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In diesem Beitrag werden Opfer und Opferrechte in einem weiten Sinn verstanden.1 Im Fokus stehen intersektionelle Rechtszugangsprobleme sowohl von Diskriminierungsopfern iSd Antidiskriminierungsrechts als auch von Opfern von Straftaten. Beide Opfergruppen sind mit strukturellen Zugangshürden zu Opferrechten konfrontiert, für die mehrfache, ineinander verschränkte Ungleichheitslagen eine Rolle spielen. Intersektionelle Zugangsprobleme werden daher nicht strafrechtsakzessorisch, sondern aus einer menschenrechtlichen bzw machtkritischen Perspektive behandelt, die ihre Wurzeln in der Antidiskriminierungsforschung hat.
Intersektionalität bezeichnet die Mehrdimensionalität oder Verschränktheit von Diskriminierungen oder Identitäten.2 Geschlecht, Alter, sexuelle Ausrichtung usw sind keine isolierten und homogenen sozialen Existenzweisen, sie sind vielmehr voneinander abhängig und bedingen einander wechselseitig.3 Eine benachteiligende Differenzierung ist oftmals das Ergebnis einer vielschichtigen und von Hierarchie geprägten Verknüpfung von Identitätsmerkmalen, die auch mit sozialen Dimensionen verwoben ist, insbesondere mit Armut und einer bildungsfernen Lebensbiografie. Ein und dieselbe Person kann je nach situativem Zusammenhang einmal privilegiert, dann wieder benachteiligt sein. Auch innerhalb von Statusgruppen sind hierarchische Verhältnisse wirksam, die eine selbstbestimmte und autonome Lebensführung in unterschiedlicher Intensität beeinträchtigen können. Ungleichheitslagen innerhalb der Gruppe der Frauen verdichten sich häufig durch ethnische Herkunft, Behinderung, gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung und/oder ökonomische Abhängigkeit. Männer mit Migrationshintergrund können wiederum gegenüber migrantischen Frauen privilegiert und zugleich gegenüber Männern und Frauen ohne Migrationshintergrund benachteiligt sein.4 Es gilt, diese mehrdimensionalen benachteiligenden Lebenslagen in ihrer situativen Wechselwirkung zu erfassen und die staatlichen Schutz- und Gewährleistungspflichten an diesem erhöhten Verletzungsrisiko auszurichten.
Das analytische Konzept der Intersektionalität wurde von Kimberlé Crenshaw Ende der 1980er Jahre vor dem Hintergrund des US-amerikanischen Antidiskriminierungsrechts entwickelt.5 Crenshaw hat anhand von arbeitsrechtlichen Klagen herausgearbeitet, dass in Fällen miteinander untrennbar verflochtener Ungleichheitslagen die Rechtsdurchsetzung nicht gelingt, wenn die Justiz nur Klagen zulässt, die sich ausschließlich auf ein geschütztes Merkmal stützen, also entweder auf racial discrimination oder sex based discrimination. In einem solchen single-issue-framework bleiben Diskriminierungssachverhalte, in denen mehrere Diskriminierungsfaktoren zusammenwirken, entweder unerkannt oder werden nicht als rechtserheblich angesehen. Der Fall DeGraffenreid v General Motors steht exemplarisch für diese Problematik: Women of colour brachten 1976 eine Klage ein, weil sie überproportional von betriebsbedingten Kündigungen nach dem Prinzip "last hired - first fired" betroffen waren. Die Kündigungsregel fußte auf einer Personalpolitik in der Vergangenheit, die zuerst ausschließlich "weiße"6 Männer und später auch "weiße" Frauen rekrutierte und erst nach dem Civil Rights Act von 1964 auch "schwarze" Männer. Erst ganz zum Schluss wurden auch "schwarze" Frauen eingestellt. Die Kündigungsregel entfaltete auf diese Weise eine spezifische Benachteiligung für die Gruppe der "schwarzen" Frauen in der Gegenwart. Der Klagsgrund der Benachteiligung als "schwarze" Frau aufgrund rassistischer und geschlechtsspezifischer Diskriminierung wurde vom Gericht allerdings nicht anerkannt: "Thus, this lawsuit must be examined to see if it states a cause of action for race discrimination, sex discrimination, or alternatively either, but not a combination of both."7
Crenshaw hat anhand dieser und weiterer Fälle das Phänomen mehrdimensionaler Ungleichheitslagen mit einer Straßenkreuzung (intersection) veranschaulicht: Ein Unfall an einer Straßenkreuzung kann aus jeder Richtung verursacht worden sein - manchmal sogar von Fahrzeugen aus mehreren oder allen Richtungen gleichzeitig. In ihrer Metapher gilt Vergleichbares für eine "schwarze" Frau, die an einer Kreuzung verletzt wird. Die Ursache könnte sexistische und rassistische Diskriminierung sein.8 Mit diesem Bild sollte die Komplexität von Diskriminierung sichtbar gemacht werden, die durch das Zusammenwirken mehrerer Diskriminierungsfaktoren entsteht.9
