Schweitzer Fachinformationen
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Fassungslos blickte Klara auf die Elbe. Anstelle von Frachtern, Schleppern und Fähren, die sonst um diese Tageszeit vorüberzogen, starrte nun alles vor grauem, stumpfem Eis. Am Kai türmten sich die Schollen meterhoch. Die Arbeit im Hafen war ebenso zum Erliegen gekommen wie beinahe der gesamte Hamburger Schiffsverkehr. Eisbrecher hielten mit größter Not eine Fahrrinne in der Mitte der Unterelbe frei, durch die sich die wichtigsten Schiffe zwängten. »Wie damals, sechsundvierzig, siebenundvierzig«, murmelte eine Frau, die neben Klara an der Landungsbrücke stand. »Hoffen wir bloß, dass es nicht wieder so schlimm wird.« Man konnte ihr das Grauen, das ihr vor Augen stand, geradezu ansehen.
»Haben Sie auch gehungert?«, fragte ein älterer Herr, der hinzugekommen war. Der linke Arm fehlte ihm, wie am leeren, hochgenähten Ärmel seines Mantels zu erkennen war. Ein Kriegsversehrter. Männer wie ihn sah man dieser Tage häufig in der Stadt.
»Sie etwa nicht? Wir haben doch alle gehungert.«
»Ich war noch nicht wieder da«, erklärte der Alte.
Auch Klara konnte sich noch gut an den Hungerwinter erinnern, der vor genau zehn Jahren den ganzen Norden Deutschlands in seinen eisigen Klauen gehalten hatte. Die Nachbarin war damals in ihrer Wohnung tot aufgefunden worden: verhungert oder erfroren - wahrscheinlich wohl beides. »Ich glaube nicht, dass es noch einmal so schlimm wird«, sagte sie, weniger aus Überzeugung denn aus dem Wunsch heraus, die alte Frau zu trösten. »Damals hat es doch nichts gegeben. Heute haben wir eine vernünftige Versorgung. In den Läden gibt es was zu kaufen, die Stadt wird beliefert .«
»Mögen Sie recht haben, Fräulein«, entgegnete die Frau. »Mögen Sie recht haben.«
Schließlich ging sie davon, während Klara mit klammen Fingern ihre Kamera auspackte, den Vogelkasten, den sie sich seit einiger Zeit ausleihen durfte. Beinahe wäre ihr das kostbare Gerät heruntergefallen. Kostbar für sie, weil sie nun einmal kein Geld besaß. Für Alfred Buschheuer, den Besitzer des Fotoateliers am Rödingsmarkt, war die Kamera schlicht veraltet, etwas, mit dem schon bald niemand mehr arbeiten würde. »Die Zeit schreitet voran, Fräulein Klara«, pflegte er zu sagen. »Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Die Zukunft gehört der Rolleiflex.« Diese neue Art von Kamera begeisterte ihn restlos. Und sie selbst staunte auch über die Qualität der Aufnahmen, die ihr Chef damit machte. Aufnahmen, wie sie ihr mit dem Vogelkasten nicht gelingen würden, dessen Technik noch aus der Zeit vor dem Krieg stammte. Doch Technik war nicht alles. Beim Fotografieren kam es auch auf den Blick für Details, den Riecher für den richtigen Moment und auf die Perspektive an. Für all das hatte Klara einen untrüglichen Sinn. Mochten andere technisch perfekte Aufnahmen des Hafens machen, sie würde Bilder wie Gemälde erschaffen. Was sie sah, erinnerte sie an die berühmte Eislandschaft von Caspar David Friedrich, die sie kürzlich als Druck in einem Schaufenster gesehen hatte. Genau diese Stimmung wollte sie einfangen.
Ein paar Jungs bewarfen sich in der Nähe mit Eisklötzen, irgendwo tönte ein Nebelhorn. Klara spürte ihre Hände kaum noch, so kalt war es. Sie zog den Film in der Kamera auf und blickte durch den Sucher, als es geschah: Eines der Trümmer schlitterte über die Planken und traf sie am Bein. Sie wich zurück, stolperte und stürzte rückwärts. Dabei hielt sie zitternd die Kamera in die Höhe. Als sie selbst auf dem Boden aufschlug, riss ihr Mantel an der Schulter auf. Sofort drang eisige Kälte durch das Loch. Die Jungs johlten und rannten weg. »Ihr Blödmänner!«, rief Klara ihnen hinterher, doch sie waren schon über die Rampe gelaufen und sowieso uneinholbar schnell. Klara schossen die Tränen in die Augen: Auf diesen verdammten Mantel hatte sie ein halbes Jahr lang gespart. Er war das erste Kleidungsstück, das sie sich bei Peek & Cloppenburg in der Mönckebergstraße geleistet hatte. Dunkelblau, tailliert und todschick! Und jetzt dieser Riss. »So'n Schiet!«, fluchte sie und überlegte, ob sie überhaupt noch Fotos machen sollte.
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, weil eine junge Frau, die neben sie getreten war, erklärte: »Wenn Sie mit den Aufnahmen fertig sind, kommen Sie mit, dann nähen wir das schnell.«
Überrascht blickte Klara auf und rappelte sich hoch. »Bitte?«
»Ich arbeite drüben am Gänsemarkt. Kleine Schneiderei. Da haben wir das ruckzuck geregelt.«
»Das ist nett«, sagte Klara und nickte ihr freundlich zu. »Aber ich fürchte, eine Schneiderei kann ich mir nicht leisten.«
»Ach was. Ein paar Stiche, dann ist das erledigt. Ich seh doch, dass Ihnen was an dem Mantel liegt. Sieht übrigens auch wirklich adrett aus! Sie haben Geschmack.« Sie nickte anerkennend. » Keine Sorge, ich mach das umsonst für Sie.«
»Das . das ist wirklich sehr nett.«
»Unsereins muss sich gegenseitig helfen«, erklärte die junge Frau und hielt ihr die Hand hin. »Elke. Kellermann.«
»Ähm. Klara.« Sie griff zu. »Paulsen. Ich arbeite am Rödingsmarkt. Im Atelier Buschheuer.«
»Dem Fotoatelier? Tipptopp!« Sie gab Klara ein Zeichen, mit ihren Aufnahmen fortzufahren, und guckte ihr neugierig zu. »Sah sehr professionell aus«, befand sie.
