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»Kirchensoziologie« - dieser Begriff nahm seit den frühen 1960er Jahren in den Sozialwissenschaften und insbesondere in der Religionssoziologie immer mehr einen schlechten Klang an. Man verstand darunter zunehmend eine Art von Forschung, die sich angeblich zum bloßen Instrument der Kirchenleitungen machen ließ, indem sie etwa Daten sammelte und auswertete, die diese Leitungen benötigten, oder zur Rationalisierung der Organisationsstrukturen in den Kirchen beitrug. Diese Art von kirchensoziologischer Auftragsforschung diente aufstrebenden Vertretern des Faches als bloße Folie, gegen die sie ihre eigenen Projekte definierten, zum Beispiel Forschungen über neue Formen der Spiritualität, die sich außerhalb kirchlicher Institutionen identifizieren ließen. Für sich selbst nahmen diese Forscher einen weiteren Horizont und eine intellektuelle Unabhängigkeit in Anspruch, die sie den sogenannten Kirchensoziologen zugleich absprachen. Dieser Zerfall des Feldes in zwei Lager - das der Kirchensoziologen und das derjenigen, die (unter dem Einfluss von Thomas Luckmann) hauptsächlich Mikrophänomene des gegenwärtigen religiösen Lebens studierten und dabei von der Vorstellung einer immer weiter voranschreitenden Privatisierung der Religion geleitet wurden - hatte eine ironische Konsequenz: Beide Seiten vernachlässigten nämlich die Aufgabe, die Institution Kirche ganz grundsätzlich aus soziologischer Perspektive zu analysieren. Für die einen war »Kirche« schlicht die unbefragte Voraussetzung ihrer Arbeit; für die anderen hauptsächlich ein Relikt der Vergangenheit, das in naher Zukunft, spätestens im Jahr 2000, praktisch verschwunden sein würde - so der bekannte österreichisch-amerikanische Soziologe Peter Berger in einer Äußerung im Jahr 1968 in der »New York Times«, was er später sehr bedauerte und zurücknahm.1
Eine Soziologie der Kirche hat nun meines Erachtens, anders als eine rein praktisch orientierte Kirchensoziologie, zu ihrem Ausgangspunkt die Staunen erregende und zum Nachdenken zwingende Tatsache zu nehmen, dass es so etwas wie die Kirche überhaupt gibt. Wir nehmen es viel zu sehr als selbstverständlich hin, dass es in unserer Welt und trotz allem sozialen Wandel eine Institution gibt, die sich bei allen Konflikten und Spaltungen doch auf eine im Prinzip kontinuierliche Tradition von fast 2000 Jahren berufen kann. Auch diejenigen, denen diese Behauptung zu katholisch klingt und die den großen Bruch der Reformation betonen, werden zumindest die große Kontinuität der Institutionen seit der Reformation nicht in Abrede stellen. Niemand kann bestreiten, dass dies ein bemerkenswertes Phänomen ist; manche werden sich sogar versucht fühlen, darin eine Art Wunder zu sehen. Nur sehr wenige Staaten auf der Welt können eine ähnliche ununterbrochene Kontinuität für sich behaupten, am ehesten Japan und bis zu einem gewissen Grade China. Aber dies sind eben Staaten, d. h. politische Einheiten, die auf Macht und einem spezifischen Territorium beruhen. Diese Staaten haben zwar selbst eine religiöse Dimension, sind aber nicht religiöse Gemeinschaften mit einer über jedes begrenzte Territorium hinausreichenden, auf die gesamte Menschheit zielenden, in diesem Sinne universalistischen Orientierung. Es gibt zwar religiöse Traditionen von anhaltender Lebenskraft in der Welt, die älter sind als das Christentum, etwa den Buddhismus und das Judentum, aber diese haben bei aller Bedeutung des Mönchtums und der Klöster im Buddhismus und der Netzwerke von Synagogen im Judentum keine institutionelle Struktur ausgebildet, die mit der »Kirche« der Christen vergleichbar wäre. Man kann sogar sagen, dass überhaupt keine der sogenannten Welt- oder Universalreligionen eine ähnliche institutionelle Gestalt hervorgebracht hat, und von den Stammes- oder Nationalreligionen gilt dies wegen ihrer sozial begrenzten Reichweite ohnehin. Der Konfuzianismus hat keine selbständigen institutionellen Strukturen ausgebildet, was den organisierten Widerstand gegen die kommunistische Zwangssäkularisierung unter Mao praktisch unmöglich machte. Der Islam kennt bei aller Kraft zur Institutionenbildung und trotz Ansätzen zu klerikalen Strukturen in der Schia keine Kirche, und während man oft hören kann, ihm fehle eine Reformation, sagen andere, es fehle ihm vor allem das Papstamt und damit eine Instanz der autoritativen Zurückweisung willkürlicher Formen der Politisierung der Religion. Obwohl es durchaus gängig ist, von einer daoistischen »Kirche« in der Geschichte Chinas zu sprechen, wäre es abwegig, in ihr eine ähnliche universalistische Orientierung am Werk zu sehen, wie dies beim Christentum der Fall ist. Oft gibt es bei diesen religiösen Traditionen eine stärkere Fusion von Religion und Ethnizität als im Christentum - so bei Judentum und Hinduismus - oder von Religion und Imperium bzw. Staat - so traditionell im chinesischen Fall.
