Schweitzer Fachinformationen
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DREI
Ich starre auf das ruinierte Buch und dann auf den toten Mann, während ich noch versuche, die ungeheuerliche Situation einzuschätzen, und meine Gedanken in alle Richtungen jagen. Ich müsste den Mord anzeigen, eine Erklärung vor der Obrigkeit abgeben und meine Unschuld beteuern. Doch wer würde einem Sklaven Glauben schenken? Denn das ist alles, was ich bin, ganz gleich, welchen Status ich innerhalb des Palastes habe. Im Innern seiner Mauern befindet sich ein magisches, geschütztes Reich, doch außerhalb davon bin ich nichts weiter als ein viel zu fein gekleideter Schwarzer, der mit dem Blut eines ehrbaren Kaufmanns besudelt ist. Und ich gaukele mir nicht vor, dass der Sultan sich herabließe, mir mein Schicksal zu ersparen, falls ich festgenommen würde. Viel wahrscheinlicher ist, dass er einen seiner Wutanfälle bekommt, weil ich mich verspätet habe, und mir den Kopf abschlägt, sobald ich ihm wieder unter die Augen trete.
Ich streife den ruinierten Umhang ab und wickle den bluttriefenden Koran hinein. Dann sehe ich mich um und entdecke Sidi Kabours uralten Burnus an einem Haken neben dem Eingang. Er kleidete sich nicht wie ein wohlhabender Mann, aber das ist charakteristisch für Muselmanen: Man erhebt sich nicht über seine Nachbarn. Ich tappe zu dem Burnus und merke zu spät, dass ich eine Spur von blutigen Fußabdrücken hinterlasse. Der Burnus ist zu kurz, aber ich fühle mich verborgen darin, abgesehen natürlich von den juwelenbesetzten gelben babouches, die mittlerweile eine stumpfe rote Farbe angenommen haben. In diesem Land tragen nur Frauen rotes Schuhwerk, und was immer ich auch sein mag, eine Frau ganz bestimmt nicht. Ich ziehe sie aus und stecke sie in das Bündel mit dem Buch. Lieber barfuß als blutbefleckt, besser, man hält mich für einen Bettler oder Juden als einen Mörder. Ich stülpe die lange, spitze Kapuze über den Turban, ziehe den Kopf ein, um meine Größe zu verbergen, werfe mir das Bündel über die Schulter und trete mit gesenktem Kopf hinaus in den souq.
»Sidi Kabour!«
Die Stimme klingt neugierig, fragend. Ich wende mich nicht um.
An der ersten Torreihe winken mich die Palastwachen durch. Sie frieren und sind zu gelangweilt, um sich über meinen seltsamen Kostümwechsel zu wundern. Ich überquere den für Paraden bestimmten Platz, haste vorbei an den Depots und den vielen Baracken, wo die aus zehntausend Mann bestehende Schwarze Garde des Sultans stationiert ist, und passiere auch die zweite Torreihe, die zu den Pavillons führt.
Während ich eilig ausschreite, muss ich Haufen von Sand und Pyramiden von Kalkmörtel, Bottichen mit tadelakt, Stapeln von Holz und Kacheln ausweichen. Ich laufe an der koubba vorbei, wo der Sultan die Geschenke aufbewahrt, die man ihm darbietet. Was würden die Spender sagen, wenn sie wüssten, dass die Raritäten, die sie so sorgsam ausgesucht haben, auf einem großen Haufen ähnlicher Objekte landen, wo sie dann verstauben? Ismail ist wie sein kleiner Sohn Zidan: Schon wenige Minuten nachdem er ein Geschenk in Empfang genommen hat, langweilt es ihn.
Die Wachen hätten mich anhalten müssen: ein barfüßiger, blutbefleckter Mann, der mit weiß Gott was unter dem Arm an ihnen vorbeirennt. Doch sie haben sich zum Schutz vor dem Wetter nach drinnen verzogen. Doch je näher ich den Gebäudeflügeln des Sultans komme, umso wachsamer sind sie notgedrungen. »He! Du da! Zeig uns dein Gesicht und sag uns, was du willst!«
Es ist Hassan, und hinter ihm tauchen jetzt drei von Ismails zuverlässigsten Wächtern auf, Furcht einflößende Gestalten, die noch einen Kopf größer sind als ich, wahre Muskelpakete. Ich habe gesehen, wie Hassan mit bloßen Händen einem Mann das Genick gebrochen und Yaya einem anderen, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Lanze durch den Oberschenkel gebohrt hat. Ich schiebe die Kapuze der Djellaba zurück. »Ich bin's, Nus-Nus.«
»Du siehst aus wie eine ersoffene Ratte, die Brot aus der Kornkammer gestohlen hat.«
»Wäsche.« Immerhin nicht ganz gelogen.
»Nun, am besten verziehst du dich schnell ins Trockene, sonst wird sie ein zweites Mal nass.«
Ich haste an ihnen vorbei, durch den gewaltigen, hufeisenförmigen Torbogen in eine große Halle. Meine bloßen Füße hallen auf dem glatten Boden wider. Ich kann eine Schar von Höflingen hören, die mir entgegenkommen. Doch dann stehe ich schon vor meinem Zimmer, einem Vorraum von Ismails Pavillon, und husche hinein, bevor sie mich sehen können.
