Tanken Sie auf!
Sie sind am Ende, Frau Mischkowsky.«
»Wie bitte?« Frau Mischkowsky, eine große zerknitterte Blondierte mit spitzer Nase und unruhigen Augen, starrte Franziska an.
»Am Ende unseres Coachings. Vorerst zumindest.« Franziska schlug das linke Bein über das rechte und legte die ineinander verschränkten Hände auf ihre Knie. »Wir sind in den letzten .«, sie musste kurz überlegen, ». rund achtzehn Monaten gut vorangekommen. Ihnen ist klargeworden, dass Sie nicht länger mit Ihrem Mann zusammenarbeiten möchten. Sie haben etwas Neues gefunden. Für ihn. Seitdem sind Ihre Umsätze gestiegen, und es ist Ihnen gelungen, Ihrer Tanzschule ein neues Profil zu geben.« Sie lächelte professionell. »Zeit, sich eine Pause zu gönnen.«
»Jetzt?« Frau Mischkowsky schnappte nach Luft. »Unmöglich! Der Laden fängt gerade an zu laufen. Jetzt muss ich dranbleiben. Hatten Sie das nicht gesagt? Ich brauche einen langen Atem, haben Sie gesagt.«
»Sie brauchen Geduld. Das waren meine Worte. Das ist etwas anderes. Wissen Sie noch, warum Sie vor anderthalb Jahren zu mir gekommen sind?« Ihr Blick glitt von dem Pergamentgesicht zum Fenster ihres Arbeitsraums, den sie in einer kleinen Wohnung einer Gründerzeitvilla ganz in der Nähe der Außenalster gemietet hatte. Vor dem Fenster hing ein luftig-weißer Vorhang, der die Sicht nach draußen versperrte, damit die Klienten nicht abgelenkt wurden.
»Ich wollte wissen, was ich tun kann, damit meine Tanzschule mehr Erfolg hat.« Frau Mischkowsky drückte das Kreuz durch.
Franziska seufzte. »Auch. Vor allem wollten Sie wieder Freude in Ihrer Beschäftigung finden. Sie wollten zufriedener werden. Das haben Sie damals jedenfalls so formuliert.« Sie studierte das Fischgrätmuster des Parkettfußbodens. »Sehen Sie, meine liebe Frau Mischkowsky, das dauert. Sie haben die Weichen gestellt, aber bis sich eine tiefe Zufriedenheit einstellt, wird noch etwas Zeit vergehen.« Ihre Klientin wollte protestieren, doch Franziska ließ ihr dazu keine Gelegenheit. »Dafür ist es nötig, dass Sie sich dessen bewusst werden, was Sie bereits erreicht haben. Sie müssen ganz tief in Ihrem Inneren begreifen, wie weit Sie sich bereits in eine neue großartige Richtung bewegt haben. Glauben Sie mir, die Befriedigung kommt dann ganz von allein.« Wie sie es hasste, mit einem erwachsenen Menschen sprechen zu müssen wie mit einem kranken Gaul. Die olle Mistkowsky, wie sie sie insgeheim nannte, hatte ein florierendes Geschäft, einen treu ergebenen Mann, der es ihr nicht einmal übelgenommen hatte, beruflich abserviert zu werden, und zwei gesunde Kinder mit guten Jobs. Sie lagen ihren Eltern längst nicht mehr auf der Tasche. Was wollte sie denn noch? Auch wenn sie sich noch achtzig Monate coachen lassen würde, wäre diese Ziege nie zufrieden.
Franziska schob den Ärmel ihrer Bluse ein Stückchen nach oben, um auf ihre ultraflache Uhr sehen zu können. Die für diese Sitzung eingeplante Zeit war seit über zehn Minuten abgelaufen.