Trotz des Fehlens einer der christlichen Kirche ähnlichen Struktur in anderen Weltreligionen muss aber der erste Schritt zu deren historisch-sozialwissenschaftlichem Verständnis gerade darin bestehen, die Organisationsprobleme all derjenigen Religionen zur Kenntnis zu nehmen, die über ein bestimmtes Volk und einen bestimmten Staat hinaus auf alle Menschen zielen. So richtig es ist, »das Gesellschaftliche nicht aus dem Wesen der Religion aus(zu)klammern« und damit aller Religion notwendig auch Sozialgestalt zuzuschreiben, so sehr greift man doch zu kurz, wenn man damit schon das spezifische Organisationsproblem »universalistischer« Religionen wie des Christentums erfasst zu haben meint.2 Man spricht heute weniger von Weltreligionen als von nach-achsenzeitlichen Religionen. Damit ist in Anlehnung an Gedanken und die Begrifflichkeit des deutschen Philosophen Karl Jaspers3 gemeint, dass es in der Religionsgeschichte der Menschheit Durchbrüche zu einem Verständnis von Transzendenz und moralischem Universalismus gab, die diese Religionen von der einfachen Gleichsetzung mit bestimmten Völkern, Kulturen, Staaten oder Imperien abtrennten. Es kamen in all diesen Durchbrüchen Ideale auf, die sich vom Heldenethos der Stammesgesellschaften und dem kriegerischen Geist archaischer Imperien radikal unterschieden. Diese neuen Ideale etwa des Verzichts auf Gewalt ließen sich unter den gegebenen Bedingungen aber nicht verwirklichen; sie sind im Übrigen ja auch heute weit von ihrer Verwirklichung und vielleicht sogar prinzipiell von aller Verwirklichbarkeit entfernt. Eben deshalb aber, wegen der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung, konnten diese Ideale nur bewahrt werden, wenn es Institutionen zu ihrer Bewahrung gab oder solche neu entstanden. Um die Ideale am Leben zu erhalten, um sie den Nachkommen weiterzugeben und weitere Menschen mit ihnen in Verbindung zu bringen, um die Mitglieder der so entstehenden Gemeinschaft zu schützen, um in gemeinsamen Ritualen die Ideale immer wieder neu zu verlebendigen und um Formen des Zusammenlebens zu ermöglichen, die sich in größerer Harmonie mit den Idealen befinden, als es die Lebensführung im Allgemeinen zulässt - aus all diesen Gründen bedurfte es neuer Institutionen, und dies angesichts der Schwierigkeiten, die Ideale zu verwirklichen oder sich eine Verwirklichung überhaupt nur durch menschliches Handeln vorzustellen. Das ist die soziologische Dynamik, die zur Entstehung des buddhistischen Mönchtums geführt hat und zur Entstehung philosophischer Schulen und »Akademien« um griechische und chinesische Weisheitslehrer herum.4 Wenigstens in einzelnen Hinsichten sind diese Institutionen funktionale Äquivalente für das, was Kirche im Christentum bedeutet. Während also nicht alle Weltreligionen eine Kirche ausgebildet haben, haben sie doch Organisationsformen hervorgebracht, die ihren Inspirationen entsprechen, und je mehr diese Inspirationen sie über die vorhandenen Sozialformen hinaustrieben, desto mehr.
An dieser Stelle werde ich die Spur des soziologischen interreligiösen Vergleichs freilich nicht weiterverfolgen. Ich beschränke mich vielmehr auf das Christentum. Auch innerhalb des Christentums ist nämlich die Kirche nicht die einzige soziale Organisationsform der Gläubigen. Mein Ziel wird es sein, der Sozialform Kirche im Vergleich mit diesen anderen Formen der sozialen Organisation der Christen ein deutlicheres Profil zu geben, dabei aber auch zu fragen, was die Kirchen von diesen anderen Sozialformen des Christentums lernen können.
Der Versuch, die Kirche und andere Formen der institutionellen Selbstorganisation von Christen soziologisch zu betrachten, hat - so die allgemeine Auffassung in den Sozialwissenschaften - einen ganz klar feststellbaren wissenschaftsgeschichtlichen Ausgangspunkt. Er liegt in den Gesprächen zweier Kollegen und Freunde, die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Heidelberg sogar unter einem Dach, allerdings in getrennten Wohnungen, lebten: Ernst Troeltsch, der berühmte protestantische Theologe und Christentumshistoriker, und Max Weber, der von Nationalökonomie und Juristerei herkommend zur bedeutendsten Gründergestalt des Faches Soziologie wurde. Beide, Troeltsch und Weber, verfochten in ihren Schriften eine wichtige und folgenreiche Unterscheidung zwischen zwei Typen der sozialen Organisation der Christen, nämlich der »Kirche« und der »Sekte«.5 Beide scheinen je für sich den Anspruch erhoben zu haben, diese begriffliche Unterscheidung erfunden zu haben, und da wir ihre Gespräche und ihren täglichen Umgang miteinander nicht rekonstruieren können, werden wir vermutlich nie definitiv...
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