Schweitzer Fachinformationen
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Bis fünfzehn Uhr dreiundzwanzig am Nachmittag verlief Nellas Sonntag höchst angenehm. Die Zeit merkte sie sich deshalb so genau, weil der Anruf, der sie zu dieser Zeit erreichte, ihr Leben verändern sollte. Was sie in dem Augenblick natürlich noch nicht wusste. Sie wühlte bloß unwillig zwischen Chipstüten und Kekspackungen auf dem Sofatisch herum, bis sie ihr klingelndes Handy fand. Dabei gähnte sie ausgiebig. Sie war wohl auf dem Sofa eingeschlafen, denn sie hatte noch deutlich ihren Traum vor Augen: Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Karen war sie auf der Außenalster gerudert. Sie beide ganz allein. In einem Boot, das eigentlich vier Ruderer brauchte. Sie hatten Spaß gehabt, sich mächtig angestrengt und waren schließlich wieder heil und ziemlich stolz ans Ufer zurückgekehrt.
Während Nella sich über die Augen rieb, wurde ihr klar, dass dieser Traum eine echte Erinnerung war. Damals waren sie zwölf und achtzehn Jahre alt gewesen und hatten sich trotz einiger Reibereien und des Altersunterschieds gut verstanden und einander vertraut.
Das Handy klingelte und klingelte. Es war Karen.
Kurz erwog Nella die Möglichkeit, nicht ranzugehen. Hatte bloß keinen Zweck, wie sie aus Erfahrung wusste. Wenn ihre große Schwester sie sprechen wollte, gab sie nicht auf, egal, wie viele Versuche sie brauchte. Letzten Herbst hatte Nella es ausprobiert. Dreizehn Mal war sie nicht rangegangen, dann hatte sie sogar das Handy ausgeschaltet. Mit dem Ergebnis, dass Karen eine knappe Stunde später an ihrer Wohnungstür Sturm geklingelt hatte. Florian, der damals noch ihr Freund gewesen war, hatte sich ziemlich beeilen müssen, in seine Hosen zu schlüpfen. Unter Karens Blick aus eisblauen Augen war er dann schnell wie der Blitz aus Nellas Wohnung verschwunden. Nur wenige Wochen später sollte er fast ebenso schnell aus ihrem Leben verschwinden, aber das war eine andere Geschichte.
Gedankenverloren blickte Nella durchs Fenster nach draußen. Der Tag war grau und regnerisch, keine Spur von sonnigem Frühling, in dem es neue Hoffnung und neue Liebe geben konnte. Mit einem Mal war sie niedergeschlagen und meldete sich mit dumpfer, beinahe tonloser Stimme.
»Nella«, sagte Karen. »Warum dauert das immer so lange, bis du mal rangehst?«
»Äh .« Nella nahm an, dass dies eine rhetorische Frage war. Genauso gut hätte ihre Schwester sich erkundigen können, warum sie in kaum einer Anstellung länger als ein paar Monate geblieben war. Sie schwieg also lieber. Wie immer waren ihre Gefühle äußerst gegensätzlich. Sie liebte und bewunderte Karen, fühlte sich im Vergleich zu ihr jedoch weniger wert.
»Na, ist ja auch egal«, fuhr ihre Schwester fort. »Opa Otto hat mich angerufen.«
Sofort entstand vor Nellas geistigem Auge das Bild einer grünen, weiten und flachen Landschaft, wo man schon am Montag entdeckte, wer am Sonntag zu Besuch kam. Sie sah die Nordseeküste vor sich, mit Dünen und Deichen, mit Strandhafer, weißem Sand und unendlich weitem Meer. Möwen kreischten, Seehunde heulten, Wellen rauschten, und das Salzwasser trocknete auf der braun gebrannten Haut.
»Wieso hat er dich angerufen und nicht mich?«, wollte sie wissen.
»Weil du kein Telefon hast.«
»Habe ich wohl.«
Karen seufzte geduldig. »Du weißt schon, was ich meine. Kein Festnetz. Mit Handys hat es unser Großvater nicht so.«
Nella lächelte. Das stimmte. Otto Thiessens Welt war irgendwo zwischen 1969 und 1975 stehen geblieben. Alles, was danach gekommen war, blieb für ihn unnützer moderner Kram. Seine große Zeit war die Hippiezeit gewesen - sie war es bis heute geblieben.
»Also gut«, gab sie nach. »Was wollte er denn?«
»Wir sollen Ostern zu einem Besuch antreten. Er ist wütend, weil niemand ihn zu Weihnachten eingeladen hat.«
Augenblicklich meldete sich Nellas schlechtes Gewissen. Opa Otto war stolze fünfundachtzig Jahre alt und verdiente es nicht, allein unterm Tannenbaum zu sitzen. Da er sich weigerte, nach Teneriffa zu fliegen, wo sein einziges Kind, sein Sohn Walter, lebte, blieben ihm nur seine beiden Enkeltöchter. Aber Nella hatte zu Weihnachten andere Probleme gehabt und war irgendwie davon ausgegangen, dass ihre Schwester sich schon um den alten Herrn kümmern würde. Hatte sie offenbar nicht.
»Ich habe mal Zeit für meine eigene Familie gebraucht«, verteidigte sich Karen prompt. Dabei hatte Nella gar nichts gesagt.
»Schon klar«, murmelte sie nur.
Ihre Schwester war vierzig Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kinder. Noch so etwas, das ihr vermutlich nie im Leben gelingen würde. Inzwischen war Nella nämlich vierunddreißig, und ein geeigneter Mann für die Gründung einer Familie war weit und breit nicht in Sicht.