Im Brunnen des Hofes draußen wasche ich das Blut von Händen und Füßen in der Hoffnung, dass niemand mich beobachtet, und vergrabe dann die ruinierten babouches in der weichen Erde unter dem Hibiskus. Doch was soll ich mit dem Burnus und dem Koran machen? Mein karges Zimmer ist ein beeindruckender Raum, mit Bogenfenster, einer Decke aus Zedernholz und Terrakottakacheln an den Wänden. Abgesehen von einem schmalen, mit Rosshaar gepolsterten Diwan enthält es nur einen Gebetsteppich, eine Schreibschatulle für meine Utensilien und eine hölzerne Truhe, auf der ein Messingbrenner und ein Kerzenhalter stehen. Zusammen mit den Kleidern an meinem Leib, dem Beutel, den ich bei mir habe, und dem Inhalt der Truhe stellen sie meinen gesamten weltlichen Besitz dar.
Ich räume Brenner und Kerzenhalter beiseite, lege den Inhalt der Truhe auf mein Bett und habe gerade noch Zeit, das Bündel hineinzustopfen, als ich die Stimme des Sultans höre.
»Nus-Nus!«
Diese Stimme ist unverkennbar. Ganz gleich, wie ruhig er spricht, wie viele Menschen ihn umgeben oder wie laut ihr Geplapper sein mag, sie berührt nicht nur mein Gehör, sondern auch etwas tief in meinem Inneren. Ich ziehe das rotfleckige Gewand aus, streife das erstbeste Ding über, das ich finden kann - einen dunkelblauen Umhang -, schlüpfe in meine alten babouches, stürze hinaus und werfe mich vor ihm auf den Boden.
»Steh auf, Nus-Nus! Wo ist das Buch?«
Mein armes, geschwächtes Bewusstsein hat sich noch keine plausible Erklärung für den Verbleib des geschändeten Korans überlegen können. Während ich die Stirn auf die kalten Kacheln presse, schießt mir die Vorstellung durch den Kopf, wie die Leute fragen: Ist er tapfer gestorben, der arme Nus-Nus? Hat er viel Blut vergossen? Was waren seine letzten Worte?
»Das Buch, mein Junge! Steh auf und hol es. Wie sollen wir sonst meine Änderungen festhalten?«
Ich brauche ein oder zwei Sekunden, bis die Bedeutung seiner Worte in mein benebeltes Gehirn eingedrungen ist, und unter der Welle der Erleichterung, die über mir zusammenschlägt, sind meine Beine einen Augenblick lang wie gelähmt. Dann rappele ich mich auf, renne zurück in mein Zimmer und komme mit der Schreibschatulle und dem Buch in der Hand wieder zurück.
Ismail lässt mich nicht aus den Augen. Er zupft an seinem dunklen und sauber gegabelten Bart. Die glänzenden Augen sind schwarz, die Lider schwer und umschattet. Ein Funke von Belustigung liegt in seinem Blick, als wüsste er etwas, im Gegensatz zu mir, das durchaus mit dem Zeitpunkt und der Art meines Scheidens aus diesem irdischen Leben zu tun haben könnte. Doch heute ist er in Grün gekleidet, ein gutes Zeichen. Grün ist seine Lieblingsfarbe - und die des Propheten - und scheint zu signalisieren, dass er nicht ans Blutvergießen denkt. Rot hingegen - oder Gelb - ist etwas anderes, dann bringen wir alle uns lieber in Sicherheit.
»Komm!«
Er wendet mir den Rücken zu, und ich reihe mich in die große Schar der Vorarbeiter ein, dicht gefolgt von Kaid Mohammed ben Hadou Ottur - auch bekannt als al-Attar, der Hausierer, der sich mit drei anderen Koryphäen des Hofes unterhält, und ganz zuletzt dem hajib, dem Großwesir und Obersten Minister Si Abdelaziz ben Hafid. Letzterer schließt jetzt zu mir auf.
»Alles in Ordnung, Nus-Nus? Du scheinst ein bisschen außer Atem zu sein.« Seine fleischigen Lippen sind zu einem Lächeln verzogen, doch seine Augen bleiben davon unberührt. Wir alle hier tragen unsere Maske.
»Sehr gut, Sidi, vielen Dank.«
»Alhamdulillah!«
»Dank sei Gott«, wiederhole ich förmlich, obwohl ich nicht begreife, wie ein solcher Mann den Namen des Barmherzigen aussprechen kann, ohne auf der Stelle tot umzufallen.
»Das freut mich. Ich wäre untröstlich, wenn dir etwas zustieße.« Er senkt den Blick. »Sieht aus, als hättest du dich geschnitten.«
Mein Herz macht einen Satz. »Das ist nur Schlamm.« Trotzig halte ich seinem Blick stand und sehe, wie das Lächeln aus seinem Gesicht verschwindet und es so unmenschlich zurücklässt wie das eines Reptils. Dann lässt er den Arm fallen, beiläufig, sodass es aussieht wie ein Zufall, aber auch so, dass er meinen Schritt streift. Er beobachtet mich, während ich vergeblich versuche, meinen Ekel zu verbergen.
»Wie du meinst, Nus-Nus. Wie du meinst.«
Sein Blick durchbohrt mich noch einen Augenblick, dann wendet er sich ab und drängt sich durch das Gefolge bis zum Sultan vor, wie eine greifbare Ermahnung für mich und alle anderen, dass er sich - und nur sich - für unserem Herrscher ebenbürtig hält.
Ben Hadous blasser Blick schweift über ihn hinweg, und ich spüre die Abneigung, die von dem Kaid ausgeht, die Feindseligkeit, gepaart mit Verachtung, obgleich sein Gesicht reglos bleibt. Dann dreht er den Kopf, und dieselben grauen Augen bleiben an mir hängen: scharf und aufmerksam. Ich habe das Gefühl, dass er in diesen wenigen Augenblicken alles wahrgenommen hat, was sich zwischen mir und meinem Feind abgespielt...
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