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Berlin, Ende April 2022
Auszeit mit Einsicht. Suse würde in hundert Jahren nicht verstehen, was das sein sollte. Allein dieses Wort: Auszeit. Ausfall, Auswurf, Auszeit. Sehr verlockend. Und Einsicht . Man konnte Akteneinsicht nehmen, von Seeleneinsicht hatte sie noch nie etwas gehört. Weil es das nicht gab. Niemand konnte Einsicht in ihre Seele nehmen, schon gar nicht auf die Schnelle im Urlaub. Und das war auch gut so. Trotzdem stand sie hier am Berlin-Ostbahnhof, die kleine Tasche über der Schulter. Sie hatte nicht viel eingepackt. Auf Pumps oder Kleidchen stand sie sowieso nicht. Und dies hier war keine Party-Reise. Suse verzog unwillkürlich das Gesicht. Es war eine Psycho-Reise. Noch schlimmer. Oder auch nicht. Womöglich wurde sie verzaubert. Das hatte Britta gesagt.
»Du hast nichts zu verlieren. Entweder kommt es, wie du erwartest, und der ganze Kram bringt nichts. Dann hast du wenigstens mal richtig Ferien gemacht. Oder du wirst verzaubert. Von der Insel, vom Abstand, von dieser Frau Marold. Was man so liest, muss die wirklich zaubern können.«
Sie blickte hoch zur Anzeigetafel. Binz auf Rügen, Verspätung dreißig Minuten. War ja klar, dass es schon hakelig anfing. Von wegen zauberhaft! Sie ließ die Reisetasche auf den Boden gleiten und verschränkte die Arme. Egal, war eigentlich sogar gut, dass der Zug nicht pünktlich kam. So hatte sie noch eine Schonfrist. Johlen und lautes Rülpsen lenkten ihre Aufmerksamkeit auf drei Jungs, die den Bahnsteig entlangkamen. Sie grölten und lachten und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken. Einer trug eine Jeans, die an beiden Knien aufgerissen war, dem anderen hing die Hose so weit herunter, dass die halbe Unterhose darunter hervorlugte. Der Dritte brauchte vermutlich einen Dosenöffner, um aus dem schwarzen Ding zu kommen, das seine Beine wie eine zweite Haut umschloss. Schnürsenkel offen, Jacken im Militärlook, die Haare seitlich abrasiert, nur oben auf dem Schädel trugen sie mit Gel glatt gestriegelte Tollen. Schreckliche Nazifrisuren, wie genormt. Jetzt bahnten sie sich mit ausgefahrenen Ellbogen ihren Weg durch die Wartenden und rempelten gnadenlos Leute an.
»Könnt ihr nicht aufpassen?«, beschwerte sich ein Mann.
»Willst was auf die Fresse, oder was?«, brüllte einer, die anderen beiden lachten dreckig. Die ganz harten Jungs. Aber wehe, einer von denen geriet mal allein in die Klemme, dann jammerten sie nach ihrer Mama. Suse behielt die drei im Blick. Sie gingen auf ein älteres Paar zu. Sollte sie eingreifen? Sonst kümmerte sich mal wieder kein Mensch. Die meisten bekamen erst gar nichts mit, weil sie auf ihre Handys starrten oder Kopfhörer auf den Ohren hatten oder beides. Kurz bevor die Jungs das Ehepaar erreichten, bog einer ab, die anderen hinterher. Der Erste steuerte auf einen Abfalleimer zu. Suse war überrascht, der würde die prallvolle Tüte Fast-Food-Müll doch nicht etwa .? Natürlich nicht. Er warf sie genau neben dem Eimer in die Ecke. Seine Kumpels schlugen sich prustend auf die Schenkel. Kehricht und Dreck, was sollte sie auch sonst zu sehen kriegen? Ihr ganzes Leben bestand daraus.
Als sie eine Stunde später in Abteil sieben durch Oranienburg rumpelte, konnte sie noch immer nicht fassen, dass sie sich zu dieser Fahrt nach Rügen entschieden hatte. Sich hatte überreden lassen, traf es besser. Sie blickte in die grüne Landschaft, die an ihr vorüberzog. Die Strecke überquerte einen Fluss. Das musste die Havel sein. Dann lag nicht weit von hier die berühmte Lungenheilstätte Grabowsee. Suses Eingeweide krampften sich zusammen. Sie war mal dort gewesen, zur Besichtigung. 2016 musste das gewesen sein. Ein heruntergekommener Ort, der sie irgendwie berührt hatte. War seltsam gewesen, vor den Gebäuden zu stehen, über das Gelände zu streifen, nachdem sie so viel darüber recherchiert hatte. Das war eine Marotte von ihr. Wenn ein Thema sie interessierte, musste sie alles darüber wissen. Na ja, so viel wie möglich eben. Wenn man sich für etwas so Charmantes wie Lungenkrankheiten interessierte, landete man zwangsläufig bei Grabowsee. Im 19. Jahrhundert war es allgemeiner Konsens gewesen, Erkrankungen der Atemorgane könnten im milden Klima des Mittelmeerraums oder irgendwo in den Bergen kuriert werden. Die Luft des norddeutschen Flachlands schien eher nicht geeignet. Wie hieß es so schön? Versuch macht kluch! Also wurde die Heilstätte zu Versuchszwecken eingerichtet. Mit passablem Erfolg anscheinend, denn die Anzahl der Betten wuchs in den folgenden rund dreißig Jahren.
