Schweitzer Fachinformationen
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Er ist ganz ruhig. Er zittert nicht. Er kann auf der Holzpritsche sitzen und noch einmal über alles nachdenken, ohne in Tränen oder dumpfes Angstgebrüll auszubrechen. Strafsoldat Herbert Klenke weiß, dass er heute erschossen wird - in einer Stunde, vielleicht in zwei oder drei. Die Marschtritte des Exekutionskommandos können aber auch schon in der nächsten Minute im Korridor des Gefängnisses ertönen.
Die Uniform ist abgegeben worden. Behalten durfte er nur den Drillich und die Turnschuhe, alte, morsche Klamotten, die gerade noch gut genug sind, um mit ihm in der Grube zu vermodern.
Klenke hatte gewusst, dass er an den Erschießungspfahl kommen würde, wenn man ihn erwischte. Er hätte seine Flucht anders durchführen müssen. Es war ein Fehler, zu Hilde zu gehen und sich mit ihr in einem Zweibettzimmer eines Straßburger Hotels einzuschließen. Sie waren auch pünktlich gekommen, die Kettenhunde, mit ärgerlichen Mienen und entsicherten Pistolen.
Hilde wollte sich dem Feldwebel vor die Füße werfen, aber der Strafsoldat Klenke hat das nicht geduldet, hat sie angeschrien und ihr dann einen Kuss auf den bebenden, tränennassen Mund gegeben.
»Lass man«, hat er zu ihr gesagt, »weine nicht. Geh heim und vergiss mich.«
Angst? Strafsoldat Herbert Klenke, wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt, schüttelt den Kopf. Nee, das ist vorbei, das mit der Angst. Angst hat er nur gehabt, als sie ihn mit Fußtritten in die Zelle geworfen haben, die Wachposten gekommen sind, ihn angespuckt und geschrien haben: »Du Schwein! Du Verräter! Du Sauhund!« Nur der Geistliche hat »mein lieber Sohn« gesagt.
Er schaut zum vergitterten Fenster empor, hinter dem der Tag graut. Der letzte Tag eines verspielten Lebens. Wie sachlich der Gerichtsoffizier gewesen ist! Hat sich alles angehört, ein paarmal genickt, sich Notizen gemacht und sich mit dem Finger an der von Mensuren zerhackten Wange gekratzt. Dann das Urteil, monoton gesprochen, mechanisch, oft geübt: wegen Fahnenflucht zum Tode durch Erschießen verurteilt .
Klenke hat nur zustimmend genickt. Strafsoldaten sind zum Sterben da. Zu Tausenden, zu Abertausenden! Wie damals, am 7. Oktober 1943, als der alte Minensucher die tausend Mann des IX. Ersatzbataillons 999 hätte von Piräus nach Samos fahren sollen. Es sind nur wenige mit dem Leben davongekommen. Die britischen U-Boote haben ganze Arbeit geleistet. Am 9. Oktober des gleichen Jahres sind noch einmal 450 Strafsoldaten zu den Fischen geschickt worden, und am 11. Oktober des nächsten Jahres sind es dann 800 gewesen, die »etwas gutzumachen« hatten.
Strafsoldat Herbert Klenke hat keine Angst vor dem Tod. Sie ist gestorben, als er sechs Stunden lang im salzigen Wasser geschwommen ist und endlich den Strand erreicht hat, um weiterleben zu dürfen. Wieder in die Heimat verschickt, wieder eingekleidet, wieder in Marsch gesetzt, um den Tod noch einmal herauszufordern, hat Strafsoldat Herbert Klenke beschlossen, nicht mehr mitzumachen und abzuhauen. In Straßburg, in dem zweitrangigen Hotel, nachts um ein Uhr, ist seine militärische Laufbahn endgültig zu Ende gegangen.
Jetzt wartet er. Sie müssen ja bald kommen, um mit einer Salve die Erinnerung an Berlin, KZ Buchenwald und aussichtsloses Heldentum wegzuknallen.