»Nun«, fuhr Karen fort. »Wir sollen jedenfalls Ostern zu ihm kommen.«
»Aber das ist ja schon nächste Woche«, gab Nella zu bedenken.
»Gut beobachtet«, kam es mit einem leisen Lachen zurück.
Sieben verflixt kurze Tage, fand Nella. Nicht im Traum würde es ihr gelingen, sich selbst und ihr Leben in so kurzer Zeit derart aufzubügeln, dass sie beide, also ihr Leben und sie, vor Opa Ottos scharfem Blick bestehen würden. Dieser Blick schien erblich zu sein, allerdings hatte er eine Generation übersprungen und war bei ihrer Schwester gelandet.
»Am besten«, sagte Karen, »komme ich kurz bei dir vorbei, und wir besprechen alles in Ruhe.«
»Was?«, fragte Nella und schaffte es nicht, die Panik in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Wozu soll das gut sein? Wir können doch jetzt reden.«
»Das passt schon. Ich kann mich gleich auf den Weg machen.«
Karen wohnte mit ihrer Familie im vornehmen Blankenese, Nella in Hamburg-Hamm, einem stolzen, aber nicht unbedingt schicken Arbeiterviertel östlich der Außenalster. Die Miete in dem dunkelroten Klinkerbau mit vier Etagen und sehr kleinen Wohnungen war niedrig; Karen hingegen residierte mit Gatte, Kindern und Haustieren in einer weißen Villa auf dem Süllberg. Einen größeren Kontrast zu Nellas zwei Zimmern konnte es in der Hansestadt kaum geben.
»Wir können uns auch irgendwo treffen«, schlug sie vor und sah sich mit wachsender Verzweiflung in ihrem Wohnzimmer um. Die Spuren einer wilden Party waren unübersehbar. Eigentlich hatte der gestrige Abend als Verkaufsveranstaltung begonnen, war dann jedoch irgend wann ausgeartet. Ein paar Freundinnen und Nachbarinnen waren ganz begeistert von Nellas neuesten Artikeln gewesen, und ihr stand womöglich eine große Karriere als Vertreterin bevor. Bloß hatte sie Angst, ihre Schwester könnte entdecken, was genau sie da verkaufte. Bisher hatte sie ihrer Familie gegenüber nur vage behauptet, sie sei jetzt in der Spielzeugbranche.
»Nein«, sagte Karen. »Lass gut sein, ich komme zu dir.«
Warum, war Nella ein Rätsel. Bei den paar Gelegenheiten, zu denen Karen sie besucht hatte, war ihre Nase die ganze Zeit lang gerümpft gewesen.
»Wieso verbringst du den Tag nicht mit deiner Fami lie?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
»Torben ist beim Golf, Maximilian probt mit seiner Band, Katharina ist auf einem Geburtstag.«
Sie fand, das klang ein bisschen einsam. Bevor sie sich nach Hund, Katze und Meerschweinchen erkundigen konnte, unterbrach Karen die Verbindung. Offensichtlich zog sie die Gesellschaft ihrer kleinen Schwester der ihrer Haustiere vor. Was womöglich schmeichelhaft für sie war.
In den nächsten Minuten verwandelte Nella sich in einen Wirbelwind. Zwischen Karens Zuhause und ihrem eigenen lagen rund zwanzig Kilometer. An einem verkehrsarmen Sonntagnachmittag würde sie in einer guten halben Stunde klingeln.
Achtundzwanzig Minuten später überlegte Nella noch, ob sie schnell unter die Dusche springen konnte, da hörte sie auch schon Karens energische Schritte im Hausflur. Der Linoleumboden ächzte geradezu unter ihren Absätzen.
Nella riss die Tür auf. »Hast du neuerdings einen Privat hubschrauber?«
»Sei nicht albern«, gab Karen trocken zurück, schob sie einfach zur Seite, trat ein und rümpfte die Nase.
Prima, dachte Nella. Der Sonntag war definitiv im Eimer.
Schon unter günstigen Bedingungen fühlte sie sich neben Karen minderwertig - also selbst dann, wenn sie top gestylt war. Aber heute, im alten Jogginganzug und mit ungewaschenen Haaren, hätte sie kein Mensch für Schwestern gehalten. Karen war blond, blauäugig, groß, gertenschlank, immer gut geschminkt und elegant geklei det.
Nella war zwar auch blond, allerdings ging ihre Farbe eher ins Aschige. Und im Gegensatz zu Karens Haaren standen ihre wild vom Kopf ab, wenn sie nicht mindestens eine halbe Stunde mit dem Glätteisen bearbeitet wurden. Ihre großen braunen Augen waren vielleicht das Schönste an ihr. Ansonsten war sie klein und schlank. Also, manchmal schlank und manchmal nicht. Derzeit eher nicht. Sie neigte dazu, Kummer mit Essen zu kompensieren, was wenig originell war. Zwar gab sie sich keinen Fressattacken hin. Aber sie naschte gern, und wenn sie keiner liebte, dann eben auch ein bisschen öfter.
Karen riss den rechten Arm hoch. Erst jetzt entdeckte Nella den Blumenstrauß in ihrer Hand. »Hier. Für dich. Aus meinem Garten.«
Als sie den Strauß entgegennahm, das Papier abwickelte und ein halbes Dutzend herrlicher sattgelber Oster glocken erblickte, war sie gerührt. Ihre Schwester hatte sich daran erinnert, dass dies ihre Lieblingsblumen waren.
»Stehen als Einzige jetzt in Blüte.«
Oder auch nicht.
»Die Krokusse sind schon verwelkt, außerdem passen die nicht so gut in eine Vase. Die Tulpen...
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