Schweitzer Fachinformationen
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Sie sind am Ende, Frau Mischkowsky.«
»Wie bitte?« Ziskas Klientin aus alten Hamburger Zeiten war in den letzten Jahren noch faltiger geworden. Kein Wunder, es waren fast zehn Jahre vergangen, seit Ziska der Hansestadt den Rücken gekehrt hatte, um auf Rügen eine Auszeit zu nehmen. Und schon damals war Frau Mischkowsky ziemlich zerknittert gewesen. Die blondierte Dame mit der spitzen Nase und den Augen, die es nur selten länger als eine Sekunde an einem Punkt aushielten, starrte Franziska an.
»Am Ende unseres Coachings. Und dieses Mal endgültig, habe ich den Eindruck.« Ziska schlug das linke Bein über das rechte, legte die ineinander verschränkten Hände auf ihre Knie und lächelte die sichtbar irritierte Mistkowsky, wie Ziska sie heimlich nannte, freundlich an. Mistkowskys Ehemann hatte bei seiner Frau gekündigt, weil er seine letzten Arbeitsjahre ausschließlich damit verbringen wollte, in einer Künstleragentur tätig zu sein, in der ihm so viel Zuspruch entgegengebracht wurde. Ihre Tanzschule lief glänzend, die zerknitterte Mistkowsky musste kaum noch selbst vor Ort sein und konnte stattdessen als Preisrichterin aufstrebenden Tanzpaaren den letzten Nerv rauben. Was wollte ein Mensch bei einem Coaching, wenn das Schicksal es so gut mit ihm meinte? Und plötzlich war Ziska erfüllt von dem Gefühl, ein Kreis würde sich schließen. Genau wegen solcher Menschen mit Luxusproblemen hatte sie vor zehn Jahren an ihrer Berufswahl gezweifelt. Sie hatte sich eine Pause von ihren Kunden und Kundinnen verordnet, um pünktlich zu ihrem dreißigsten Geburtstag ihr Leben auf den Prüfstand zu stellen und möglicherweise zu ändern. Und wie sie es geändert hatte!
Da die Augen ihrer Klientin noch immer ungewöhnlich konstant auf sie gerichtet waren, sagte Ziska: »Ihr Mann hat recht, finde ich. Niemand von uns kennt die eigene Restlaufzeit. War das nicht seine Formulierung? Es ist ein Geschenk, etwas gefunden zu haben, das einen wirklich glücklich macht.«
»Aber ich dachte, mein Mann liebt mich. Ich stehe an erster Stelle, und es macht ihn glücklich, wenn ich zufrieden bin.«
Ziska seufzte leise. »Wir drehen uns im Kreis, liebe Frau Mischkowsky. Ich habe Ihnen schon mehrfach gesagt, ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Sie mit dieser Einschätzung richtigliegen. Das bedeutet nicht, dass Ihr Mann alles für Sie aufgeben muss. Im Gegenteil, das wäre furchtbar.« Die Mistkowsky wollte Einspruch erheben, doch Ziska ließ ihr keine Chance. Sie erhob sich. »Genießen Sie Ihre Freizeit mit Ihrem Mann, und gönnen Sie ihm seinen beruflichen Erfolg! Sie lieben ihn doch auch und brauchen ihn in Ihrer Firma nicht mehr. Zeigen Sie ihm, dass es Sie glücklich macht, wenn er zufrieden ist.« Guter letzter Satz. Ziskas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Dann fiel ihr noch etwas ein: »Vor allem müssen Sie lernen, sich von starren Vorstellungen zu verabschieden, die Ihnen nur im Weg stehen. Seien Sie offen für neue Entwicklungen. Sie werden staunen, wie viel besser Sie sich damit fühlen werden.«