Aber Leutnant Franz Hartwig ist noch nicht fertig. Er schaut in den Spiegel und stellt fest, dass er wieder einmal versoffen aussieht. Tatsächlich hat er die ganze Nacht durchgesoffen, drüben, bei der Uschi in ihrer gemütlichen Bude.
Wo das Ding bloß immer den französischen Kognak her hat, fragt sich der einarmige Leutnant, als er den Wasserhahn aufdreht und den brummenden Schädel ins Becken taucht.
Uschi Brandt, die Stabshelferin, sitzt unterdessen schon längst vor dem Vermittlungsschrank und verbindet mit einem unerschütterlich freundlichen »'n Augenblickchen, bitte .«, die Teilnehmer.
Leutnant Hartwig rasiert sich sehr geschickt mit der Rechten, zieht Grimassen und schielt dann auf die abgelegte Armbanduhr. Um neun Uhr ist wieder eine Exekution. Er muss sich beeilen. Der arme Kerl, der drüben im Stabsgebäude wartet, soll bald erlöst sein.
Wie heißt er doch gleich, der heute dran ist? . Klinke oder so ähnlich. So ein Dummkopf! Haut ab und lässt sich erwischen . Immer dasselbe Lied: die Frauen. Nur wegen des Frauenzimmers ist der . der Dingsda erwischt worden. Das hat er nun davon.
Dar einarmige Leutnant schüttelt den schmalen Schädel, auf dem das Haar schütter wird. Hartwig kann nicht behaupten, dass ihm das Exekutionskommando Spaß macht. Aber Befehl ist Befehl. Ein Leutnant, der bei Smolensk den Arm verloren hat, ist gerade noch gut genug, um den Degen zu heben und »Feuer« zu kommandieren.
Bei der ersten Exekution hat Hartwig für einen Moment die Augen zugemacht. Bei der nächsten musste er sich gewaltsam zwingen, hinzuschauen, wie der Mann am Pfahl zusammenzuckte und den Kopf auf die Brust sinken ließ. Die nächsten Hinrichtungen konnte Leutnant Hartwig nur noch in alkoholisiertem Zustand ertragen. Heute lässt es ihn kalt, wenn einer zum Pfahl wankt. Nur wenn einer zu brüllen beginnt, zu fluchen, zu flehen, dann wird Leutnant Hartwig unruhig und gibt die Kommandos ganz schnell. Diese verdammten Hinrichtungen sind daran schuld, dass er säuft. Jeder Tote bringt ihn dem Delirium tremens näher.
»Lass dich doch versetzen«, hat Uschi gestern Nacht zu ihm gesagt. »Du machst dich hier ja fertig.«
Er lallte in ihren Armen etwas von Mistkrieg, Sauleben, und dann hat er sich aufgerichtet und das Mädchen angeschrien:
»Willst mich wohl loswerden, was?«
»Nein, ich will, dass du nicht so viel trinkst!«
»Ich saufe weiter!«, hatte er geknirscht und dann ein ganzes Mundspülglas voll Kognak ausgetrunken.
Fünf vor neun. Leutnant Hartwig legt die Armprothese an, zwängt sich etwas umständlich in den Uniformrock und schnallt den Degen um.
Draußen stehen die sechs Mann. Ihre Gesichter hängen unter den Stahlhelmen wie steinerne Masken. Koppel und Patronentaschen sind blank gewienert. Die Gewehrläufe funkeln kalt im blauen Morgenlicht.
»Stillgestanden! Rührt euch! Augen geradeeee aus! Im Gleichschritt - marsch!«
Die Kommissstiefel trommeln. Tram, tram, tram, tram . Herbert Klenke hört sie kommen und erhebt sich. Tram, tram, tram, tram .
