Schweitzer Fachinformationen
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Alles wurde schlimmer, als die Frauen keine Männer mehr sein wollten. Alles wurde schlimmer, als niemand mehr bereit war, Verantwortung zu übernehmen, da unversehens alle verantwortlich waren.
Marie-Louise schaut aus dem Fenster, auf das langsam sich erhellende Grau, auf den abgedeckten Pool und auf die Kiefern, deren jede für sich recht mickrig aussieht, die in der Summe aber fast einen Wald ergeben. Wieder hat sie nicht geschlafen. Sie dehnt ihre Schultern und überlegt, ob sie mit ihren Übungen beginnen soll, verharrt aber in ihrer unbequemen Position und starrt weiter nach draußen. Der Nebel scheint direkt aus den Kiefern zu steigen.
Alles wurde schlimmer, als selbst die Männer keine Männer mehr sein wollten.
Wie ein kalter, zäher Brei steigt der Nebel empor und formiert sich mit den tiefhängenden Wolken zu einer unguten Masse, die droht, den Garten, sogar das Haus zu verschlucken.
Es kommen härtere Tage. Seit ihrer Schulzeit hatte Marie-Louise diese Gedichte nicht mehr gelesen und heute, in dieser Nacht, war sie aufgesprungen und wie von Sinnen ihre Regale abgerannt, bis sie das zerknickte Büchlein fand. Der Nebel kommt näher, und nur noch die vordersten und mickrigsten Kiefern bäumen sich gegen ihn auf. Bald wird man nichts mehr sehen, und auch sie würde verschluckt.
Niemand will mehr ein Mann sein, niemand außer ihrer Schwester.
Marie-Louise fragt sich, warum sie Ingeborg Bachmann so lange vergessen hatte und wie das möglich gewesen war. Die ganze Nacht hat sie über ihren Gedichten gesessen, gelegen, war mit ihnen gelaufen und gegen sie, hat sie umstandslos aufgesogen wie damals, als Schülerin. Wie eine Schülerin hat sie gelesen. Barfüßig geht sie über das Parkett und fragt sich, wie sie je hatte ohne Fußbodenheizung leben können, geht nicht zurück zu ihrem Bett, geht zu ihrem Schrank und in ihn hinein. Sie macht kein Licht, denn sie weiß, wie sie aussieht, oder meint es zu wissen. Es ist schließlich nicht so, dass man mit fünfzig völlig anders aussieht als noch am Tag zuvor. Marie-Louise tastet nach einem Pullover aus Merinowolle und streift ihn über ihren schmalen, noch immer festen Körper.
Dein Blick spurt im Nebel. Sieh dich nicht um. Kaffee, Musik, Fokus und Zerstreuung! Rameau vielleicht oder Mozart, etwas Heiteres, das ordnet. Aber zunächst Kaffee - nein, Espresso, denn Espresso ist Kaffee in Abstraktion, und Marie-Louise ist heute nach Abstraktion. Sie stellt die kleine dicke Tasse unter die Maschine, drückt auf einen Knopf, und während die schwarze Flüssigkeit zu tröpfeln beginnt, wird ihr bewusst, dass sie es ist, die ein Mann sein will, dass sie dafür ihr Geschlecht gar nicht wird wechseln müssen, da sie schließlich dieses Haus hat - dieses Haus, das Geld und die Affären mit Männern, Jungs, die halb so alt sind wie sie. Vielleicht ist Marie-Louise bereits ein Mann, sie hat die nötige Strenge gegen sich selbst. Eigentümlich beschwingt durch diesen Gedanken, führt sie den abstrakten Kaffee an ihre Lippen, trinkt selbstzufrieden einen kleinen Schluck und sucht auf ihrem Telefon nach einer diesem neuen Morgen würdigen Musik - Pachelbel, natürlich.
Sowie die ersten Töne des Cembalos erklingen, tänzelt Marie-Louise zurück zum Fenster, denn der Nebel hat seinen Schrecken verloren. Sie trinkt ihren Espresso und sieht ins nunmehr zartere Grau. Erst seitdem Thomas tot ist, fühlt sie sich hier wirklich zu Hause. Erst seitdem Thomas tot ist, ist dieses Haus ihr Haus, ihre Burg. Sie ist groß und weiß, ihre Burg, mit großen breiten Fenstern, flachen Dächern und hellen weiten Fluren, in die das Licht gedämpft von oben herabsickert. Manchmal sieht man auf dem Weg zum Bad einen Bussard seine Runden ziehen. Thomas hat sie entworfen, ihre Burg, aber das ist nun unerheblich.
Jag die Hunde zurück. Wirf die Fische ins Meer. Heute wird sie ihre Zwillingsschwester wiedersehen, zum ersten Mal seit Jahren wird sie sie wiedersehen. Oder vielmehr, ihren Zwillingsbruder wird sie wiedersehen - wird ihn das erste Mal sehen. Sie wird in ihr eigenes Gesicht sehen, nur dass dieses Gesicht sich dazu entschlossen hat, ein Mann zu sein. Kein Mann wie Marie-Louise es ist, sondern ein richtiger, ein leibhaftiger Mann, dem ein Bart sprießt und der als Mann angesprochen werden will. Wie wird diese Stimme klingen, die Stimme des Mannes, der ihre Schwester war und der nur wenige Minuten nach ihr, achteinhalb Minuten um genau zu sein, das Licht der Welt erblickt hat?
Es klopft an der Tür. »Madame?«
»Ich komme gleich, Ivana. Ich bin wach und brauche kein Frühstück«, hört Marie-Louise sich ungewöhnlich harsch rufen, obgleich ihre Haushälterin keine Schuld trifft. Ivana wird es nicht plötzlich einfallen, ein Mann zu sein.
