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Athen 1874
Im Mosaikfußboden der Empfangshalle war ein kleiner Riß. Sophia hatte ihn schon vor Wochen bemerkt. Das Haus senke sich, sagte Tag, das sei nichts Ungewöhnliches bei einem neuen Haus. Aber in den letzten Wochen war der Riß länger geworden, und er zog sich nun schon an dem Muster aus kleinen schwarzen und weißen Fliesen am Treppenaufgang entlang. Jeden Tag blieb sie stehen, um ihn genauer zu betrachten, jeden Tag überprüfte sie, wie er sich fast unmerklich verlängerte. Dieser feine Spalt am Fuße der Treppe wurde zum makabren Gradmesser, in dem sie nicht nur den wachsenden Riß in ihrem Haus sah, sondern an dem sie auch die eigene schreckliche und zunehmende Leere maß. Ihn zu überprüfen, wurde Teil ihrer täglichen Routine, so wie sie ein Bad nahm oder sich die Haare bürstete. Und nun war es ihr bevorzugtes Ritual, der Höhepunkt ihres Nachmittags, den Spalt insgeheim herauszufordern, ihr geliebtes Haus mit einem Knall in Stücke zu reißen. Und sie mit sich zu nehmen.
Während sie dort am Fuß der Treppe stand, erinnerte sie sich, zu welch großem Fest Tag ihren Einzug gemacht hatte. Wie konnte sie je die blinkende, blumengeschmückte Kutsche vergessen, die sie zu dem neuen Haus in der Universitätsstraße fahren sollte, oder das Lächeln, das den ganzen Tag nicht von seinem Gesicht gewichen war? Sie wohnten bereits seit Monaten im Hotel »Adelphi«, als er ihr ankündigte, daß sie bald ihr eigenes Haus in Athen haben würde, so wie er es ihr versprochen hatte. Mit welcher Begeisterung hatte er ihr das Hügelgrundstück beschrieben, das er gerade gekauft hatte.
»Über und über bedeckt mit gelben Wildblumen!« sagte er.
Sein Geschenk für sie. Stabilität. Beständigkeit. Eine vertraute Umgebung, fern der Gefahren von Paris, sagte Tag. Lieber Tag.
Der Kutscher hatte sie an diesem Januarnachmittag langsam durch die hohen schmiedeeisernen Tore und über die kiesbestreute Auffahrt gefahren. Das Haus, das sie »Iliou Melathron« nannten, war riesig und imposant. Es war nicht wie die typischen Athener Wohnhäuser mit Stuck verziert und mit Ziegeln gedeckt, sondern im Stil einer italienischen Landvilla erbaut, mit einer Fülle bezaubernder Details, erlesen im Entwurf wie in der Ausführung. Die Athener der damaligen Zeit empfanden es als überwältigend. Selbst in diesem vornehmen Villenviertel auf dem Hügel, der auf die Akropolis blickte, vermittelte es den Eindruck von überlegener, verfeinerter Kultur. Jannis Kolodji fühlte sich in diesem Haus in Gesellschaft seines Schwagers unbehaglicher denn je. Es war ein Haus, das mehr Feinde als Freunde schuf, und es war ein Haus, das Sophia auf der Stelle als das ihre annahm. Es war ihr Palast, ihr Königreich, ihr sicherer Hafen, in dem sie sich einrichtete, als sei sie in diese hochmütigen Wände hineingeboren. Am Tag des Umzugs hatte sie Andromache im Arm gehalten, ihr Töchterchen, das gerade vor einem Monat zur Welt gekommen war, und gemeinsam mit ihm hatte sie diese prächtigen Räume durchwandert. Sie war stolz und glücklich gewesen, jedes einzelne fertige Detail erfreute ihr Auge, Vollkommenheit, wohin sie auch blickte: die Treppe hinten in der Vorhalle, die breiten Marmorstufen, die sich emporschwangen, die Galerie, von der sie auf die achteckigen schwarzen und weißen Fliesen auf dem Fußboden unten herabsehen konnte. Zutiefst befriedigt war sie von Raum zu Raum gegangen, und ihr Entzücken wuchs, während sich einer dieser kostbar gestalteten Räume nach dem anderen vor ihr öffnete. Sie verspürte das unwiderstehliche Verlangen, in diesen weitläufigen, gastlichen Zimmern zu verweilen, in diesen einladenden Nischen heimisch zu werden. Großzügige Kredenzen. Lagerräume, in denen man die kostbare Habe der Familie unterbringen konnte. Das erste Spielzeug. Die Kinderkleider. Das Taufkleid aus Spitze. Eine Wiege. Decken und Kissen. Tischtücher und silberne Teekannen. Gepäck. Bücher. Ein Zwirnknäuel.
Großen Häusern wohnt Kraft inne. Einige von ihnen verwandeln ihre Bewohner in die Wesen, die sie gerne werden wollen. Das Haus und derjenige, der es liebt, verbinden sich von Anbeginn in gegenseitiger Treue. Dieses Band zerreißt nie. Nicht in der Dauer eines Lebens. Nicht über Entfernung oder Abwesenheit. Nicht einmal angesichts von Unglück oder im Augenblick des Todes, wenn ein geliebtes Haus die Hoffnung verkörpert. Solcherart war das Haus von Sophia, und sie spürte den Trost und den Schutz, den es ihr gab, nie mehr so stark und intensiv wie während dieser einsamen Monate, als sie auf der Suche nach einer Erklärung für die Ereignisse der letzten Monate hilflos auf Fenster und Türen und Risse im Boden blickte. Und natürlich sah sie ihn, wohin sie sich auch wandte. Tag hatte »Iliou Melathron« erbaut und alle Möbel ausgesucht, erlesene englische und französische Stücke auf wunderbaren Aubusson- und Savonerrieteppichen. Vieles davon war spätes Empire, und Napoleons Lorbeerkranz fand sich großzügig über die cremefarbenen Damastpolster und Vorhangstoffe verteilt. Massive, reich mit Malergold verzierte Aufsätze glitzerten auf Tischen und Kommoden, die edle Porzellanschalen, hohe silberne Kerzenleuchter und blumengefüllte Vasen trugen.
