KAPITEL II
Inhaltsverzeichnis Eine von Joans frühesten Erinnerungen war das Bild von sich selbst, wie sie vor dem hohen Standspiegel im Ankleidezimmer ihrer Mutter stand. Ihre Kleider lagen weit verstreut, dort, wo sie sie hingeworfen hatte; sie hatte nicht mehr einen Fetzen Stoff am Leib. Sie musste noch sehr klein gewesen sein, denn sie konnte sich daran erinnern, wie sie nach oben geschaut und hoch über ihrem Kopf die beiden golden glänzenden Knöpfe gesehen hatte, mit denen der Spiegel am Rahmen befestigt war. Plötzlich tauchte aus dem oberen Teil des Spiegels ein erschrecktes rotes Gesicht auf. Es schwebte einen Moment lang dort und zeigte nacheinander verschiedene Ausdrucksformen: zuerst fassungsloses Erstaunen, dann schockierte Empörung und schließlich gerechter Zorn. Und dann schwirrte es auf sie herab, und das Bild im Spiegel verwandelte sich in ein Durcheinander aus kleinen nackten Armen und Beinen, vermischt mit grünen Baumwollhandschuhen und violetten Haarnadeln.
"Du kleiner Teufel!", schrie Frau Munday - ihre empörten Gefühle übertrieben vielleicht ihre wahren Empfindungen. "Was machst du da?"
"Geh weg. Ich schaue mich selbst an", erklärte Joan und kämpfte wütend darum, den Spiegel zurückzubekommen.
"Aber wo sind deine Kleider?", wunderte sich Frau Munday.
"Ich habe sie ausgezogen", erklärte Joan. Eine Information, die alles in allem eigentlich überflüssig schien.
"Aber kannst du dich nicht sehen, du böses Kind, ohne dich nackt auszuziehen, wie du geboren wurdest?"
"Nein", behauptete Joan standhaft. "Ich hasse Kleider." Tatsächlich hasste sie sie nicht, selbst in diesen frühen Tagen. Im Gegenteil, eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war es, sich zu verkleiden. Dieser plötzliche überwältigende Wunsch, die Wahrheit über sich selbst zu erfahren, war eine neue Laune.
"Ich wollte mich selbst sehen. Kleider sind nicht ich", war alles, was sie sagen wollte oder konnte; und Frau Munday hatte den Kopf geschüttelt und offen zugegeben, dass es Dinge gab, die sie nicht verstand, und dass Joan eines davon war; und es war ihr, teils mit Gewalt, teils mit Überredungskunst, gelungen, Joan wieder das Aussehen eines christlichen Kindes zu geben.
Es war Frau Munday, die arme Seele, die ganz unbewusst den Samen des Zweifels in Joans Kopf gesät hatte. Frau Mundays Gott war aus Joans Sicht eine höchst widerwärtige Person. Er redete viel - oder besser gesagt, Frau Munday redete für ihn - über seine Liebe zu kleinen Kindern. Aber es schien, als würde er sie nur lieben, wenn sie brav waren. Joan machte sich keine Illusionen über sich selbst. Wenn das Seine Bedingungen waren, dann würde er ihr, soweit sie das sehen konnte, nicht viel nützen. Außerdem, wenn er ungezogene Kinder hasste, warum schuf er sie dann so? Nach einer vorsichtigen Schätzung kam gut die Hälfte von Joans Bosheit, so schien es ihr, von selbst. Nimm zum Beispiel diese Selbstuntersuchung vor dem Standspiegel. Die Idee war ihr einfach so gekommen. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass das böse sein könnte. Wenn es, wie Frau Munday erklärt hatte, der Teufel war, der ihr das eingeflüstert hatte, was bedeutete es dann, dass Gott dem Teufel erlaubte, kleine Mädchen zu unanständigen Dingen zu überreden? Gott konnte doch alles tun. Warum vernichtete er den Teufel nicht? Joan fand das gemein, wie man es auch drehte und wendete. Ein kleines Mädchen ganz allein mit dem Teufel kämpfen zu lassen! Und dann wütend zu werden, weil der Teufel gewonnen hatte! Joan begann, Frau Mundays Gott von ganzem Herzen zu verabscheuen.
Im Nachhinein war es leicht zu lächeln, aber die Qualen vieler Nächte, in denen sie stundenlang wach gelegen hatte und mit ihren kindlichen Ängsten gekämpft hatte, hatten ein brennendes Gefühl der Wut in Joans Herz hinterlassen. Die arme verwirrte Frau Munday, die die ewige Verdammnis der Bösen predigte - die sie geliebt hatte, die nur ihre Pflicht tun wollte, die keine Schuld trug. Aber dass eine Religion, die Unschuldigen solches Leid zufügen konnte, immer noch gepredigt wurde, vom Staat unterstützt! Dass ihre gebildeten Anhänger nicht mehr an eine physische Hölle glaubten, dass ihre fortgeschritteneren Geistlichen sich zu einem Schweigegelübde zu diesem Thema verpflichtet hatten, war keine Antwort. Die große Masse des Volkes war ungebildet. Das offizielle Christentum in jedem Land predigte immer noch die ewige Qual der Mehrheit der Menschheit als einen wohlüberlegten Teil des Plans des Schöpfers. Kein Mächtiger dieser Welt war mutig genug gewesen, sich zu erheben und dies als Beleidigung seines Gottes anzuprangern. Wenn man älter wurde, schenkte die gütige Mutter Natur, die stets bestrebt war, die selbst auferlegten Lasten ihrer törichten Brut zu erleichtern, einem Vergesslichkeit und Gefühllosigkeit. Der zum Tode Verurteilte verdrängt den Gedanken an den Galgen so lange wie möglich: Er isst, schläft und scherzt sogar. Die Seele des Menschen wird dickhäutig. Aber die Kinder! Ihr empfindliches Gehirn ist jedem grausamen Atemzug ausgesetzt. Ihnen sind keine philosophischen Zweifel erlaubt. Keine gelehrten Disputationen über das Verhältnis zwischen dem Wörtlichen und dem Allegorischen, um ihre rasenden Ängste zu lindern. Wie viele Millionen kleine weißgesichtige Gestalten, verstreut über das christliche Europa und Amerika, starrten jede Nacht in eine Vision schwarzen Grauens; wie viele Millionen kleine Hände krallten sich wild an die Bettdecken. Die Gesellschaft zur Verhütung von Kindesmisshandlung hätte, wenn sie ihre Pflicht getan hätte, den Erzbischof von Canterbury längst vor Gericht gestellt.