»Machen Sie es wie ich, liebe Frau Mischkowsky, nehmen Sie sich eine Auszeit. Reflektieren Sie, erfreuen Sie sich an dem Erreichten und denken über neue Ziele nach. Wenn wir beide wieder da sind, kümmern wir uns gemeinsam um die Umsetzung.«
»Was soll das heißen, wenn wir beide wieder da sind?« Ihre Augen waren weit aufgerissen und suchten nach Anzeichen in Franziskas Gesicht, dass diese einen Scherz gemacht hatte.
»Ich hatte Ihnen gesagt, dass ich ein Sabbatical nehme. Drei Monate fern von meinem Arbeitszimmer, ohne Klienten, ohne Coachingaufgaben.« Sie seufzte wieder, voller Vorfreude dieses Mal, und erntete einen Blick, der noch mehr Falten auf das Gesicht ihrer Klientin zauberte. Rasch setzte Franziska hinzu: »Man muss sich hüten, nicht auszubrennen. Ich bin als Coach sehr gefragt. Im Zwei-Wochen-Rhythmus habe ich mich auf die Sorgen und Bedürfnisse eines mir bis dahin unbekannten Menschen einzustellen. Jeder hat Anspruch auf meine volle Konzentration und meine hundertprozentige Leistungsfähigkeit.« Es war beabsichtigt, dass ihre weiche Stimme einen arroganten Unterton angenommen hatte. »Ich bin es meinen Klienten schuldig, dass ich eine Auszeit nehme, meinen Akku auflade, neue Energie tanke.«
»Aber was wollen Sie denn machen?«
»Mus.«
»Bitte?«
Franziska lachte leise. »Entschuldigung. Mus und Marmelade aus Sanddorn. Bonbons werde ich auch herstellen, glaube ich.«
Nachdem sie Klientin Mischkowsky hinauskomplimentiert hatte, war Franziska nach Hause geradelt. Sie hatte eigentlich auf dem Weg eine Kleinigkeit essen wollen, hatte sich dann aber für keins der möglichen Lokale entscheiden können. In ihrer Wohnung angekommen, starrte sie sekundenlang in den Kühlschrank. Leer, so leer, wie er zu sein hatte, wenn seine Besitzerin ihn volle zwölf Wochen nicht benutzen würde. Einen Speiseplan B hatte sie nicht. Dann mussten eben die beiden Energieriegel genügen, die eigentlich Reiseproviant hätten sein sollen. Sie kochte sich dazu einen Espresso, reinigte anschließend die Maschine, die sie letztes Jahr bei einem Spezialisten in Italien erstanden hatte, und packte sie in einem Nest aus alten Zeitungen, von denen sie immer genug liegen hatte, in den Originalkarton, den sie längst hatte entsorgen wollen. Das Gerät musste alle zwölf Monate zur Inspektion geschickt werden, sonst verfiel die Gewährleistung. Der einzige Grund, warum Menschen nicht zur Inspektion mussten, war wohl der, dass es für sie ohnehin keine Gewährleistung gab.
Zusammen mit dem Karton hatte sie einen Koffer und ihre Reisetasche vom Dachboden geholt. Sie musste dem Vermieter unbedingt noch eine Mail schicken, dass er die Lampe auf dem Speicher, die vor nun schon bald einem halben Jahr den Geist aufgegeben hatte, gefälligst in Ordnung bringen sollte. Wenn sie zurückkäme, stünde der Winter vor der Tür. Ihr feiner Herr Vermieter würde ihr bestimmt nicht die Taschenlampe halten, wenn sie dann etwas auf dem Boden suchen musste.
»Nicht ärgern«, sagte sie sich. Schumann erledigte nur das absolut Notwendige am Haus. Meistens Dinge, die sofort ins Auge fielen. Das kannte sie schon. Außen hui, innen pfui. Sie könnte kündigen, aber sie mochte ihre Wohnung nun einmal.
»Hallo, Maren! Du, ich wollte nur kurz Tschüss sagen.« Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, packte sie Shirts, Hosen, Röcke und Wäsche, die sich seit Tagen auf ihrem Sofa stapelten, in den Koffer. Die rote Hose brauchte sie nicht, die konnte hierbleiben. Und die Bluse mit den Pailletten? War die etwas für Rügen? Eher nicht.
