Kapitel 1
Überredungskünste
2 Jahre später
Denise
Als ich mich in meiner Rumpelkammer umsah, entfuhr mir ein ergebener Seufzer. Doch es führte kein Weg daran vorbei.
Weil ich Stress mit meinen Mietern hatte, musste ich umziehen - schon wieder. Und bevor das passierte, würde ich ausmisten. Unterlagen, die nicht mehr gebraucht wurden, würden in den Papiermüll wandern. Irgendwelche Deko, die schon lange nicht mehr modern war und mir seit Jahren nicht mehr gefiel, würde verschwinden, und Kleidung musste auch aussortiert werden.
Ich schnappte mir die ersten Mappen von einem Stapel, den ich schon zusammengesucht hatte, und setzte mich damit an den Esstisch. Blatt für Blatt ging ich durch, warf Unwichtiges auf einen Haufen für den Müll, die anderen Unterlagen beließ ich im Ordner. Sobald ich in meiner neuen Wohnung war, würde ich mir ein neues System für die Unterlagen einfallen lassen. Doch dazu hatte ich jetzt gerade einfach keine Lust.
Ich legte den Ordner beiseite, und eine Mappe kam zum Vorschein. Ich wusste sofort, was ich darin finden würde, und ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus.
Schottland.
Ich hatte seit Jahren den verrückten Traum, irgendwann in das Land der Schafsherden mit seinen unendlichen Weiten, des Whiskeys und der Dudelsäcke auszuwandern, um dort ein kleines Bed & Breakfast aufzumachen. Ich öffnete die Mappe, und die Zeichnungen und Ideen, die ich mit Sarah zusammen gesammelt hatte, erschienen.
Ich konnte mich an den Tag ihrer Trennung von Mark nur zu genau erinnern - trotz des Alkohols. Sie hatte mich damals erst nicht für voll nehmen wollen. Wer könnte das auch schon, bei solch einem Traum? Doch waren Träume nicht immer ein wenig verrückt? Und dazu da, dass man daran glaubte, sie könnten irgendwann doch in Erfüllung gehen?
Ich hatte all das vor Jahren wieder in eine der hinteren Schubladen in meinem Kopf verbannt, denn mein Leben fand hier in Norddeutschland statt. Sarah war hier, und ich wusste, dass ich sie niemals einfach so alleine lassen würde können. Immerhin war sie meine Tochter. Doch ich fragte mich, wann es Zeit war, an mich zu denken? Würde es irgendwann so weit sein?
Ich blätterte durch die Mappe und konnte kaum glauben, wie detailliert unsere Planung vor zwei Jahren gewesen war. Niemals hätte ich gedacht, unsere Pläne noch einmal in den Händen zu halten, und doch waren sie jetzt da.
War das vielleicht ein Wink des Schicksals? Sollte ich vielleicht gerade jetzt meinen Traum in Angriff nehmen?
Ein Zwiespalt machte sich in mir breit, und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Irgendetwas in mir schrie danach, es einfach zu wagen und hier alles aufzugeben. Man könnte sich ja mal informieren, was da alles für Kosten auf einen zukommen würden, oder nicht?
Doch könnte ich letztlich mein Leben hier in Bremen hinter mir lassen? Meinen Job, meine Wohnung und auch meine Tochter zurücklassen? Und was wäre, wenn ich das vielleicht gar nicht müsste? Ich wusste noch, dass Sarah vor zwei Jahren gesagt hatte, sie könnte ja auch mitkommen. Doch würde sie heute immer noch dieser Ansicht sein?
Ich bezweifelte es. Sie war glücklich in ihrem Leben. Zumindest erzählte sie mir das immer wieder.
Ich klappte die Mappe zu, gerade als es an der Tür klingelte. Tief durchatmend stand ich auf und öffnete.
»Hey, Mama!«, rief Sarah, sobald sie durch die Haustür war und mich erblickte.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte ich leise.
»Alles gut bei dir?«, begrüßte sie mich und hauchte mir einen Kuss auf die Wange - wie immer.
»Ja, und bei dir?« Ich trat einen Schritt zur Seite, während sie sich aus ihrer dicken Winterjacke schälte und dann ins Wohnzimmer ging.
»Ich weiß auch nicht. Irgendwie bin ich im Moment nur noch kaputt von der Arbeit. Wir haben so viel Stress, dass es schon gar keinen Spaß mehr macht. Aber von nichts kommt nichts, oder?«
Sie lächelte mich an, während ihr Blick auf den Esstisch fiel. »Oh, du bist schon am Ausmisten? Hast du denn bereits gekündigt?«
»Nein, der Vermieter weiß noch von nichts. Ich habe ja noch nicht mal eine Wohnung.«
Sarah nickte, als ihr Blick auf die Mappe fiel.
Sarah
Ich grinste breit, als ich die Mappe erkannte. Ich wusste von dem Tag der Trennung mit Mark nicht mehr viel. Doch unser verrückter Plan vom Bed & Breakfast war mir im Gedächtnis geblieben.
»Und?«, fragte ich und deutete auf die Mappe.
»Was und?«, erwiderte meine Mutter und zog eine Augenbraue hoch.
»Ist das immer noch dein Traum?«, hakte ich nach, und sie lächelte.
