plan, der funktionieren wird, und leugne weiter. »Verdammt noch mal. Ich habe ihn nicht, und daran werden auch Ihre ganzen Drohungen nichts ändern.«
»Fünfhundert Millionen.«
Und da ist es, das Angebot, das bestätigt, dass ein sterbender Mann mit einem Messer in der Brust die Wahrheit gesagt hat, als er mich um Hilfe anflehte. Dass dieser winzige Zylinder irgendwie genug saubere Energie produziert, um die Welt mit Strom zu versorgen und Sheridan mitsamt der ganzen Ölindustrie zu ruinieren.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass es Ihnen bei der Summe die Sprache verschlagen hat?«, hakt er nach.
»Ich weiß nicht, in welcher Sprache ich es Ihnen noch sagen soll: Ich habe den Zylinder nicht.« Ich wiederhole es auf Spanisch und Französisch. »No lo tengo. Je ne l'ai pas. Soll ich weitermachen?«
Anscheinend findet er meine besserwisserische Antwort nicht besonders unterhaltsam, denn er ignoriert sie und entgegnet: »Achtundvierzig Stunden. Genau hier an dieser Stelle. Entweder bringen Sie mir das Ding, oder Sie zahlen den Preis dafür.« Er wendet sich ab, geht zurück zu seiner Limousine und steigt ohne ein weiteres Wort oder einen Blick zurück wieder ein.
Ich stehe einfach nur da, starre ihm hinterher und fühle mich, als wäre gerade der Teufel persönlich aus der Hölle gekrochen und hätte mir ein Ultimatum gestellt. Wenn der alte Mann die Wahrheit gesagt hat, dann würde ich Sheridan mit dem Aushändigen des Zylinders praktisch den Schlüssel zur Weltherrschaft überreichen. Er könnte damit ganz allein Industrien vernichten und eine neue erschaffen, damit die Welt nur noch von ihm abhängig ist. Oder er könnte eine Quelle für saubere Energie zerstören, die die Welt eines Tages vielleicht retten würde.
Ein Arschloch wie er darf auf keinen Fall derart viel Macht besitzen. Aber wenn man bedenkt, wie viel Geld zwischen der Öl- und der Kohleindustrie und unserer eigenen Regierung hin- und herfließt, fragt man sich, ob das nicht für jeden gilt. Ich setze meinen Helm auf und steige wieder auf mein Motorrad. Mir war immer klar gewesen, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem ich mich zwischen dem Schutz des Zylinders und dem Geld entscheiden musste, und ich hatte längst einen Plan geschmiedet. Es musste doch unter meinen Ressourcen jemanden geben, der einen gefälschten Prototyp herstellen kann, den ich Rollins aushändige, um mir dadurch wenigstens etwas mehr Zeit zu verschaffen. Dann kann ich mich um denjenigen kümmern, der mich aus dem Untergrund verraten hat, und ihn für seine Sünden büßen lassen. Ich hätte mich nie für einen Mann gehalten, der einmal darauf aus sein könnte, Blut zu vergießen, aber an dem Tag, an dem ich Sheridan Smith begegnet bin, hat sich alles geändert. Ich habe mich verändert, und jetzt gibt es kein Zurück mehr.
***
Vier Stunden später befinde ich mich auf der anderen Seite von Austin, Texas, und wieder im Haus meiner Familie in Jasmine Heights, wo ich die Nacht verbringen will. Ich sitze an dem kleinen, eckigen Küchentisch und trinke eine Tasse Kaffee, nachdem mir meine Mutter das gewünschte Bier verweigert hat. Anscheinend hält sie mich trotz meiner vierundzwanzig Jahre noch immer für ein Baby. Ich reibe mir über die Bartstoppeln und versuche, mich an eine Zeit vor fünf Jahren zu erinnern - die Zeit vor dem Untergrund, in der ich diese Person gewesen bin, als die sie mich auch heute noch gern sieht. Lara erscheint im Türrahmen und sieht deutlich jünger aus als achtzehn. Ihr blondes Haar fällt ihr auf die Schultern, und ihre blauen Augen sehen so groß und unschuldig aus wie eh und je. Ich mustere das mir vertraute braune T-Shirt, das sie zu einer Jogginghose trägt, und lache, als sie auf mich zukommt. »He, Schwesterherz, trägst du immer noch mein altes Shirt?«
»In Ägypten hat es mir Glück gebracht«, erwidert sie und setzt sich mir gegenüber an den Tisch. »Ich habe es getragen, als wir dieses Grab gefunden haben, erinnerst du dich?«
»Wie könnte ich das je vergessen? Du hast geschrien, als würde dich jemand angreifen.«
»Es war ja auch aufregend«, meint sie lachend, greift nach meiner Kaffeetasse und trinkt einen Schluck, um dann ihre süße kleine Nase zu rümpfen. »Hast du noch immer keine Haare auf der Brust? Der Kaffee ist so stark, dass er mir ein Loch in den Bauch brennt.«
»Dann trink ihn nicht. Wir wollen ja schließlich nicht,...