Schweitzer Fachinformationen
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Libby kann das Wispern eines jeden Moments hören, den dieser Raum existiert hat, und sie kann den Atem eines jeden Menschen spüren, der jemals dort Platz genommen hat, wo sie jetzt sitzt.
»Siebzehnhundertneunundneunzig«, hat Mr. Royle auf ihre zuvor gestellte Frage geantwortet. »Eine der ältesten Rechtsanwaltskanzleien in London.«
Jetzt sieht Mr. Royle sie über seine gründlich gewachste Schreibtischplatte hinweg an. Ein Lächeln huscht über seine Lippen, und er sagt: »So, so. Das ist ein hübsches Geburtstagsgeschenk, nicht wahr?«
Libby lächelt nervös. »Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass es wahr ist«, erwidert sie. »Eher warte ich darauf, dass jemand mich aufklärt, was für ein Riesenschmu das ist.«
Ihre Wortwahl fühlt sich falsch an in dieser altehrwürdigen Umgebung. Sie wünscht, sie hätte sich anders ausgedrückt. Doch Mr. Royle scheint das nicht zu stören. Er lächelt weiterhin, während er sich vorbeugt und Libby einen dicken Stapel Unterlagen reicht. »Kein Schmu, Miss Jones, das kann ich Ihnen versichern. Hier.« Er zieht ein Blatt aus dem Stapel. »Ich war unschlüssig, ob ich Ihnen das hier geben soll. Vielleicht hätte ich es Ihnen besser zugeschickt. Zusammen mit dem Brief. Ich weiß nicht . Es war alles so schwierig. Es lag in der Akte, und ich habe es zurückbehalten, für den Fall, dass es nicht richtig scheint, es Ihnen auszuhändigen. Doch jetzt sollen Sie es haben. Hier, bitte. Ich bin nicht informiert, wie viel Ihnen Ihre Adoptiveltern über Ihre Herkunftsfamilie erzählen konnten. Vielleicht nehmen Sie sich kurz Zeit zum Lesen.«
Libby faltet die Zeitungsseite auseinander und legt sie vor sich auf den Tisch.
Selbstmordpakt: Gesellschaftslöwin und Ehemann tot aufgefunden. Zwei Teenager vermisst, Baby lebend gefunden
Die Polizei wurde gestern zu dem Haus der früheren Society-Lady Martina Lamb und ihres Ehemannes in Chelsea gerufen, nachdem drei Todesfälle gemeldet worden waren. Möglicherweise handelt es sich um Selbstmord. Als die Polizei um die Mittagszeit eintraf, fand sie die Leichen von Mr. und Mrs. Lamb nebeneinander auf dem Küchenfußboden. Ein zweiter Mann, der noch identifiziert werden muss, wurde ebenfalls tot aufgefunden. Des Weiteren befand sich ein Baby, angeblich ein zehn Monate altes Mädchen, in einem der Zimmer im ersten Stock. Das Baby, von dem es heißt, dass es gesund sei, wurde in Obhut genommen. Nachbarn haben in den vergangenen Jahren beobachtet, dass zahlreiche Kinder in dem Haus gewohnt haben. Verschiedentlich wird auch von weiteren dort lebenden Erwachsenen berichtet, allerdings hat man nur Spuren des Ehepaars Lamb auf dem Grundstück gefunden.
Die Todesursache muss erst noch bestätigt werden, doch erste Untersuchungen von Blutproben weisen darauf hin, dass das Trio sich vergiftet haben könnte.
Henry Lamb (48) war der Alleinerbe seines Vaters Harry Lamb aus Blackpool, Lancashire. Sein gesundheitlicher Zustand hatte sich in den letzten Jahren rapide verschlechtert, und er war an den Rollstuhl gefesselt.
