Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
In der Greyhound-Station Oakland waren alle Menschen Zwerge, und sie schubsten und drängelten, um in den Bus zu gelangen, ja schoben sich sogar an den beiden Nonnen vorbei, die vor ihnen dagewesen waren. Als die beiden Nonnen sich hingesetzt hatten, lächelten sie Miranda und Baby Ellen freundlich zu und spielten Kuckuck hinter ihren Fingern. Aber Jamie spürte, daß sie ihr Make-up zu dick, ihre Hosen zu eng fanden. Sie wußten, daß sie gerade ihren Mann verließ, und glaubten bestimmt, sie würde über kurz oder lang auf dem Strich landen. Sie hätte ihnen gern gesagt, was los war, aber mit Katholiken kann man ja nicht reden. Die kleinere Nonne hielt eine leuchtende Schnittrose fest in beiden Händen.
Jamie saß am Fenster, sah hinaus und rauchte eine Kool. Noch immer drängten sich Menschen an der Bustür, Menschen, die sie hoffentlich nie kennenzulernen brauchte - sie kämpften mit verstümmelten Gepäckstücken und Papiertüten, und so, wie sie damit umgingen, hätte man meinen können, sie enthielten die Gründe einer jeden bereuten Tat und die Rechtfertigung aller ihrer Wunden. Ein Schwarzer im Tweedanzug, einen Strohhut auf dem Kopf, hielt ein Schild für seine abreisenden Verwandten in die Höhe: »Die SONNE soll in FINSTERNIS und der MOND in BLUT verwandelt werden« (Joel 3,4). Unter den gegebenen Umständen fühlte Jamie sich diesem Fremden nahe.
Gegen drei Uhr morgens gingen Jamies Augen auf. Scheinwerfer auf einer Autobahnauffahrt kreuzten die fliehende Fahrt ihres Busses und fegten über sie hinweg; in ihrer Erschöpfung meinte sie für einen Moment, der flammende Kopf eines Mannes jage wie ein Komet durch die schlafende Dunkelheit dieser Reisenden, und sie allein sehe ihn, die einzige Zeugin. Plötzlich war Miranda wach und plapperte ihr ins Ohr, ganz aufgeregt, weil sie so spät noch auf war.
Jamie schob die Worte des Kindes von sich weg, voller Angst vor der Finsternis, in die der Bus hineinraste, erschrocken, daß sie so schnell von ihrem neuen Leben verschluckt wurde, ja daß es sie womöglich blitzartig verdauen und am anderen Ende in Gestalt einer alten Frau wieder ausspucken würde, die sich vor lauter Benommenheit nicht einmal mehr fragen könnte, wo ihre Jugend geblieben war. Ein paarmal bat sie Miranda, still zu sein, schließlich schliefen das Baby und alle anderen im Bus, außer dem Fahrer, wie sie hoffte - aber Miranda stupste alle paar Sekunden Baby Ellen mit dem Fuß an, weil sie spielen wollte, mitten in Nevada, mitten in der Nacht. »Randy«, sagte Jamie. »Ich bin todmüde, Schätzchen. Bitte weck doch Baby Ellen nicht auf.«
Miranda saß auf ihren Händen und stellte sich schlafend, wobei sie heimlich Baby Ellen mit dem Fuß anstieß.
»Nimm deinen Fuß da weg, Schätzchen«, sagte Jamie zu ihr.
»Ich mach keinen Spaß. Nimm jetzt deinen Fuß weg.«
Miranda stellte sich taub und schlafend, reagierte nicht, tat so, als zucke ihr Fuß nur im Traum.
»Nimm - deinen - Fuuß - da weg«, flüsterte Jamie wütend, packte sie am Knöchel und schob ihn weg. »Benimm dich jetzt. Oder ich sag dem Fahrer Bescheid, und der setzt dich vor die Tür, der schmeißt dich aus dem Bus raus, und dann stehst du da, mitten in der Wüste. Mitten im Dunkeln, bei den Schlangen. Hörst du?« Erneut stieß sie Mirandas Fuß weg. »Mach mir hier nichts vor, verdammt, ich seh ganz genau, daß du nicht schläfst!«
Sie starrte haßerfüllt auf Mirandas geschlossene Augen, bis sie merkte, daß das Kind eingeschlafen war. Die Schwere des Zorns wich der Schwerelosigkeit ihrer Angst, während der Bus in den Schlund hinabsegelte, den die Scheinwerfer bildeten. Sie legte die Hand vors Gesicht und weinte.
Kurz darauf schlief sie ein und träumte von einem Mann, der in einer Giftwolke ertrank. Sie wachte auf und fragte sich, was das gewesen war - ein Traum von ihrem Mann, oder was? - ein Traum von der Vergangenheit, ein Traum von der Zukunft?
Baby Ellen wollte nicht aufhören zu brüllen.
Jamie hielt sie im Arm, suchte mit der freien Hand unter dem Sitz nach der Reisetasche und in der Reisetasche nach Baby Ellens Orangensaft. »Da da da da da«, sagte sie zu Baby Ellen.
»Bald hab ich ein Bettchen für dich mit ner Schnur, da können wir deine Spieldose dranhängen, und wenn es Zeit ist zum Schlafen, dann kommen Mama und Miranda zu dir und singen dir was vor, ah, hier ist dein Orangensaft, Gott sei Dank, da da da da da, kleines Baby Ellen, oh, ist das aber ein guter Orangensaft, so ein feiner Orangensaft, so ein feiner, ernsthafter Blick, oh, siehst du die schöne Sonne? Siehst du die Sonne da, Baby Ellen? Das ist bloß ein klitzekleines Stück von der Sonne, aber bald wird Baby Ellen die ganze Sonne sehen, und dann ist der Morgen da, für Baby Ellen und für Mama und für Miranda Sue.« Sie wünschte, sie könnte das Baby einfach ersticken. Niemand würde etwas merken. Oakland lag vier Tage hinter ihnen.