Marie-Louise schlüpft in eine legere Hose, in ihre ausgetretenen Stiefel und wirft sich Thomas' alten Mantel über. Von ihrem Balkon führt eine Treppe in den Garten, in den Nebel, die es ihr ermöglicht, Ivana zu umgehen, ihren Blick, in dem Marie-Louise einen Vorwurf erahnt, den es womöglich gar nicht gibt. Der Nebel legt sich kalt auf ihr Gesicht, und nach wenigen Metern sieht sie nur noch ihre Füße, ihre dicken, ausgetretenen Stiefel und wie sie durch das feuchte Gras irren.
Es ist noch früh, doch schon kommt der erste Anruf - Mutter. Marie-Louise wartet, bis es aufhört zu klingeln, und beeilt sich sodann, ihr Telefon auszuschalten. An Geburtstagen muss man sein Telefon ausschalten. Absichtslos hat sie den schmalen Gehweg gefunden, der vom Hauptgebäude zum Poolhaus führt, die kleinen runden Platten. Marie-Louise seufzt, denn nun wäre es sinnlos, weiterzulaufen. Sie wird erwachsen sein und zurückgehen, duschen und sich angemessen kleiden.
Sie hat das Haus, ihre Burg, schon fast erreicht, als sie den Vogel sieht. Er ist schwarz und hat einen langen roten Schnabel, gebogen wie bei einer Pestmaske. Marie-Louise denkt an Venedig, an das Umherschippern zwischen dem Palazzo Gritti, der Oper und San Michele. Immer hatte Thomas im Palazzo Gritti wohnen wollen und schließlich die Toteninsel anvisiert, hatte sie scheinbar anvisieren müssen, mitunter mehrmals während eines Aufenthalts. Irgendwann war Marie-Louise nicht mehr mitgekommen, war im Hotel geblieben und hatte ihren Stendhal gelesen - war schließlich gar nicht mehr mit Thomas ausgegangen. Italien war ihr einfach zu viel, und nur durch die Augen eines Franzosen konnte sie dieses Land überhaupt ertragen. Der Vogel zuckt, scheint noch zu leben, doch ein Flügel steht von seinem Körper ab.
»Eine Alpenkrähe. Wie hast du es denn nach Österreich geschafft?«, murmelt Marie-Louise und tritt so fest nach dem Vogel, dass er aufschreit und in den Nebel fliegt. Als sie den Aufprall hört, ist er schon verschwunden. Befriedigt läuft sie weiter, schreitet vielmehr.
»Habe großes Frühstück gemacht, Frühstück für Madame. Madame muss sich stärken für großen Tag.« Ivana hat die Hände in ihre Flanken gestemmt und sieht Marie-Louise herausfordernd an. »Happy Birthday!«
Dieses Madame hat David ihr beigebracht, um Marie-Louise zu ärgern; sie bedankt sich widerwillig und setzt sich an die Insel ihrer schlecht gealterten dänischen Küche. Warum sieht alles, sobald es zehn Jahre alt ist, so grässlich aus? Marie-Louise wird sich eine neue Küche kaufen, gleich nächste Woche.
»Soll ich Madame dicken Mantel ausziehen? Ist zu warm für dicken Mantel.«
»Nein danke, Ivana.«
Die Haushälterin stellt ein monumentales Tablett aus englischem Silber auf die Insel. »Dachte, Madame will vielleicht in Bett frühstücken. Ist okay, wenn ich Frühstück auf Tablett lasse?«
»Ist okay. Danke, Ivana.« Marie-Louise kann sich nicht erinnern, dieses Tablett je gesehen zu haben, und englisches Silber war ihr schon immer zuwider. Auch hat sie sich noch nie für Frühstück im Bett, geschweige denn für Frühstück überhaupt interessiert. Ivana geht allmählich zu weit.
»Sie müssen Palatschinken kosten. Habe ausprobiert neues Rezept.«
Marie-Louise sucht inmitten der Beeren, Croissants und Kännchen nach den Pfannkuchen, findet diese schließlich unter einem glibberigen Berg aus Marillenmarmelade und nimmt einen Bissen. »Vielen Dank, Ivana. Sehr lecker.«
Ivana lächelt und nickt, macht jedoch keine Anstalten zu verschwinden, sondern bleibt auf der anderen Seite der Insel stehen.
Wenn Madame Auer nicht bald mehr isst, wird es heute Abend wieder ein Fiasko geben. Ivana kann sich noch sehr gut an den letzten Besuch der Schwester erinnern. Sie wird nicht weichen, ehe die Herrin des Hauses, ehe Madame, wenigstens einen der Palatschinken gegessen hat. Es kostet sie schon genug Überwindung, diese Jacke zu dulden. Frau Auer wird sich erkälten, sie scheint ohnehin völlig neben der Spur; ihr mittellanges blondes Haar steht nach allen Seiten, und die dunklen Augenringe betonen ihre hohlen Wangen in ungesundem Maß. Ist das Blut an ihrem Stiefel? Ivana hat das schöne Tablett auf einem Flohmarkt gefunden und selbst bezahlt, von ihrem eigenen Geld, von dem Geld, das sie bei Frau Auer verdient. Die ganze Nacht hat Ivana sie in der Bibliothek hin und her rennen hören. Ivana liest lieber mit den Augen als mit den Füßen, doch ist Ivana nicht hier, um zu urteilen.
»Darf ich jetzt duschen gehen?«
»Madame darf alles tun, was Madame tun will.«
Marie-Louise muss lachen, muss wahrhaftig lachen und bleibt sitzen. So schlecht hat der Pfannkuchen nicht geschmeckt. Sie gießt sich ein Glas Blutorangensaft ein, ein halbes Glas.
»Hast du den selbst gepresst?«
»Nein. Schmeckt...
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