Schweitzer Fachinformationen
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Dunkle Wolken zogen über Riga auf, als Hartwych van Broke, die Kapuze seines Pelzmantels tief ins Gesicht gezogen, die Stadt verließ und dem ausgetretenen Pfad zu dem kleinen Holzhaus inmitten von Feldern und Wiesen folgte. Er warf einen Blick zum Himmel. Nicht mehr lange, dann würde es zu regnen beginnen. Innerhalb kürzester Zeit konnten sich die Straßen Rigas in unpassierbare Bäche verwandeln. Von den Sümpfen außerhalb der Stadtmauer gar nicht zu reden. Er würde sich sputen müssen. Die düstere Stimmung, die das umschlagende Wetter erzeugte, spiegelte sich in Hartwychs Seele wider. Erneut blickte er hinauf zum Himmel, der so groß und endlos schien. Welch eine Verheißung von Weite und Freiheit, schoss es ihm durch den Kopf, die in seinem Leben niemals erfüllt werden würde. Er war nicht frei, sondern Sklave seines Vaters, seines Standes und der Konventionen, die ihn und Ria trennten. Hartwych beschleunigte seinen Schritt. Womöglich würde es ein Gewitter geben. Dann sollte er nicht mehr hier draußen sein. Als es nur noch wenige Fuß bis zu der Hütte waren, hielt er einen Moment inne. Er konnte Rias helle klare Stimme hören. Sie sang ein fröhliches Lied, das vom nahenden Frühling und von der Sonnengöttin Saule erzählte. Hartwych lächelte. Wie passend! Wenn er Rias Stimme hörte oder in ihre Augen blickte, dann war ihm stets, als würde die Sonne aufgehen. Er liebte ihr unbekümmertes Wesen, ihr Lachen und ihre Natürlichkeit, die selbst einen finsteren Tag wie diesen erhellen konnten. Das Lächeln verging ihm bei dem Gedanken, weshalb er sie aufsuchte. Er seufzte schwer und setzte seinen Weg fort.
Er klopfte an die niedrige Holztür. Rias Stimme erstarb mitten in dem Lied.
»Wer ist dort?«, fragte sie.
»Hartwych!«
Im nächsten Augenblick wurde die Tür aus dunklem Holz geöffnet, die an der unteren Kante bereits zu vermodern begann und dringend ausgebessert werden musste, und sofort wieder geschlossen, nachdem er in die Kate geschlüpft war. Die beiden Hühner, seit dem Tod von Rias Vater ihre einzigen Gefährten hier draußen, stoben auseinander, jedes in eine Ecke der Hütte.
»Hartwych!« Ihr Gesicht, von kastanienfarbenem, zu einem Zopf geflochtenen Haar eingerahmt, leuchtete. »Ich dachte nicht, dass du noch einmal kommst vor deiner Reise«, sagte sie, wischte die schmalen Hände an der Schürze ab, die sie über ihrem einfachen Kleid aus schlichtem Kattun trug. »Wie schön!« Sie kam auf ihn zu und bot ihm die Wange dar.
Hartwych fürchtete sich davor, ihr die Heiterkeit zu nehmen, aber eben das würde er tun müssen. Er küsste sie zart und nahm ihren Geruch wahr, der ihm längst vertraut geworden war. Er wusste nicht, wie er ihr die schlechten Nachrichten beibringen sollte.
»Ich habe mich für eine kurze Weile davongestohlen«, antwortete er, ließ den Mantel von den Schultern gleiten, hängte ihn an einen Haken, ging hinüber zu dem einfachen Tisch und setzte sich auf einen der beiden Schemel, der beängstigend wackelte. Hartwych rückte ihn an die Wand, um sich anlehnen zu können. Das Huhn, das nahe bei dem Hocker gestanden hatte, lief flügelschlagend an dem Besucher vorbei, unter dem Tisch hindurch und mit leisem Gegacker zu seinem Artgenossen.
»Ich muss ihn beizeiten richten«, sagte Ria wie jedes Mal, wenn Hartwych auf dem kleinen Schemel Platz nahm, und blickte auf die verzogenen Holzbeine.
»Die Tür muss auch erneuert werden«, sagte er, froh, über Dinge sprechen zu können, die er in Ordnung zu bringen imstande war.
»Ja, ich weiß. Ach, jetzt kommt der Sommer. Den hält sie noch gut aus. Bist du durstig? Soll ich dir einen Krug Bier einschenken?«
»Nein, Ria, ich kann mein Bier im Neuen Haus trinken. Du kommst doch kaum mit dem zurecht, was du hast. Da sollst du das Wenige nicht auch noch mit mir teilen.« Wie oft hatte er ihr das schon gesagt?
»Aber ich teile gern mit dir, Hartwych.«
Und wie oft hatte er diese Antwort schon von ihr gehört.
Er stand wieder auf. »Ich muss ohnehin noch in das Neue Haus. Es gibt so vieles zu besprechen, bevor ich aufbreche. Wegen der Stiftung der Tafelgilde, weißt du?«
»Gewiss. Es ist schön, dass du dich um derlei Dinge kümmerst. Immer mehr Menschen drängen in die Stadt. Nicht alle von ihnen werden ihr Auskommen finden. Sie brauchen jemanden, der ihnen zu essen und eine warme Decke für den Winter gibt.« Ria war ein gutes Stück kleiner als er. Ihr Scheitel reichte ihm eben bis zum Kinn. Wie ein Kind stand sie vor ihm und sah zu ihm auf. »Du bist ein guter Mensch, Hartwych.«
Ihm war elend. Nein, wie ein guter Mensch fühlte er sich ganz und gar nicht. Was er ihr zu sagen hatte, war alles andere als gut für sie, für sie beide.