Mehrere Suchtrupps der Polizei durchkämmen das ganze Land nach dem Sohn und der Tochter des Ehepaars, die zwischen vierzehn und sechzehn Jahre alt sein sollen. Die Metropolitan Police nimmt ab sofort Informationen zum Aufenthaltsort eines oder beider Jugendlichen entgegen. Darüber hinaus werden Personen, die in den vergangenen Jahren zusammen mit der Familie in dem Haus gelebt haben, gebeten, sich bei der Polizei zu melden.
Sie blickt Mr. Royle überrascht an. »Heißt das .? Das zurückgelassene Baby . Bin ich das?«
Er nickt. Sie sieht die aufrichtige Traurigkeit in seinen Augen. »Ja«, sagt er. »Eine tragische Geschichte, nicht wahr? Und auch ein großes Geheimnis. Die Kinder, meine ich. Wir haben das Haus auch für sie treuhänderisch verwaltet, aber weder der Sohn noch die Tochter hat sich gemeldet. Daher muss ich annehmen, dass sie . wie auch immer.« Er beugt sich vor, umklammert seine Krawatte und lächelt gequält. »Darf ich Ihnen einen Stift anbieten?«
Er schiebt ein Holzgefäß mit teuer aussehenden Kugelschreibern zu ihr hin, und sie nimmt sich einen. Der Name der Kanzlei ist in Gold aufgedruckt.
Einen Moment lang starrt Libby den Kugelschreiber verständnislos an.
Ein Bruder.
Eine Schwester.
Ein Selbstmordpakt.
Sie schüttelt den Kopf, sacht. Dann räuspert sie sich und sagt: »Danke.«
Fest umklammern ihre Finger den Kugelschreiber. Sie kann sich kaum daran erinnern, wie ihre Unterschrift aussieht. An den Ecken der Seiten, die sie unterzeichnen soll, kleben kleine Post-it-Pfeile, die ihr die Richtung weisen. Der Stift kratzt über das Papier, ein geradezu quälendes Geräusch. Mr. Royle sieht ihr wohlwollend zu. Er schiebt seine Teetasse auf dem Schreibtisch ein paar Zentimeter zur Seite und dann wieder zurück.
Während sie unterschreibt, spürt sie die Tragweite dieses Moments, diese unsichtbare Wende in ihrem Leben, diese schwingende Handbewegung, die sie von hier nach dort trägt. Auf der einen Seite des Unterlagenstapels gibt es sparsame Einkäufe bei Lidl, eine einwöchige Urlaubsreise pro Jahr und einen elf Jahre alten Vauxhall Corsa. Auf der anderen Seite sind die Schlüssel zu einem Haus in Chelsea mit acht Schlafzimmern.
»Gut«, sagt er, und beinahe entfährt ihm ein Seufzer der Erleichterung, als Libby ihm die Unterlagen reicht. »Gut, sehr gut.« Er blättert die Seiten um, sein Blick huscht über die Felder neben den Pfeilen, dann sieht er Libby an und lächelt. »In Ordnung. Ich denke, ich sollte Ihnen jetzt die Schlüssel aushändigen.« Er holt einen kleinen weißen gefütterten Umschlag aus seiner Schreibtischschublade, auf dem »16, Cheyne Walk« steht.
Libby späht hinein. Drei Schlüsselbunde. Einer mit einem Metallring samt Jaguar-Logo. Einer aus Messing mit einem Feuerzeug. Und drei lose Schlüssel ohne Ring.
Er erhebt sich. »Sollen wir es uns ansehen?«, fragt er. »Wir können zu Fuß hingehen. Es ist gleich um die Ecke.«
Ein brütend heißer Sommertag. Libby kann die Hitze der Pflastersteine durch die Sohlen ihrer Espadrilles spüren, ebenso wie die Mittagssonne, die durch die dünne Wolkenschicht herabbrennt. Sie gehen eine Straße mit vielen Restaurants entlang, die ihre Fensterfronten zum Bürgersteig hin geöffnet haben, mit perfekt gedeckten Tischen auf dafür vorgesehenen Plattformen und großen rechteckigen Sonnenschirmen. Frauen mit überdimensionierten Sonnenbrillen sitzen zu zweit oder zu dritt an den Tischen und trinken Wein. Einige sind so jung wie sie selbst, und Libby wundert sich, wie sie es sich leisten können, an einem Montagnachmittag in einem schicken Restaurant Wein zu trinken.