Sie flößte Baby Ellen den Orangensaft ein und schaute zu, wie die Sonne sich über die toten Maisfelder Indianas in den Blick schob. Das Licht, das über die zugefrorenen Teiche und die Reihen abgebrochener, vereister Stengel strich, schlug Jamie schmerzhaft ins Gesicht. Ihr Mann verkaufte mißmutig Zubehör für Stereoanlagen, um die Familie zu ernähren. Er brütete über seinem Leben, bis es ihm über den Kopf wuchs und er orientierungslos darin herumirrte. Warum konnte sie ihm nicht einfach dankbar sein, fragte er sie oft, schließlich hatte er doch schon längst aus den Augen verloren, was er wollte, und das nur, damit sie haben konnte, was sie wollte. Sah sie denn nicht, wie alles immer wieder von neuem geschah? So war es doch - und er schlug mit der Faust gegen die Wand, daß der kleine Trailer wackelte - ein Augenblick geht in den anderen über . Zweimal hätte er sie beinahe erwürgt, weil es ihn rasend machte, daß sie nicht verstand, worüber er sich beklagte. Und sie verstand es wirklich nicht. Wenn er zu Hause war, schlief er fast ununterbrochen. Nachts weinte er und gestand, daß alles ihm angst machte. Immer wenn sie zu ihm hinsah, lag sein Gesicht auf den Armen, als verstecke er sich vor den Bildern in seinem eigenen Gehirn. Schließlich hatte er alles kaputtgemacht, ihre ganze Ehe. Sie hatte es kommen sehen wie den roten Dienstwaggon am Ende eines Güterzugs.
Von Oakland und allem, was als nächstes passieren würde, abgeschnitten, konnte sie es kaum ertragen, den Bus weiterfahren zu lassen, und dachte, wenn er zum Frühstück anhält, steig ich aus und tausch meine Fahrkarte gegen einen Platz im nächsten Bus nach Haus, und tschüs, schöne Reise noch, all ihr Leute hier im Greyhound-Land. Er würde überglücklich sein, sie zu sehen, dessen war sie sich sicher. Was würde sie sagen? Zahnbürste vergessen, dachte sie und lächelte. Handtasche vergessen. Lunch liegen lassen. Der Mann mit den Fahrkarten würde sie auslachen, daß sie auf halber Strecke umkehren wollte. Hat Ihnen wohl so gut gefallen, daß Sie die Tour gleich noch mal machen wollen, was? sagte der Mann. Ja, ich muß noch mal zurück und links rausgucken, falls ich was Besonderes verpaßt hab. Als der Bus zum Frühstück anhielt, gab Jamie einer Frau Geld dafür, daß sie auf Miranda und Baby Ellen aufpaßte, während sie sich in der Damentoilette wusch. Miranda stellte sich auf eine Tomatensuppenkiste, um am Flipper zu spielen, und ließ sich in einer kleinen Kabine mit Vorhang fotografieren, ihre kleine Schwester auf dem Arm. Jamie und Miranda aßen Cornflakes, Baby Ellen bekam ein Glas Aprikosen-Pfirsich-Mus. Langsam ging ihnen das Geld aus. Die Straße wurde kurvenreicher, das Gelände hügeliger, je näher sie Cleveland kamen.
Drei Reihen hinter ihr, auf der anderen Seite des Gangs, saßen die beiden Nonnen und murmelten, vom Frühstück schläfrig geworden, vor sich hin. Jamie beobachtete sie heimlich, und da wurde ihr klar, daß sie beteten; die kleinere Nonne hatte die leuchtende Schnittrose, die sie in Oakland in der Hand gehalten hatte, gegen einen dunklen Rosenkranz eingetauscht. Jamie überlegte, ob Nonnen wohl jeden Tag nach dem Frühstück beten mußten. Dachten sie, so, jetzt bete ich, und hatten sie dabei ein Bild von Gottes Angesicht im Kopf, mit seinem weißen Bart, und sahen ihn bedächtig nicken, während er ihrem Latein lauschte? Und wenn Beten ihr Beruf war, hatten sie dann auch mal Urlaub? Sie schaute zu Miranda hin, die mit einem Buntstift breite, gleichmäßige Striche über ein Frauengesicht in der Illustrierten People malte, und fragte sich, ob ihr kleines Mädchen wohl jemals Nonne werden und eine schwarzweiße Haube auf ihrem langen Haar tragen würde. Aber Miranda war gar nicht katholisch. In Oakland waren sie eigentlich gar nichts Richtiges gewesen, in Westvirginia dagegen, vor ihrem Umzug, immerhin Taufscheinbaptisten. In Kalifornien konnte man nicht so Feuer und Flamme für seinen Glauben sein, denn da wimmelte es von Atheisten, beinharten Antikommunisten wie den Birch-Anhängern und Hare Krishnas, und wirklich ernsthaft religiös waren bloß diese Spinner, die alle naslang von der Golden-Gate-Brücke sprangen, wenn Gottes Macht sie packte. Die Taufe schien nur eine von vielen Formen zu sein, sich naß zu machen.
In Kalifornien gab es alte Frauen mit einem komischen Blick, die überzeugt waren, daß das Ende der Welt unmittelbar bevorstehe oder daß schon bald Außerirdische zum Jüngsten Gericht auf der Erde landen würden. Man konnte wählen zwischen Venusbewohnern, Marsmenschen, Jesus Christus oder Leuten aus Indien mit zwölf Armen und blauer Haut. Sodom und...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.