»Wie, Tschüss sagen?«
»Morgen geht es los. Sag nicht, das hast du vergessen!«
»Du machst Witze, oder? Du wirst doch nicht ernsthaft Erdbeerpflückerin auf Usedom.«
»Nein, ich werde Sanddornpflückerin auf Rügen.«
»Ach komm, du nimmst mich auf den Arm.«
Franziska packte die rote Hose doch wieder ein und musste nun entscheiden, welche Strickjacke und welcher dickere Pullover mitsollte. »Meinst du, es ist auf der Insel kälter als hier in Hamburg?«
»Vielleicht ein bisschen mehr Wind. Es ist dir also ernst?«
»Ja, Maren, das habe ich dir schon ein paarmal gesagt. Ich brauche eine Auszeit und muss mal etwas völlig anderes machen. Ungewohnte Aktivitäten führen zu neuen Einsichten.«
»Okay, aber warum muss es denn so was sein? Ich meine, Rügen ist nicht gerade der Nabel der Welt. Und du wirst dir komplett die Hände ruinieren. Warum, glaubst du, heißt dieser olle Busch Sanddorn?«
Franziska erklärte, dass sie bestens vorbereitet sei und davon ausgehe, dass es für die Helfer Handschuhe geben werde.
»Ach, Mensch, wenn ich gewusst hätte, dass du tatsächlich fährst, hätte ich darauf bestanden, dass wir uns noch sehen.«
»Du hast es gewusst.«
»Nee, ja, doch, schon irgendwie. Aber ich hab nicht daran geglaubt. Ich dachte, du schmeißt den verrückten Plan in letzter Sekunde doch wieder über den Haufen.« Stille. »So wie sonst auch immer.« Wieder Stille. »Kann ich dich wenigstens zum Bahnhof bringen?«
»Gute Idee!«
Nachdem die Bluse mit den Pailletten doch in die Reisetasche gewandert war, rief Franziska ihren Vater an, um sich zu verabschieden.
»Morgen schon? Ach so, ja, stimmt. Na, dann wünsche ich dir ganz viel Spaß und hoffe, dass du dich auch ein bisschen erholst. Wohin geht es denn nun?«
»Nach Rügen, Papa, das weißt du doch.« Sie versuchte den Reißverschluss der Tasche zuzuziehen, hatte aber keine Chance. Die Zähne ließen sich nicht einmal mit Gewalt aneinanderschieben. Sie hatte einfach zu viel eingepackt. Also doch wieder raus mit der roten Hose.
»Schon, aber ich dachte, du hast es dir vielleicht noch mal anders überlegt. Ich meine, wäre ja nicht das erste Mal.«
»Als ob ich so oft meine Pläne ändern würde.«
»Nicht oft. Ständig. Und Rügen . Ganz ehrlich, das ist nicht das Richtige für dich.«
Ein Wollpulli und ein Ersatzbadehandtuch lagen auf dem Boden. Dafür war kein Platz mehr. Franziska hockte nun auf dem Gepäckstück, zog die Seitenwände kräftig zusammen und hätte eine dritte Hand gebraucht, die den Reißverschluss hätte bedienen können. »Warum nicht, was soll so verkehrt an Rügen sein?« Sie kam ins Schwitzen.
»Verkehrt für dich. Du fährst sonst nach Verona und gehst in die Arena, um dir Aida anzusehen. Du läufst dir in Rom die Füße wund und stehst in Florenz stundenlang an, um in die Uffizien zu kommen. Auf Rügen kannst du in die Störtebeker Festspiele gehen, Putbus besichtigen und vielleicht ein Bernsteinmuseum. Ende. Das war's.«
»Na und, klingt doch nett.«
»Nett! Du wirst umkommen vor...