Um den Genuss der Menschenrechte auch für besonders vulnerable Gruppen sicherzustellen, hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es neben den allgemeinen Menschenrechtspakten auch sektorale Menschenrechtsverträge braucht. Auf diese Weise können die Unrechtserfahrungen und komplexen Benachteiligungen dieser Gruppen sichtbar gemacht, spezielle Schutzbedürfnisse adressiert und konkrete Staatenverpflichtungen eingemahnt werden. Die Antirassismuskonvention (CERD)10, die Frauenrechtskonvention (CEDAW)11 und die Behindertenrechtskonvention (CRPD)12 etablieren umfassende Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten zum Abbau und zur Prävention von rassistischer, frauenfeindlicher und behindertenspezifischer Benachteiligung. Ziel ist der gleichberechtigte Genuss der Menschenrechte in allen Lebensbereichen, de jure und de facto. Dass die speziellen Ungleichheitslagen marginalisierter Gruppen sichtbar gemacht und mit einem spezifischen Regelungsregime bekämpft werden, ist ein wichtiger Beitrag zur Effektuierung des Menschenrechtsschutzes. Die genannten Übereinkommen haben insoweit Antwortcharakter auf einschlägige Schutzdefizite in den Vertragsstaaten. Dies trifft auch auf das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (Istanbulkonvention)13 zu, das einen umfassenden und effektiven Schutz für Frauen vor Gewalt gewährleisten soll.
Eine explizite Berücksichtigung von mehrdimensionaler Diskriminierung findet sich in der Behindertenrechtskonvention. Gem Art 6 CRPD anerkennen die Vertragsstaaten, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind, und ergreifen adäquate Maßnahmen, damit sie die Menschenrechte und Grundfreiheiten gleichberechtigt genießen können. Es ist dies ein klarer Auftrag, die besonderen Diskriminierungsrisiken, die durch die Verschränkung der Statusmerkmale "weibliches Geschlecht" und "Behinderung" entstehen, adäquat zu adressieren und den gleichberechtigten Genuss der Menschenrechte durch eine geschlechtergerechte und behindertensensible Rechtssetzung und Rechtsanwendung sicherzustellen.
Auch der Istanbulkonvention ist ein mehrdimensionales Schutzkonzept immanent. Die Konvention verlangt einen durchgängigen genderspezifischen Umsetzungsfokus, indem die Geschlechterperspektive gem Art 6 in alle Umsetzungsmaßnahmen einzubeziehen ist. Zugleich sind Opferschutzmaßnahmen ohne Diskriminierung aufgrund persönlicher Statusmerkmale sicherzustellen: Art 4 Abs 3 beinhaltet einen demonstrativen Merkmalskatalog. Die Bestimmung nennt neben den klassischen Statusmerkmalen, die auch in Art 14 EMRK explizit verankert sind, sexuelle Ausrichtung, Geschlechtsidentität, Alter, Gesundheitszustand, Behinderung, Familienstand sowie Migrant*innen- oder Flüchtlingsstatus. Konstellationen von Mehrfachdiskriminierung sind zwar nicht explizit angeführt, in den Erläuterungen wird jedoch hervorgehoben, dass Frauen tendenziell häufiger Formen von Mehrfachdiskriminierung erleben und dies auch auf Frauen zutrifft, die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt werden. Als besonders gefährdet werden Frauen mit Behinderungen, Frauen aus ethnischen Minderheiten und Frauen mit einer HlV/AIDS-Infektion angesehen.14 In Kombination mit dem in Art 6 verankerten genderspezifischen Umsetzungsfokus kann darin ein intersektioneller Ansatz erblickt werden.15
Darüber hinaus fehlt im sektoralen Menschenrechtsregime eine durchgängige normative Klammer zur Berücksichtigung von intersektionellen Menschenrechtsverletzungen. Dies wirft die Frage auf, inwieweit das Zusammenwirken mehrerer Ungleichheitslagen in der Rechtsanwendung adäquat berücksichtigt werden kann. Die zur Überwachung der Menschenrechtsverträge eingerichteten Fachausschüsse schließen diese Schutzlücke, indem sie in ihren Empfehlungen zur Auslegung und Umsetzung der Konventionsgarantien zunehmend einen intersektionellen Ansatz verfolgen. Das CEDAW-Komitee hat zB spezifische Diskriminierungsrisiken von Frauen und Mädchen an der Schnittstelle von Behinderung16, Alter17 sowie Ethnizität im Kontext von Asyl18 und Frauenhandel19 als besonders benachteiligende Konstellationen adressiert und die Vertragsstaaten aufgefordert, den speziellen Gewährleistungsanforderungen an diesen Schnittstellen adäquat Rechnung zu...
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