»Du bist sehr ernst. Was hast du auf dem Herzen?«
Ihre braunen Augen blickten ihn so sanft an, dass es ihm noch schwerer wurde. Doch da nützte kein Zögern, er war gekommen, um ihr die Wahrheit zu sagen, und je länger er damit wartete, desto mehr würde es ihn plagen.
»Ich habe dir etwas zu sagen«, begann er. Seine Stimme wollte ihm nicht recht gehorchen und war eigenartig rauh. Das ärgerte ihn. Er wollte nicht zu deutlich seine Empfindungen preisgeben. »Ich konnte einfach nicht fahren, ohne mit dir gesprochen zu haben. Setzen wir uns hin.« Er nahm wieder auf dem wackeligen Schemel Platz. Sie setzte sich gehorsam auf den zweiten Hocker, den sie dicht zu ihm herangezogen hatte. In dem aus Lehm gefügten Ofen loderte schwach die Glut. Ria würde sie neu entfachen müssen, bevor die Nacht hereinbrach. Schon war es kalt und feucht in der Hütte. Die Hühner pickten in dem wenigen Stroh, das in einem Winkel ausgestreut war. Sie bewegten sich mit dem ihnen eigenen Rucken des Kopfes und scharrten leise auf dem Lehmboden. Neben dem kleinen Strohnest standen Behältnisse aus Holz und Ton auf dem Boden, ein Rechen lehnte an der Wand, und zwei geflochtene Siebe hingen neben seinem Stiel.
»Im nächsten Monat erwarten mein Vater und ich eine Lieferung Heringe aus Lübeck«, setzte Hartwych an. »Die Ware stammt von von Ranteln, einem Kaufmann, mit dem wir schon seit langem Handel treiben, ein verlässlicher und geachteter Mann.« Er hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt und betrachtete sie konzentriert.
Sie nahm seine großen kräftigen Hände in ihre kleinen, deren Haut spröde und von der Arbeit auf dem Feld mit Schwielen gezeichnet war. »Warum erzählst du mir das? Du sprichst doch sonst nicht von deinen Geschäften.«
»Von Ranteln hat eine Tochter.« Er spürte, wie sie sich versteifte. »Mein Vater will mich mit ihr verheiraten«, sprach er weiter, ohne ihr in die Augen sehen zu können. »Ich hätte es dir längst sagen müssen, ich weiß. Du hast guten Grund, verärgert zu sein. Aber bisher glaubte ich noch, es wäre nur ein Gedanke meines Vaters und kein fester Plan.«
»Und jetzt?«
»Er hat mir heute mitgeteilt, dass Bilke von Ranteln auf dem Schiff ist, das den Fisch bringt. Es wird womöglich einen weiteren Hafen anlaufen oder vielleicht auch zwei. Aber in fünf oder sechs Wochen wird sie in Riga eintreffen.«
Für einen kurzen Moment herrschte Stille in der Kate. Nur ein Holzscheit knackte in der Glut, und die Hühner machten kratzende Geräusche. Hartwych hob den Blick und sah Ria in das Gesicht. Es zerriss ihm beinahe das Herz. Noch nie zuvor hatte er sie so traurig gesehen. Er allein war schuld daran, dass das sonnenhelle Strahlen erloschen war.
Ria bemühte sich um ein Lächeln. »Na, da wird dir hoffentlich ein hübsches Fischchen an die Angel gehen«, versuchte sie zu scherzen.
Er stand unvermittelt auf. Stünde der Schemel nicht so weit an der Wand, wäre er vermutlich umgekippt. Sie zuckte leicht zurück.
»Ich will diese Frau nicht heiraten, das weißt du. Ich will überhaupt keine andere heiraten, sondern dich. Aber das ist unmöglich.«
»Gewiss«, sagte sie leise.
Er wünschte, sie würde ihm Vorwürfe machen, würde schreien und zetern, ihm die Hölle heißmachen. Doch sie war ruhig und ertrug die Neuigkeit in stillem Schmerz. Das machte die Lage noch unerträglicher für ihn.
»Was soll ich tun?«, fragte er sie, ohne eine Antwort zu erwarten. »Sag mir, was ich tun soll!« Er legte einige dünne Zweige in das Feuer, so dass die Flammen sogleich größer und heller wurden. Dann legte er ein Scheit zwischen die Ästchen.
»Du musst sie heiraten«, entgegnete Ria hinter seinem Rücken. »Wir haben immer gewusst, dass so etwas früher oder später geschehen würde, Hartwych. Seien wir dankbar für die Zeit, die wir miteinander hatten.«
Er schoss in die Höhe und fuhr zu ihr herum. »Was sagst du da?« Ein Schritt und er war bei ihr, griff ihre Handgelenke und zog sie von dem Schemel hoch. Er konnte in ihren Augen sehen, dass er ihr weh tat, dass seine Hände ihre zarten Gelenke zu fest hielten, aber er konnte nicht anders. »Dann soll alles vorbei sein, was zwischen uns ist? Fünf Wochen noch, vielleicht sechs, dann ist alles Vergangenheit? Kannst du das?« Leiser fügte er hinzu: »Und in ebendiesen Wochen werde ich auch noch verreist sein und dich nicht sehen können.« Als er sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, ließ er sie los. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.«
Sie standen einander gegenüber, mit hängenden Schultern und gesenkten Köpfen wie zwei Kinder, die soeben von der Mutter beim Stibitzen von Süßigkeiten erwischt worden waren.
»Wenn du dich wenigstens entschließen könntest, in die Stadt zu ziehen«, sprach Hartwych das Thema an, über das sie schon viele Male geredet hatten. »Dann wäre alles viel einfacher.«
»Und was hätten wir damit gewonnen? Ich hätte kein Auskommen mehr und wäre auf die Almosen deiner Tafelgilde...
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