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IM NORDWESTEN VON LONDON gibt es ein flaches Dach, das man weder von der Straße noch von den Fenstern der benachbarten Häuser aus sehen kann, weil es ganz oben in einem hohen Wohngebäude in einer ruhigen Nebenstraße liegt. Auf diesem Dach gedeiht ein Garten aus seltenen und ungewöhnlichen Pflanzen: Tropen- und Wüstenpflanzen, Rosen- und Nachtschattengewächse, Bodendecker und Kletterpflanzen, exotische und erlesene Gewächse, die ihren jeweiligen Bedürfnissen entsprechend sorgsam gehegt und gepflegt werden. Der Garten ist Oase und Heiligtum inmitten einer lieblosen, unversöhnlichen Stadt. Nur eine einzige Person hat Zugang zu ihm, über eine Dachluke in der Küche. Diese Person hat noch nie Freunde oder Freundinnen auf ein Glas Wein nach dort oben eingeladen, weil sie keine hat, auch keine Familie. Sie ist allein, und dafür ist sie dankbar.
Diese Person ist Eustacia Amelia Rose, Professorin der Botanik. Spezialgebiet: Pflanzentoxikologie. Für Laien: das Studium giftiger Gewächse. Diese Person bin ich.
Für Übertreibung und Selbstbeweihräucherung habe ich nichts übrig. Ich bin in vielerlei Hinsicht unscheinbar: weder hochgewachsen und schlank noch klein und übergewichtig. Mein Haarschnitt ist altmodisch - ein mit Brylcreem und einem Schildpattkamm präzise gezogener Scheitel -, und ich achte auf meine Kleidung, wasche sie im Waschbecken des Badezimmers und bügle sie auf dem Küchentisch. Die Aufschläge sind ausgefranst, das Futter ist zerrissen, und die Taschen haben Löcher, aber es gibt niemanden, der diese Mängel sieht. Niemanden, der etwas zu den speckigen Verfärbungen auf meinem Kragen oder dem erdigen Geruch meiner Hosen sagt, und dafür bin ich ebenfalls dankbar.
Ich bilde mir gern ein, das leicht verblühte Aussehen einer Gelehrten zu haben, und tatsächlich war ich einmal Dozentin an der Universität. Jahrzehnte der Konzentration haben eine tiefe Furche zwischen meine Augenbrauen gegraben, und die Nickelbrille hat die Wurzel meiner großen Nase auf ewig eingekerbt. Lachfältchen habe ich keine, und meine Mundwinkel weisen von Natur aus nach unten, was manch einer vermutlich unattraktiv findet, aber meine Lippen sind weich, und oft schürze ich sie gedankenverloren.
Ich bin vierundvierzig Jahre alt. Und würde sagen, dass mein Aussehen meinem Alter nicht gerecht wird. Ich sehe viel älter aus. Die Außenwelt und ihre peinigenden Einbrüche in meinen Alltag - ein unangemeldeter Anruf von einem Internetprovider zum Beispiel oder ein Brief vom Finanzamt - bringen mich manchmal ziemlich durcheinander. Doch wenn man mich in Ruhe lässt, arbeitet mein Verstand klar, scharf und hoch konzentriert. Das muss er auch.
Jeden Morgen schlüpfe ich in meinen Schutzanzug - der mir ein bisschen zu klein ist und deshalb im Schritt unangenehm zwickt -, klettere die Leiter in meiner Küche hoch und steige durch die Dachluke. Dann beginne ich mit der langen Liste meiner täglichen Aufgaben, die ich mit äußerster Sorgfalt erledige. Mein Programm kennt keine Abweichungen. Jeder Handgriff, den ich ausführe, folgt exakt den wissenschaftlichen Vorschriften, da andernfalls eine ernste Gefahr droht - für Leib und Leben.
Mit der Zeit habe ich gelernt, dass die Art meiner Arbeit Einsamkeit bedingt. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn jemand zu Schaden käme. Besser, ich trage das Risiko selbst und bewahre andere vor Unheil. Aus diesem Grund beschäftige ich auch keine Assistenzen oder andere Angestellte und lehne sämtliche Anfragen nach Praktikumsplätzen von Studierenden der Universität ab, an der ich einst beschäftigt war. In der Vergangenheit habe ich ein während der Vorlesung wegdämmerndes Auditorium gern dadurch wieder munter gemacht, dass ich mich mit einer Spezialistin für Bombenentschärfung verglichen habe. Ein einziger Schnitzer und bumm, alles aus und vorbei. Allerdings nicht sofort. Nicht wie bei einer Explosion, wo ich sofort tot wäre, die Gliedmaßen vom Rumpf gerissen und über den Erdboden geschleudert. Nein. Mein Tod würde sich Zeit nehmen, manchmal bis zu zwei Wochen, aber kommen würde er. Daran besteht kein Zweifel.
Ich muss dazusagen, dass ich für mein Alleinsein nicht immer dankbar war. Ein Leben in Einsamkeit hatte ich nicht geplant. An der Universität hatte ich täglich Kontakt zu anderen Menschen. Studierende, andere Dozierende, Angestellte. Das war nicht einfach. Blickkontakt fiel mir schwer, witzige Bemerkungen verwirrten mich, und nach den Seminaren war ich oft erschöpft. Aber ich war bereit, diese Unannehmlichkeiten auf mich zu nehmen, denn dafür bekam ich unbegrenzten Zugang zum Labor und den Gewächshäusern und profitierte vom Prestige der Universität, deren Name meinen Publikationen Gewicht verlieh.