Natürlich würde sie in die Hölle kommen. Als besondere Geste hatte ihr ein großzügiger Verwandter zu ihrem siebten Geburtstag eine Ausgabe von Dantes "Inferno" mit Illustrationen von Doré geschenkt. Daraus konnte sie sich eine Vorstellung davon machen, wie ihre Ewigkeit wohl aussehen würde. Und Gott saß die ganze Zeit oben in seinem Himmel, umgeben von einer herrlichen Schar lobpreisender Engel, und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Ihr Mut bewahrte sie vor der Verzweiflung. Trotz kam ihr zu Hilfe. Er solle sie doch in die Hölle schicken! Sie würde nicht zu ihm beten und sich bei ihm entschuldigen. Er war ein böser Gott. Ja, das war er: ein grausamer, böser Gott. Und eines Nachts sagte sie ihm das auch ins Gesicht.
Es war ein ziemlich anstrengender Tag gewesen, selbst für eine so vielbeschäftigte Sünderin wie die kleine Joan. Es war Frühling, und sie waren aufs Land gefahren, damit ihre Mutter sich erholen konnte. Vielleicht lag es an der Jahreszeit: Die Lebensgeister erwachten und man fühlte sich, wie man so schön sagt, "zu groß für seine Stiefel". Eine gefährliche Zeit des Jahres. Nach dem Motto "Vorsicht ist besser als Nachsicht" hatte Frau Munday es sich zur Gewohnheit gemacht, Joan im April und Mai eine kühlende Mischung zu verabreichen, aber dieses Mal hatte sie leider vergessen, sie mitzunehmen. Joan, eher zum Arbeiten als zum Ausgehen gekleidet und ohne Schuhe oder Strümpfe, hatte sich heimlich die Treppe hinuntergeschlichen: Etwas schien sie zu rufen. Leise - "wie eine Diebin in der Nacht", um Frau Mundays Metapher zu verwenden - hatte sie die schweren Riegel zurückgeschoben, sich den tausend Kreaturen des Waldes angeschlossen, getanzt und gesprungen und geschrien, sich kurz gesagt eher wie eine heidnische Nymphe als wie ein glückliches englisches Kind verhalten. Sie war, wie sie glaubte, unbemerkt ins Haus zurückgekehrt, zweifellos mit Hilfe des Teufels, und hatte ihre nassen Kleider unten in einer mächtigen Truhe versteckt. Mit betrügerischem Herzen hatte sie Frau Munday mit verschlafener Stimme aus dem Bett zugerufen und vor dem Frühstück, von misstrauischen Fragen bedrängt, eine vorsätzliche Lüge erzählt. Später am Vormittag, während eines Streits mit einem lebhaften jungen Schwein, das bereit war, Rotkäppchen zu spielen, soweit es darum ging, Dinge aus einem Korb zu essen, aber keine Nachtmütze tragen wollte, hatte sie ein böses Wort benutzt. Am Nachmittag hätte sie den einzigen Sohn und Erben des Bauern "töten können". Sie hatten sich gestritten. In einem dieser traurigen Momente, in denen sie von den höheren christlichen Werten abkam, zu denen Satan sie immer verleitete, hatte sie ihn geschubst, und er war kopfüber in den Pferdeteich gefallen. Der Grund, dass er nicht dort liegen geblieben war und ertrunken, sondern aufgestanden war und zurück zum Haus gelaufen war, wobei er so laut geschrien hatte, dass er die sieben Schläfer hätte wecken können, war, dass Gott, der über kleine Kinder wacht, dafür gesorgt hatte, dass der Vorfall auf der Seite des Teiches passiert war, wo es flach war. Wäre der Streit am gegenüberliegenden Ufer passiert, wo das Wasser viel tiefer war, hätte Joan höchstwahrscheinlich einen Mord auf dem Gewissen gehabt. Joan kam es so vor, als hätte Gott, allmächtig und allwissend, bei der Auswahl des Ortes so sorgfältig vorgegangen, dass er den Streit genauso gut hätte verhindern können. Warum konnte der kleine Bengel nicht durch den Obstgarten zurück von der Schule geführt werden, was viel kürzer war, anstatt um den Hof herum, wo er ihr in einem Moment begegnete, in dem sie, gelinde gesagt, etwas gereizt war? Und warum hatte Gott ihm erlaubt, sie "Carrots" zu nennen? Dass Joan es so formulierte, anstatt auf die Knie zu fallen und dem Herrn dafür zu danken, dass er sie vor einem Verbrechen bewahrt hatte, war ein Beweis für ihre angeborene böse Veranlagung. Am Abend kam es zum Höhepunkt. Kurz vor dem Schlafengehen hatte sie den alten Kuhhirten George ermordet. Praktisch gesehen hätte sie genauso gut William Augustus früher am Tag ertränken...