Aber der Garten war immer ihr Reich gewesen, blieb von Anbeginn ihrer Gestaltung, ihren Stimmungen überlassen, und lange bevor Tag das Haus vollendete, hatte sie einen wohlgeformten jungen Maulbeerbaum ausgesucht und am Ende des Gartens anpflanzen lassen, genau dort, wo er an den Hang angrenzte, der in jedem Frühling, ganz wie Tag es ihr erzählt hatte, mit gelben Wildblumen übersät war. Von der weiten Terrasse aus hatte sie immer gerne in diese Richtung geschaut – nach Südosten und durch die langen Reihen von silberblättrigen Olivenbäumen, in deren Schatten zarte Ringelblumen und Weinrosen wuchsen. Auch an jenem Nachmittag, als Jannis ihnen seinen letzten Besuch abstattete, hatte sie den Maulbeerbaum im Blick gehabt. Nun klang ihr jedesmal, wenn sie hinübersah, Tags ärgerliche Stimme in den Ohren.
»Und was passiert, wenn ich es nicht tue?« hatte er geschrien. »Sag mir das!«
»Der türkische Gesandte besteht darauf, daß du sämtliche Stücke, die du in Hissarlik ausgegraben hast, auf der Stelle zurückgibst!« schrie Jannis zurück.
Der Maulbeerbaum hatte sich kräftig entwickelt und zeigte bereits die ersten Ansätze, jenen beruhigenden Schutz zu bieten, den sie unter einem ähnlichen Baum in einem anderen Athener Garten genossen hatte. Und als sie nun die Stimmen um sich herum dröhnen hörte, wünschte sie sich dorthin zurück, wünschte sie sich, die Zeit sei in jenen Tagen stehengeblieben, in denen sie im kühlen Schatten eines Athener Sommers Backgammon gespielt hatten.
»Tag«, fuhr Jannis fort. Seine Stimme klang plötzlich beherrscht, aber sein gedehnter Tonfall verriet ungeduldige Anspannung. »Ich fühle mich höchst unbehaglich in dieser Position, in die ich von der griechischen Regierung gedrängt worden bin. Ich habe sie gebeten, mich aus dieser Angelegenheit herauszuhalten, aber ich konnte sie nicht davon überzeugen, daß unsere Verschwägerung die Sache für mich sehr schwierig macht. Es wird zu einem Prozeß kommen. Die griechische Regierung wird hier in Athen Klage einreichen. Tag, bitte gib sie zurück. Du schadest unserer Familie damit.
Victoria macht sich Sorgen um das Gerede. Tag, so wichtig ist das doch nicht!«
»Nicht so wichtig! Wie kannst du es wagen, mir so etwas zu sagen!« Tag ließ seiner Wut jetzt freien Lauf. Sophia war überzeugt, er würde Jannis schlagen, als er nun aufstand und ihm gegenübertrat.
»Ich habe Troja nicht erfunden!« fauchte er Jannis ins Gesicht. »Ich habe es entdeckt! Ja, ich habe es entdeckt! Und von Anbeginn war ich gezwungen, mit schwachköpfigen Leuten wie mit dir, Jannis, zu verhandeln. Kleinen Hochstaplern, die vorgeben, das große griechische Erbe zu begreifen! Leb dein kleines Leben in deiner kleinen Welt, aber komm mir nicht mit diesem banalen Klang von Rechtfertigung in deiner kläglichen Stimme! Du hast dir deine Position selbst ausgesucht! Und ich mir die meine! Der Schatz bleibt in meinem Besitz, bis ich sterbe! Und nun trag diese demokratischen Prinzipien zu eurer perikleischen Modellregierung zurück und verlaß mein Haus!«
Die Bankkonten waren eingefroren worden. Das Haus in der Universitätsstraße stand unter Beobachtung und wurde schließlich auch durchsucht.
»Sie müßten mich feiern, mir gratulieren, mir ihren Dank zum Ausdruck bringen«, sagte Tag. »Statt dessen verklagen sie mich, reden mir Übles nach, machen sich über mich lustig, durchsuchen mein Haus, demütigen mich.«
Im April 1874 wurde in Athen der Prozeß eröffnet, und während der nächsten drei Monate warteten sie auf eine Entscheidung. In Abgeschiedenheit. Zu Hause. Wagten sich nur selten hinaus. Und trotz dieser Anspannung diskutierten sie mit der erstaunlichen Kraft, die häufig aus der Verzweiflung entsteht, weiterhin ihre Pläne für eine Ausgrabung in Mykene im folgenden Jahr. Sophia verwahrte die beinahe täglichen Aufzeichnungen und Entwürfe sorgsam in der obersten Schublade von Tags Schreibtisch. Sie lobte ihn für seine Ordnung. Die Federhalter, Bleistifte und das Schreibpapier, für gewöhnlich über den Schreibtisch verstreut, lagen nun in ordentlichen Reihen und Stapeln. Sie bemerkte, daß auch die Regale im Arbeitszimmer nun übersichtlicher waren. Tags geliebte Bücher standen wieder adrett aufgereiht und lagen nicht mehr in wahllosen Haufen umher, an die sie sich inzwischen gewöhnt hatte.
In der Hoffnung, einen Blick auf die umstrittenen Schliemanns zu erhaschen, versammelte sich jeden Tag eine Schar von Neugierigen vor...
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