1. KAPITEL
"Sie haben Ihr Ziel erreicht", verkündete Chelsea Porters Navigationsgerät mit tiefer, eintöniger Stimme.
Sie bremste ihren Wagen ab und betrachtete stirnrunzelnd das Schild, das rechts von ihr über einer privaten Brücke hing: Brennerei McKinnel's - der beste Whiskey in Oregon seit 1977.
Eindeutig kein Wohnhaus. Vielleicht hatte sie Namen und Adresse auf dem Kundenformular falsch gelesen. Also holte sie ihr Handy heraus, rief die E-Mails auf und überprüfte die Daten, die ihr eine Miss Bailey Sawyer gegeben hatte.
Mr. Callum McKinnel und dann eine Adresse, die Chelsea für ein Wohnhaus gehalten hatte, im gut situierten Jewell Rock, doch offensichtlich handelte es sich um die Heimat des bekannten McKinnel's Whiskeys. Sie trank grundsätzlich nichts, aber ihr Großvater hatte geschworen, dass McKinnel's der beste Whiskey überhaupt war. Und wie die meisten Familienmitglieder hatte er von dem Zeug genug getrunken, um es wissen zu müssen. Hier in der Gegend lebte niemand, der nicht von der McKinnel-Familie gehört hatte.
Als Chelsea nun über die Brücke starrte, konnte sie nicht fassen, dass sie den Namen nicht erkannt hatte. Etwa vor einem Monat hatte in der Zeitung ein Nachruf auf Conall McKinnel gestanden - er war beinahe vierzig Jahre lang der große Chef der Brennerei gewesen, bis er ganz plötzlich an einem Herzinfarkt verstorben war. Dann gab es noch Lachlan McKinnel - ein mehrfach ausgezeichneter Koch, der außerdem seinen behinderten Sohn allein großzog. Mit Callum - vermutlich ein Bruder von Lachlan - begegnete sie einem lokalen Promi, und ihr krampfte sich der Magen zusammen. So nervös war sie sonst nie, völlig lächerlich.
Hinter Chelsea hupte jemand, darum wurde ihr klar, dass sie mitten auf der Straße angehalten hatte. Sie winkte entschuldigend, bog rechts ab und fuhr über die Brücke auf die Ansammlung rustikal wirkender Gebäude in der Ferne zu. Auf beiden Seiten von ihr glitzerte der See, weshalb es sie fröstelte, sicher war er um diese Jahreszeit eiskalt. Als sie auf der anderen Seite von der Brücke hinunterfuhr, raubte ihr der Anblick den Atem. Das Gebäude war beinahe so lang wie der See, und ihr kam sofort das Wort "malerisch" in den Sinn. Zwar war die Fassade braun, doch es gab sehr viele Fenster, sodass sie nicht dunkel wirkte. Die Kiefern auf der Rückseite und die makellosen, mit Steinen begrenzten Gartenbeete vor dem Haus erinnerten sie an die Postkarte eines Urlaubsresorts. Wenn in etwa einem Monat der erste Schnee fiel, würde dieser Ort einen ganz eigenen Zauber ausstrahlen.
Wie schade, dass sie keinen Grund hätte, zurückzukehren.
In Chelseas Vorstellung war ein Ort, an dem man Whiskey produzierte, niemals so wunderschön und elegant wie das Gelände und die Gebäude, die sie gerade bewunderte, während sie den Schildern bis zum Parkplatz folgte. Nein, für sie war Alkohol gleichbedeutend mit Streitereien und Geschrei, gelallten Worten, Mundgeruch und Gebeten, dass ihre Eltern sich nicht gegenseitig umbrachten.
Beim Aussteigen atmete Chelsea die frische, kühle Luft ein, in der eine Schnapsnote hing, darum vergaß sie beinahe, den Pralinenstrauß vom Rücksitz zu nehmen. Sie beschloss, sich von der Umgebung nicht ablenken zu lassen, und schritt erhobenen Hauptes auf das Hauptgebäude zu, in dem sich offensichtlich ein Café befand. Schließlich war sie nicht hier, um eine Tour zu machen, zu essen oder die Landschaft zu bewundern, sondern um einem der prominenten McKinnels eine schlechte Nachricht zu überbringen.
Bei diesem Gedanken bekam sie komischerweise das Gefühl, als würde ihr ein Stein im Magen liegen. Warum? Schließlich tat sie das nicht zum ersten Mal. Sie war fest entschlossen, schnell hineinzugehen und wieder herauszukommen, denn egal, wie schön dieser Ort auch war, hier fühlte sie sich unbehaglich. Chelsea drückte die riesige Eingangstür aus Glas auf.
Während der Außenbereich von McKinnel's ihr den Atem geraubt hatte, erfüllte der Innenbereich ihr Herz mit Wärme, als hätte jemand ihr eine warme Decke umgelegt. Neben zahlreichen herbstlichen Dekoartikeln hingen an den Wänden hunderte Whiskeyflaschen, Familienfotos in Schwarz-Weiß und alte Drucke, auf denen es um Whiskey ging. In einem riesigen Kamin brannte ein Feuer.
Während sie sich mit den Menschen in eine Schlange stellte, die Whiskey kaufen oder verkosten wollten, betrachtete sie die Wand hinter dem Tresen und musste lächeln, als sie einige der vielen Sprüche las, die den Whiskey lobten und mit Kreide auf eine riesige Tafel geschrieben worden waren.