Nachdem sie die Hamburger Tanzschulbesitzerin verabschiedet hatte, ging Ziska zurück, um im Coachingraum klar Schiff zu machen. Sie hätte es bei dem ersten letzten Satz belassen sollen, statt unbedingt noch einen draufzusetzen. Das mit der Offenheit für neue Entwicklungen nistete sich in ihrem Hinterkopf ein wie ein Haar im Ausschnitt, das man nicht zu fassen bekam und einen ständig störte. Auch auf der Plantage gab es neue Entwicklungen, ob Nik und sie offen dafür waren oder nicht. Bedrohliche Entwicklungen. Ach was, die Mistkowsky war ihre letzte Klientin gewesen, jetzt war erst einmal Urlaub angesagt. Ziska lächelte und atmete tief durch. Sie rückte den handgewebten Teppich zurecht, auf dem sich eine Spirale in leuchtendem Gelb und flammendem Rot zu drehen schien. Dann stellte sie den Flipchart an die hintere Wand und sammelte Stifte und Notizblock von dem kleinen Arbeitstisch. Ihr Blick blieb kurz an Gesas riesigem Gemälde hängen. Es war immer wieder faszinierend, wie unterschiedlich es von den Klienten wahrgenommen wurde. Die einen sahen nur Grautöne, die anderen behaupteten, es seien nichts als die Wellen der Ostsee bei Unwetter zu sehen, während wieder andere sofort die Andeutung von Segelschiffen mit in den Himmel gereckten Masten entdeckten. Segeln. Ihr Herz machte einen Hüpfer, eine Mischung aus Vorfreude und Aufregung. Vor einigen Wochen hatten Nik und sie beschlossen, einen Familienurlaub zu unternehmen.
»Ein Segeltörn rund um Rügen!«, hatte Nik mit leuchtenden Augen vorgeschlagen. »Wir wohnen da, wo andere ihre Ferien verbringen. Was gibt es Schöneres, als die Insel vom Wasser aus zu sehen und bei den Stopps die unterschiedlichen Ecken zu erkunden?« Eigentlich wäre Ziska gern mal wieder nach Italien gefahren. Sie liebte das Land, die Sprache, das Essen und nicht zu vergessen den unvergleichlichen Kaffee. Andererseits hatte er recht. Rügen war groß, es gab noch so viel, was sie nicht kannte. Für die Jungs wäre eine solche Tour mit Sicherheit ein großes Abenteuer. Und da lag der Hase im Pfeffer. Jockel und Felix hatten täglich neuen Unsinn im Kopf. Auf einem Boot konnte ihnen das bestimmt leicht zum Verhängnis werden. Hinzu kam, dass Ziska keine nennenswerten Erfahrungen beim Segeln hatte. Doch Nik hatte ihre Bedenken weggewischt.
»Unsere Söhne machen zwar gern Blödsinn, das stimmt. Wenn es darauf ankommt, hören sie aber auf uns. Meistens. Findest du nicht? Und ich bin der Kapitän, das steht fest«, hatte er sie wissen lassen. »Du übernimmst die Kombüse und darfst mir höchstens mal beim Anlegen helfen.« Sie hatte nicht anders gekonnt, als ihm zuzustimmen. Und nun war es also so weit, übermorgen ging es los!