»Danke. Ist nicht beruflich. Ich fotografiere nur zum Vergnügen.«
Elke Kellermann nickte anerkennend. »Hübsches Steckenpferd.«
»Ich kann es Ihnen auch beibringen«, sagte Klara, während sie ihre Kamera wieder verstaute und einen letzten Blick auf das Naturschauspiel warf, das man so vielleicht nur ein-, zweimal im Leben sah. »Wollen wir?«
Die Schneiderei am Gänsemarkt lag im Obergeschoss eines schmalen Hauses gleich neben dem Globe-Kino, wo die Tommys hingingen - und nur die. Das Lichtspielhaus war für die Engländer reserviert. Da kam höchstens mal ein deutsches Frollein als Begleitung rein. Im Erdgeschoss des Gebäudes, an dem auch ein Schild »Schneiderei Brill« prangte, gab es einen Friseursalon »Sissi«, der bis auf den letzten Platz besetzt war - was nicht viel hieß bei drei Friseurstühlen und einer zusätzlichen Trockenhaube. »Moin, Rena!«, rief Elke, als sie eintraten, um durch die Hintertreppe nach oben zu verschwinden, denn die Schneiderei ließ sich nur über den Friseursalon erreichen.
»Moin, Elke!«, rief die Frau zurück, die gerade dabei war, letzte Hand an eine spektakuläre Hochfrisur zu legen. »Mach mal schnell wieder die Tür zu, sonst friert mir hier das Wasser zum Haarewaschen.«
»Das ist Klara«, erklärte Elke und deutete auf ihre Begleiterin, als wäre es das Normalste von der Welt, jemanden bei der ersten Begegnung nur mit Vornamen vorzustellen.
»Freut mich«, sagte die Friseurin völlig ungerührt. »Ich bin Rena, mir gehört der Laden.« Sie mochte ein paar Jahre älter sein als Klara und auch als Elke, vor allem war sie deutlich ein paar Pfunde schwerer. Klara ertappte sich dabei, dass sie sie beneidete. Wer solche Rundungen hatte, konnte sich offenbar regelmäßig was gönnen. »Mich auch«, erwiderte sie. »Hübscher Laden!«
»Man tut, was man kann, was?«, lachte Rena. »Flinke Finger, kleines Geld .«
»Und immer das Neuste vom Neuen parat!«, vollendete Elke den Spruch, den sich Rena offenbar als Motto überlegt hatte. Woraufhin beide Frauen lachten. Klara konnte gar nicht anders, sie musste mitlachen, während die Kundin auf dem Friseurstuhl seufzte und auf ihre Armbanduhr tippte. »Ich muss los.«
»Aber sicher, Madame!«, rief Rena fröhlich. »Wir sind in einer Minute fertig. Und dann könn'se Ihrem Liebsten unter die Augen treten. Ich garantiere, die werden ihm rausfallen.«
»Sie ist die Besitzerin?«, fragte Klara, während sie die steile Treppe zur Schneiderei hinaufstiegen. »Und Sissi?«
»Sissi?«
»Na, der Laden nennt sich doch Salon Sissi!«
»Ach!«, erklärte Elke lachend. »Das war auch so eine Idee von Rena. Wer geht schon in einen Salon Renate? Es muss schon büschen mondäner klingen!«
»Scheint funktioniert zu haben.«
»Aber so was von! Der Laden brummt, das kannste dir gar nicht vorstellen.« Elke war ohne Weiteres zum vertraulichen Du übergegangen und streckte die Hand aus. »Nu lass mal sehen, was wir da machen können.«
Etwas befangen schlüpfte Klara aus ihrem Mantel und reichte ihn ihr. Sie war zwar nicht unbedingt der Meinung, dass sie zu den Schüchternen gehörte, aber die Vertraulichkeit, mit der Elke und die Friseurin sie behandelten, empfand sie doch als etwas befremdlich.
Die Schneiderei war nicht mehr als ein Zimmer über dem Friseursalon und ein winziges Hinterzimmer. Überall stapelten sich Stoffballen und Kisten mit Bändern, Borten und anderen Kurzwaren. Ein riesiger Tisch lief an der ganzen Fensterseite entlang, wodurch gutes Licht auf die dort liegenden Arbeiten fiel, wie Klara gleich feststellte. Seitlich war ein kleiner Teil des Raums mit einem prächtigen roten Vorhang abgetrennt. »Was denkste, was das war?«, fragte Elke, die Klaras Blick gefolgt war.
»Bestimmt ein Theatervorhang.«
»Knapp daneben. Das war mal eine riesige Hakenkreuzfahne. Vom Rathausturm.«
»Da gefällt mir die Verwendung jetzt besser.«
Elke nickte, während sie den Mantel auf dem großen Nähtisch an der Fensterseite ausbreitete. »Das ist in fünf Minuten erledigt«, befand sie. »Wenn es dir nichts ausmacht, dass die Naht im Futter nicht ganz perfekt wird. Sonst müssten wir alles auftrennen und .«
»Um Himmels willen!«, rief Klara. »Das wäre ja noch schöner. Nein, nein, ich bin dir...
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