Er ist blass. Die Augen liegen tief in den Höhlen. Ein Zittern schleicht sich in die Knie. Die Angst wächst und wächst, das Leben ist mit einem Male begehrenswert, gleich, unter welchen Umständen es gelebt werden soll.
Schlüssel klirren. Die Tür geht auf. Der Pfarrer kommt zuerst herein. Hinter ihm steht Leutnant Hartwig, dahinter die sechs Henkersknechte mit den Stahlhelmen.
»Mein Sohn .«, murmelt der Pfarrer.
Klenke winkt ab. Er hat Tausende verrecken sehen. Er hat ihre Hilfeschreie gehört, ihre verrenkten Arme, ihre kralligen Finger gesehen. Man stirbt nur einmal.
»Geht's los, endlich?«, fragt er.
Er wird nicht plärren, denkt Leutnant Hartwig. Endlich mal einer, der nicht plärrt und lauter unsinniges Zeug lallt.
Tram, tram, tram, tram.
Die schwarzhaarige Stabshelferin Uschi Brandt aus Stuttgart steht im Waschraum und zieht die Lippen sorgfältig nach. Draußen auf der Lagerstraße ertönen Marschtritte. Uschi stößt das schmale Toilettenfenster auf und schaut hinaus. Leutnant Hartwig marschiert vorbei, zusammen mit seinen sechs Schergen, in der Mitte ein Mensch im Drillichanzug.
Der Erschießungsplatz liegt hinter der Baracke 6, dahinter der Wall, über dem der schwäbische Forst mit dunklen Wipfeln trauert. Der Pfahl ist neu.
Klenkes Lächeln ist leer, als man ihn festbindet.
»Nicht die Augen zu«, sagt er mit brüchiger Stimme zu Hartwig. »Ich will euch sehen, wenn ihr schießt. Und einmal wirst du dir selbst die Kugel durch den Kopf jagen, Leutnant - einmal bist auch du dran.«
Hartwig wendet sich ab, zieht den Degen, hebt ihn. Dann kracht die Salve.
Strafsoldat Herbert Klenke hängt schlaff in den Stricken, die ihn am Pfahl festhalten.
Über dem schwäbischen Forst kreist ein Schwarm aufgescheuchter Krähen und setzt sich irgendwo nieder. Jedesmal, wenn auf dem Schießplatz eine Salve kracht, schrecken die schwarzen Vögel auf. Sie werden sich ebenso wenig an das Krachen gewöhnen, wie sich Leutnant Hartwig daran gewöhnen wird, alle drei oder vier Tage einen Delinquenten zum Tode zu befördern.
Ohne Ende scheint die Fahrt. Zwei Tage schon poltert der Transportzug ins Ungewisse. Im grauen Dunkel der plombierten Viehwaggons kauern die Elendsgestalten auf dem blanken Boden. Je vierzig in einem Waggon. Die Luft ist verpestet. Die Gucklöcher sind mit Stacheldraht verspannt. Ein rollendes Gefängnis.
Taumelnd steht eine hohlwangige, zebragestreifte Gestalt an der Schiebetür und verrichtet ihre Notdurft. In einem Schweinestall kann es nicht schlimmer aussehen und grässlicher stinken.
In München-Stadelheim ist der letzte Schub Zuchthäusler übernommen worden. Ein paar Brote wurden hineingeworfen. Tür zu. Weiter!
Der Sammeltransport entehrter, geschundener, geprügelter, halb verhungerter Menschen rollt die Strecke Tuttlingen-Sigmaringen entlang. Der Zug pfeift. Es klingt wie der Aufschrei der Verzweiflung.
Nicht weniger als dreihundert Jahre Zuchthaus sind in diesen Viehwaggons zusammengepfercht. Am Schluss rollt der Personenwagen mit den Bewachern. Sie dreschen einen Skat, lachen, erzählen Witze, während ein paar Wagen weiter das Elend seufzt und stöhnt.
»Wer hier jammert, hat keine Überzeugung«, sagt der katholische...
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