Obwohl sie diese Haltung ganz und gar nicht teilte, gefiel ihr, wie alle Zitate in unterschiedlichen Handschriften geschrieben waren, als hätten viele verschiedene Menschen ihre Meinung notiert.
"Hallo, kann ich Ihnen weiterhelfen?"
Beim Klang dieser tiefen Stimme drehte Chelsea sich um, klammerte sich noch fester an den Strauß und starrte dann auf eine muskulöse Brust. Als sie den Blick hob, sah sie in das Gesicht des vielleicht bestaussehendsten Menschen, der ihr jemals begegnet war. Groß, dunkelhaarig und attraktiv wurde ihm als Beschreibung absolut nicht gerecht. Er war all das und noch mehr, irgendetwas hatte er an sich, das sie nicht genauer bestimmen konnte. Und seine Augen hatten natürlich ihre Lieblingsfarbe: Seegrün. Obwohl er eine schwarze Anzughose und ein hellgraues Hemd mit dem Logo der Brennerei auf der Brust trug, erkannte sie an seiner starken, muskulösen Gestalt und der Narbe direkt über der rechten Augenbraue, dass er nicht sein ganzes Leben hinter dem Schreibtisch verbrachte.
"Suchen Sie ein Geschenk oder .?" Er brach ab und Chelsea wurde klar, dass sie ihn regelrecht angestarrt hatte.
Schnell überwand sie den eigenartigen Schwindel, der sie überkommen hatte - vielleicht hatte sie sich zu schnell umgedreht -, richtete sich auf und begrüßte ihn möglichst professionell. "Hi. Ich suche Callum McKinnel."
Ganz sicher handelte es sich nicht um den Mann, der gerade vor ihr stand, denn keine Frau bei klarem Verstand würde jemanden abschießen, der so aussah. Nicht einmal sie selbst.
"Dann müssen Sie nicht weitersuchen. Sie haben mich gefunden." Das sexy Lächeln des Mannes gehörte verboten, doch er behielt es auf, als er ihr die Hand entgegenstreckte. "Und wie darf ich Ihnen weiterhelfen?"
Er war doch Callum? Ach, Mist. Chelsea schoss die Hitze in die Wangen, und sie schob den Pralinenstrauß von der rechten Hand in die linke, dann gab sie ihm die Hand und erinnerte sich daran, dass sie beruflich hier war, und nicht, um ihn anzuglotzen.
"Könnten wir uns irgendwo ungestört unterhalten?", fragte sie und hoffte, dass sie nicht so angespannt klang, wie sie sich fühlte.
Callum hob eine perfekte dunkle Augenbraue und schien leicht amüsiert. "Haben wir denn einen Termin?"
Da schüttelte Chelsea den Kopf und bemühte sich, ihm nicht auf den Mund zu starren, der sogar noch perfekter als seine Augenbrauen schien. Und geradezu danach schrie, geküsst zu werden. "Keinen Termin, aber ich muss mit Ihnen reden. Ich habe eine Nachricht von Bailey, und die möchten Sie vielleicht lieber allein hören."
Als Chelsea die andere Frau erwähnte, schwand das Lächeln aus Callums Gesicht, und er runzelte die Stirn. "Dann kommen Sie bitte mit."
Er legte ihr die große Hand in den Rücken, und sie biss sich auf die Lippe, um nicht zu keuchen. Was zur Hölle war denn los mit ihr? Zwischen ihrer Haut und seiner befanden sich mehrere Schichten Stoff, wie würde ihr Körper wohl reagieren, wenn es die nicht gäbe. Während Callum sie über den grob gefliesten Boden führte, atmete sie ein paar Mal tief ein und aus, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Sie redete sich ein, dass diese eigenartigen Gefühle nur von dem Ort herrührten, an dem sie sich befanden, befürchtete aber, dass dies nicht der Fall war.
"Hier drinnen können wir ungestört sprechen", erklärte Callum, als er eine Tür öffnete, auf der ein goldenes Schild mit der Aufschrift Direktor - Callum McKinnel hing. Das Schild glänzte noch ganz neu, als wäre es erst kürzlich angebracht worden, und als Chelsea das Büro betrat, schien dies ganz und gar nicht Callums Geschmack zu entsprechen.
Und woher willst du das wissen?
"Setzen Sie sich bitte", meinte Callum und deutete auf einen glänzenden, dunklen Ledersessel, während er hinter sich die Tür schloss.
"Ich stehe lieber, vielen Dank." Die Worte sprudelten aus ihr heraus. "Aber vielleicht möchten Sie sich lieber setzen."
"So schlimm, ja?" Callums Ton konnte Chelsea nicht ganz einordnen, doch sie war froh, als er um den riesigen Schreibtisch herumging und sich dort auf einen gemütlichen Bürostuhl mit Lederpolsterung setzte. Dann stützte er die Ellbogen auf den Tisch, faltete die Hände und sah sie erwartungsvoll an.
Schnell atmete Chelsea durch und begann mit ihrer Rede. "Ich komme im Auftrag von Bailey Sawyer." Sie räusperte sich und zwang sich, Callum anzusehen, obwohl sie das völlig durcheinanderbrachte. "Bailey erkennt an, dass Sie beide seit fünf Jahren in einer Beziehung sind und viel Zeit und Energie in den anderen investiert haben. Sie hatte mit Ihnen eine wunderbare Zeit, aber leider muss ich Ihnen mitteilen, dass sie nicht mehr die Ehre haben möchte, Ihre Verlobte zu sein. Sie sind für sie eher ein Bruder...