»Ja, irgendwie schon. Wenn du dir unsere Pläne mal anschaust, Sarah, das könnte Wirklichkeit werden, wenn wir es nur wagen würden.«
Ich runzelte die Stirn und atmete tief durch. »Mama, du weißt, dass das nur ein Traum ist. Der wird nie Realität.«
»Und wieso nicht? Warum glaubst du, erfülle ich mir nicht diesen Traum, den ich nun schon seit Jahren habe?«
»Ich weiß nicht. Du bist ein Gewohnheitsmensch. Du machst nichts Unüberlegtes und würdest schon gar nicht in ein Land ziehen, dessen Sprache du nicht fließend beherrschst.«
»Dafür gibt es Sprachkurse«, meinte sie ein wenig patzig, und ich schüttelte leicht den Kopf.
»Und was ist mit dem Geld? Du müsstest ein Cottage kaufen, es renovieren und zu einem Bed & Breakfast ausbauen. Dann brauchst du sicherlich noch Genehmigungen, um es eröffnen zu dürfen. Ich denke, dass du dir das alles ein wenig zu einfach vorstellst!«
Ich sah meiner Mutter genau an, dass ihr das nicht gefiel. Doch was sollte ich machen? Ihr alles schönreden, und dann würde sie nach Schottland gehen und einfach ihren Traum leben? So war es nun mal nicht. Irgendjemand musste sie auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
»Ich habe mich darüber noch nicht informiert, aber das kann ich ja noch tun. Und weißt du was? Das mache ich auch. Du wirst sehen. Auch wenn es wahrscheinlich nicht leicht sein wird, werde ich das schaffen. Und vielleicht bist du ja auch an meiner Seite, was ich mir sehr wünschen würde.«
Ich bekam große Augen und starrte meine Mutter mit offenem Mund an. »Wie? Was? Du glaubst, dass ich mit dir mitkommen würde?«
Nun war es meine Mutter, die tief durchatmete und mich dann ansah. »Ja, das würde ich mir wünschen. Wenn du nicht möchtest, könnte ich es natürlich verstehen. Doch immerhin war dieser Plan für zwei Frauen ausgelegt und nicht nur für eine.«
Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und setzte mich auf den Stuhl. »Ich gebe doch nicht einfach so mein Leben auf und gehe mit dir nach Schottland.«
»Warum nicht? Du hast doch gerade selbst gesagt, dass du im Moment nicht mehr glücklich bist in deinem Job. Du lebst dein Leben in den Tag hinein, hast seit Monaten keinen Freund mehr gehabt. Wenn ich mich nicht irre, war Mark sogar der letzte. Und du bist in einem Alter, in dem du immer noch zurückkommen könntest, wenn es nicht funktioniert. Ich hätte es da schon ein wenig schwerer.«
Okay, sie hatte recht. Mein Leben ging mir im Moment ziemlich gegen den Strich. Doch deshalb alles aufgeben? Nein, das könnte ich nicht. Ich hatte hier Freunde, meinen Job und meine eigene Wohnung. Auch wenn das alles wirklich reizvoll klang, so spielte sich mein Leben ja doch hier ab.
»Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst, Mama. Ich kann nicht mitkommen. Das ist dein Traum. Nicht meiner. Das müsstest du schon alleine durchziehen.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Dann soll es so sein. Ich werde mich über alles informieren und dich auf dem Laufenden halten. Vielleicht überlegst du es dir ja doch noch. Ich hätte dich gerne an meiner Seite.«
Ich nickte. Dann wechselte ich das Thema. Ich wollte nicht mehr übers Auswandern reden.
Denise
Sobald Sarah am Abend weg war, schnappte ich mir meinen Laptop und machte es mir auf dem Sofa gemütlich. Ich erfuhr tatsächlich alles im Internet, was ich wissen musste, welche Lizenzen ich brauchte und was es sonst noch zu organisieren galt.
Ich starrte den Bildschirm an und fragte ich mich, ob ich das wirklich durchziehen wollte. Sollte ich mich näher mit diesem Thema auseinandersetzen und den Schritt wagen?
Die Unterlagen, die ich bräuchte, waren kein Hindernis. Doch Sarah hatte recht. Woher sollte ich das Geld nehmen, um ein Cottage zu kaufen und es auszubauen?
Ich hatte einige Rücklagen von meiner Scheidung. Allerdings bezweifelte ich, dass das reichen würde.
Wie willst du wissen, dass es nicht reicht, wenn du dich nicht einmal nach geeigneten Häusern umschaust?, fragte meine innere Stimme, und ich seufzte.
Und schon hatte ich die Suchmaschine geöffnet und suchte nach Cottages in Schottland. Ich durchforstete eine Seite nach der anderen, fand wunderschöne Gebäude, die ich mir definitiv nicht leisten konnte. Doch dann hatte ich es gefunden. Renovierungsbedürftig, das stand außer Frage. Aber wunderschön.
Ich sah mir die Fotos an, eines nach dem anderen, und staunte nicht schlecht. Das kleine Cottage lag in der kleinen Stadt Taynuilt direkt am Loch Etive. Von den oberen Zimmern hatte man einen direkten Ausblick auf den See und die Umgebung wirkte sehr idyllisch. Genau da wollte ich hin, dieses Häuschen sollte meines werden. Es war weiß, im typisch schottischen Stil gehalten und überwuchert...