»Das hier«, sagt Mr. Royle, »könnte Ihr neues Viertel sein. Wenn Sie beschließen, selbst in das Haus einzuziehen.«
Sie schüttelt den Kopf und stößt ein nervöses Lachen aus. Eine richtige Antwort bringt sie nicht zustande. Das ist alles viel zu verrückt.
Sie kommen an winzigen Boutiquen und Antiquitätengeschäften mit Füchsen und Bären aus Bronze vorbei, an funkelnden Kronleuchtern von der Größe ihrer Badewanne. Dann erreichen sie den Fluss, Libby nimmt das Wasser wahr, bevor sie es sieht, den durchdringenden Geruch nach nassem Hund. Boote gleiten aneinander vorüber, ein kleineres mit noch mehr reichen Menschen zieht plätschernd vorbei: Champagner im Kühler, ein Golden Retriever am Bug, der in die Sonne blinzelt, das Fell vom Wind zerzaust.
»Wir sind gleich da«, sagt Mr. Royle. »In ein oder zwei Minuten.«
Libbys Oberschenkel reiben aneinander, und sie wünscht sich, sie hätte Shorts statt des Rocks angezogen. Sie kann spüren, wie der Schweiß sich in der Mitte ihres BHs sammelt, und sie sieht, dass auch Mr. Royle in seinem eng sitzenden Anzug die Hitze unerträglich findet.
»Da wären wir«, sagt er und wendet sich einer Häuserzeile zu, die aus fünf oder sechs Backsteinhäusern von unterschiedlicher Höhe und Breite besteht. Libby ahnt sofort, welches ihres ist, noch bevor sie die geschwungene Sechzehn über dem Eingang erblickt. Das Haus ist drei Stockwerke hoch, die lange Seite umfasst vier Fenster. Es ist wunderschön. Doch es ist vernagelt, genau wie sie es sich gedacht hat. Die Schornsteinklappen und Dachrinnen sind von Unkraut überwuchert. Es ist ein Schandfleck.
Aber ein wunderschöner. Libby atmet scharf ein. »Es ist ziemlich groß«, sagt sie.
»Ja«, erwidert Mr. Royle. »Zwölf Zimmer insgesamt. Den Keller nicht mitgerechnet.«
Das Haus steht ein Stück vom Bürgersteig entfernt, hinter reich verzierten Metallzäunen und einem zugewachsenen Garten. Ein schmiedeeisernes Vordach führt zur Haustür, links davon steht eine Kanone auf einem Betonsockel.
»Darf ich?« Mr. Royle zeigt auf das Vorhängeschloss, das die Bretterverkleidung vor der Haustür sichert.
Libby nickt. Daraufhin öffnet er das Schloss und umschließt die Verkleidung seitlich mit beiden Händen, um sie zu entfernen. Das Holz löst sich mit einem lauten Ächzen, dahinter befindet sich eine große schwarze Tür. Er reibt die Fingerspitzen aneinander, dann betrachtet er einen Schlüssel nach dem anderen, bis er den passenden gefunden hat.
»Wann hat jemand das Haus zum letzten Mal betreten?«, fragt sie.
»Puh, ich denke, das ist ein paar Jahre her, als ein Teil überflutet wurde. Wir haben den Notdienst gerufen und die Klempner für die Reparaturen ins Haus gelassen. So, hier wären wir.«
Sie betreten die Eingangshalle. Die Hitze von draußen, der Verkehrslärm, das Echo des Flusses, alles verblasst. Hier...
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