Außerdem muss ich dazusagen, dass ich nicht vorhatte, ledig zu bleiben. Es gab einmal einen Menschen, mit dem ich bereit war, mein Leben zu teilen. Ich habe einmal einen attraktiven, intelligenten, geistreichen Menschen gekannt, der meine Eigenheiten akzeptierte, mich vielleicht sogar dafür liebte, am Ende aber doch jemand anderen wählte. Ich versuche, nicht mehr daran zu denken. Wie heißt es doch? Besser, geliebt und verloren zu haben . Besser, diesen Zweifel, diesen Schmerz, dieses Elend durchlebt zu haben . Wie gesagt, ich versuche, nicht mehr daran zu denken, aber das kostet mich manchmal große Mühe. Besser, nach anderen Auswegen zu suchen, anderen Ablenkungen.
Mein Vater war ein begeisterter Astronom. Er hatte in seinem Arbeitszimmer ein Teleskop aufgestellt, stets auf den Himmel ausgerichtet, und verbrachte nachts Stunden in einer gänzlich anderen Welt, das Auge ans Okular gepresst und vor sich hin murmelnd. Um dieses Instrument, mit dem er sich von seiner Umgebung frei machte, von der banalen Realität des Lebens löste, habe ich ihn immer beneidet. Als ich noch ein Kind war, weckte er mich manchmal mitten in der Nacht, wenn Mars oder Saturn besonders deutlich zu erkennen waren, und ließ mich, noch im Halbschlaf, durchs Okular blicken. Und ich bestaunte die weit entfernten Lichtpunkte voller Ehrfurcht. Danach setzten wir uns an den großen Tisch in unserer Küche in Oxford, und ich erhielt einen Vortrag über Astronomie, der mit der Vorführung eines echten Sonnenaufgangs endete.
Vater brillierte auf vielen Gebieten. Einige nannten ihn einen Universalgelehrten. Aus seinen zahlreichen Interessen wählte ich jedoch die Astronomie zu meinem Steckenpferd. Das gleiche Instrument, um nunmehr mich von der banalen Realität meines Lebens zu lösen und mich abzulenken, wenn ich merke, dass mich die Schwermut packt. Mein Teleskop hat allerdings mit Vaters Gerät keinerlei Ähnlichkeit mehr. Verglichen mit meinem war seins geradezu vorsintflutlich. Meins ist hochpräzise und war sündteuer, bezahlt mit dem Geld aus meiner Abfindung. Aufgestellt habe ich es zwischen den Pflanzen auf meinem Dach. Spätnachts, wenn ich meine Aufgaben erledigt habe, betrachte ich gern die Sterne und Planeten, und ab und zu sehe ich einen Meteorschauer. Wie Vater faszinieren die Phänomene des Himmels auch mich. Mir ist in vielerlei Hinsicht klar geworden, dass ich in der unermesslichen Weite von Zeit und Raum viel mehr Sinn erkennen kann als in allem Geschehen in dem Raum und der Zeit, in denen ich lebe.
In solchen Nächten jedoch, wenn die Wolkendecke zu dicht ist, um die Sterne zu sehen, und die Erinnerungen an meine verlorene Liebe mich zu überwältigen drohen, findet das Teleskop eine andere Verwendung. Bitte seien Sie versichert, dass es ohne jegliche böse Absicht geschieht. Es begann als reine Ablenkung, wurde aber schnell zu einer Art Gesellschaftsstudium. Einem wissenschaftlichen Projekt, wenn man so will. Und mit der Zeit gewann dieses Studium eine echte Bedeutung. Tatsächlich beabsichtige ich, meine Ergebnisse eines Tages zu veröffentlichen, weshalb ich stets detaillierte Berichte über meine Beobachtungen erstelle. Bislang habe ich bereits zwanzig Notizbücher gefüllt.
Hinter meinem Wohnblock liegt ein kleiner öffentlicher Park, den eine Ziegelmauer von den Gärten der jenseitigen Reihenhäuser trennt, die alle mit hohen viktorianischen Schiebefenstern ausgestattet sind. Von meinem Dach aus habe ich einen ausgezeichneten Blick auf das Kommen und Gehen der Menschen, die in diesen Häusern leben. Bei Nacht könnte man wohl jedes Stockwerk dieser Häuser als einen Leuchtkasten bezeichnen, in dem alles zur Schau gestellt wird, was darin geschieht, und oft, wenn ich allein in meinem Garten sitze, verspüre ich das dringende Bedürfnis, dieses Geschehen zu beobachten - und um diese Beobachtungen zu vertiefen, habe ich schon viele Male mein Teleskop benutzt. Ich bin vorsichtig. Ich bin mir sicher, von niemandem gesehen werden zu können, denn ich habe den Tubus so positioniert, dass man ihn durch das mit Kletterpflanzen umrankte Geländer, das meinen Garten umgibt, nicht ausmachen kann. Ich bin eine Vogelbeobachterin in ihrem Versteck. Absolut unsichtbar.
Da ist die Frau mit den blauen Haaren und den Krücken, die regelmäßig eine Packung Kekse mit ihrem Hund teilt, während sie sich über alles, was sie gerade im Fernsehen sieht, lauthals kaputtlacht. Da ist das zänkische Pärchen, das in alle Ewigkeit dieselben vier Tanzschritte zu einer Musik übt, die ich nicht hören kann. Da ist der Junge, der weit über seine Schlafenszeit hinaus in einem Sitzsack versunken Computerspiele spielt und dabei wütende Anweisungen ins Mikrofon seines Headsets schreit, während er Energydrinks in sich hineinschüttet. Da ist das junge Mädchen mit den langen Zöpfen, das auf dem Bett liegt und auf seinem Handy scrollt. Immer auf seinem Handy scrollt. Da ist der große, gebeugte Mann, der nie lächelt und stundenlang stocksteif dasteht...