»Ich begreife nicht, dass du die Vergangenheit nicht endlich ruhen lassen kannst«, hatte sie plötzlich Jackie im Ohr. Sie hieß eigentlich Jacqueline, fand es aber schicker, sich genauso abzukürzen wie die Onassis. »Wenn du es zur Bewältigung deines Kindheitstraumas brauchst, dann hättest du meinetwegen Forscherin werden sollen oder Fachärztin für Lungenheilkunde. Du bist weder noch, du bist FfKA.« Ausnahmsweise hatte sie sich die Erklärung, die sie sonst alle automatisch runterleierten, gespart: FfKA steht für Fachkraft für Kreislauf- und Abfallwirtschaft und ist nicht zu verwechseln mit FKK. »Nicht mal der Kreislauf in unserem Beruf hat etwas mit Medizin zu tun«, hatte Jackie ihr vorgehalten. »Du konntest noch nie etwas für deine Mutter tun, und du wirst es nie können. Also schließ endlich mit ihrem Schicksal ab!«
»Genau, du kanntest sie nicht einmal richtig«, hatte Britta zugestimmt.
Blödsinn. Suse war zehn gewesen, als sie gestorben war. Ein Kind von zehn Jahren kannte seine Mutter sehr wohl. Gut genug, um sich auch heute noch an sie zu erinnern. Suse atmete schnaufend aus. Welch ein Glück, Britta und Jackie in der Berufsschule kennengelernt zu haben. Drei Mädchen unter etwas über zwanzig Jungs, da hatte es nahegelegen, sich zusammenzutun. Dass sich daraus eine Freundschaft entwickeln würde, die noch immer andauerte, war nicht zu erwarten gewesen. In der Lehrzeit stellte das Leben noch einmal die Weichen, es hätte für jede in eine andere Richtung gehen können. Unterschiedlich, wie sie waren, war es alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass sie noch heute zusammenhielten wie Pech und Schwefel. Das betrachtete Suse als großes Geschenk. Die drei Müll-Häschen. Sie musste lächeln. Gleich bei der ersten Sause der Berufsschüler waren sie zu ihrem Spitznamen gekommen.
»Wir sind die Rubbish Rackets«, hatte einer der Jungs weinselig verkündet.
»Quatsch, die Rubbish Robots!«, meinte ein anderer.
Erst hatten sich die Kerle in möglichst martialischen Bezeichnungen überboten, dann war ihnen aufgefallen, dass nichts davon für Mädchen passte. Damals durfte man so etwas noch sagen, ohne gleich eine Gender-Debatte am Hals zu haben.
Jedenfalls ging es eine Weile hin und her, bis einer rief: »Ist doch wohl klar, das sind unsere Rubbish Rabbits.«
Suse hatte sich darüber beschwert, dass das kein Mensch aussprechen könne. Außerdem hatte sie damals gerade ihre Anti-Anglizismen-Phase. Sie konnte die Begeisterung noch nie verstehen, die einige für Amerika aufbrachten, meistens auch noch Menschen, die nie dort gewesen waren. Und sie verabscheute die US-Waffengesetze noch mehr als die ungesunde Ernährung, die längst nach Europa geschwappt war und auch hier übermäßig viel unsinnigen Abfall zur Folge hatte. In ihrem ersten Lehrjahr waren die Vereinigten Staaten ständig in den Schlagzeilen gewesen, weil irgendwelche Irren wahllos ahnungslose Passanten abknallten. Von Heckenschützen war die Rede. Sie konnte nicht fassen, dass Politiker ihre Bürger weiter mit schweren Waffen herumlaufen ließen und nicht in der Lage waren, die Verrückten zu stoppen, die Jagd auf unschuldige Menschen machten. Darum war ihre Ablehnung dem Englischen gegenüber in der Zeit besonders ausgeprägt gewesen.
Und darum hatte sie gesagt: »Wenn schon, dann sind wir die Müll-Hasen.«
Ihr Lächeln wurde bei der Erinnerung zu einem breiten Grinsen. Kaum hatte sie es ausgesprochen, war ihr nämlich selbst klar gewesen, dass sie ein Eigentor gelandet hatte.
»Müll-Hasen? Nicht dein Ernst!« Jackie hatte eine Grimasse gezogen.
Es war zu spät gewesen, zurückzurudern, die Jungs hatten gegrölt und sich wiederum in Fantasien übertroffen. Von Bunny-Kostümen bis Betthäschen war alles dabei. So sehr sich die drei Freundinnen auch gewehrt hatten, den Spitznamen Müll-Häschen waren sie nie mehr losgeworden. Irgendwann war er still und heimlich mit ihnen verschmolzen, bis er schließlich zu ihnen gehörte wie ein Körperteil.
In Stralsund musste Suse umsteigen. Der Anblick der prachtvollen Silhouette der alten Hansestadt hob ihre Laune. Auch die ersten Eindrücke der Insel stimmten sie ein wenig zuversichtlicher. Warum konnte sie nicht einfach Badeurlaub machen wie andere Menschen auch? Dann hätte sie sich jetzt ungetrübter Vorfreude hingeben können. Na gut, im April lag noch niemand am Strand, auch nicht Ende April. Sofort waren ihre Gedanken zurück bei ihren Freundinnen. Britta war nach der Ausbildung in einer Recyclingfirma untergekommen. Sie kümmerte sich für Geschäftskunden um die fachgerechte Entsorgung von Altpapier und Altglas, aber auch um Speisereste und Altfette. Die Arbeit machte ihr Spaß, die Mannschaft war super. Für Suse wäre das trotzdem nichts. Sie hatte sich gleich nach der Lehre auf Sonderabfälle spezialisiert und war jetzt Betriebsleiterin im Bereich der thermischen Rückstandsgewinnung. Sperriger Name, spannender Job. Eigentlich. Im Grunde würde sie gern etwas völlig anderes machen. Zu spät. Sie haderte nicht mit ihrem Schicksal, was ihre berufliche Richtung anging. Zwar fluchte sie nicht...
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