Auf dem Weg von der Villa über den Hof zum Wohnhaus ertönte ein leises Plingplong. Ziska fischte ihr Handy aus der Hosentasche. Eine neue Mail. Eine Horde Ameisen marschierte augenblicklich durch ihren Bauch, so fühlte es sich an. Der Absender war Bernd Dols. Wie lange hatten sie und Nik auf eine Nachricht von ihm gewartet! Dols hatte vor zig Jahren Unterschlupf in der Villa Sanddorn gefunden und hier unter anderem den Schneewinter 1978/79 erlebt. Der Mann war Journalist. Das und noch so viel mehr über die Vergangenheit des Hauses und des Grundstücks hatten sie von einer Klientin erfahren. Ziska wurde noch immer warm ums Herz, wenn sie daran dachte. Sie blickte sich um, betrachtete die Produktionshallen, den kleinen Hofladen, das schöne alte Gebäude im Stil der Bäderarchitektur und ihr kleines modernes Haus. Nik hatte die Anlage von einem gescheiterten Unternehmer gekauft, die Sanddornfelder angelegt, die Hallen gebaut. Nach und nach hatte er aus einem zugewucherten Stück Land mit verfallender Villa all das gemacht, was seit Jahren zu ihrem Zuhause gehörte. Sie beide hatten das zusammen geschafft und fühlten sich mit dem Flecken Erde entsprechend eng verbunden. Und dann war Klientin Christina aus Magdeburg aufgetaucht und hatte ihm und Ziska von den Ursprüngen und den ersten Besitzern erzählen können. Ausgerechnet, nachdem Ziska und Nik beim Ausbau des Dachbodens haufenweise handschriftliche Aufzeichnungen über die Geschichte des Hauses gefunden hatten. Christina hatte den Verfasser gekannt, mehr noch, sie hatte ihnen den Kontakt zu Bernd Dols hergestellt, der seine Zeit hier oben am nördlichsten Zipfel Rügens ebenso in einem Tagebuch festgehalten hatte wie auch die Chronik des Hauses von Anfang an. Ziska sog die milde Sommerluft in ihre Lungen. Glücklicherweise machte die Halbinsel Wittow gerade wieder ihrem Beinamen Windland alle Ehre. So ließen sich auch hohe Temperaturen aushalten. Gesa hatte die Idee gehabt, die Chronik mit Illustrationen zu bereichern und den Gästen als Bettlektüre auf den Nachttisch zu legen. Also hatte Ziska diesen Herrn Dols angeschrieben, ihm alles erklärt und ihn um die Erlaubnis gebeten, seine Texte zu nutzen, sehr persönliche Passagen natürlich ausgenommen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie ihre Bitte für eine Formsache gehalten und war überzeugt gewesen, sehr schnell sein schriftliches Einverständnis zu bekommen. Dem war nicht so gewesen. Mit jedem Tag, der verstrichen war, sank die Hoffnung, ihren schönen Plan mit dem sehr persönlichen Lesestoff für Urlaubsgäste umsetzen zu können.
Ziska stand noch immer auf dem Hof. Sie überlegte, ins Haus zu gehen, sich an den großen Esstisch zu setzen, ein Relikt aus der Ära der Vorbesitzer, und dort die Nachricht zu lesen. Doch sie konnte es nicht abwarten und klickte an Ort und Stelle die Mail an.
Liebe Frau Marold, lieber Herr Marold,
wie Sie gemerkt haben, musste ich lange über Ihre Anfrage nachdenken. Nun habe ich mich entschieden.
Ich kann mir vorstellen, Ihnen die Nutzung der Chronik in der von Ihnen geplanten Weise zu genehmigen. Meine Bedingung ist, sie vorher zu überarbeiten. Das mache ich am besten vor Ort und reise am 26. August an.
Bitte bestätigen Sie mir den Termin.
Gruß, Bernd Dols
»So ein Idiot!«, schimpfte Ziska und ging, das Mobiltelefon in der Hand, ins Haus.
Nik saß über eine ausgebreitete Rügenkarte gebeugt am Esstisch. Um den Inselplan herum stapelten sich diverse Bücher und Prospekte. Ein vertrauter Anblick in den letzten Tagen. Die rätselhafte Erkrankung der Sanddornsträucher hatte zur Folge, dass Nik auf den Feldern nicht viel tun konnte. War er draußen, packte ihn nur wieder der Frust, weil er völlig hilflos zu sein schien. Der Urlaub war ein Projekt, in das er sich geradezu übereifrig stürzte. Verständlich, fand Ziska, endlich etwas Positives, um das er sich kümmern, bei dem er Ergebnisse erzielen...
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