Montag, 07. Oktober
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Vanessa hatte sich noch nie verspätet. Im Gegenteil. Die Vanessa, die sie kannte, ihre beste Freundin seit der ersten Klasse, war grundsätzlich zu früh bei einer Verabredung - mindestens zehn Minuten.
Luisa Hainbusch zog die Schultern hoch und das Halstuch enger. Sie stand am Ende der Schleswiger Fußgängerzone. Vor einiger Zeit war hier das ehemalige Hertie-Gebäude abgerissen worden und einer Rasenfläche mit Bänken und Hochbeeten aus Europaletten gewichen. Gerade in diesem Moment hatte die Sonne eine Lücke in der dichten Wolkendecke gefunden und tauchte die Rasenfläche in ihr Licht, aber den Hang hinunter zog ein unfreundlicher herbstlicher Wind, der Luisa frösteln ließ.
Sie hatte Christ Church erst vor drei Tagen bei einunddreißig Grad und bestem karibischen Wetter verlassen und sehnte sich jetzt nach Winterjacke und Wollschal. Sie hatte sich zwar dem Kalender entsprechend angezogen - immerhin war heute der siebte Oktober -, dabei aber den Temperaturunterschied von beinahe zwanzig Grad zwischen Barbados und Schleswig-Holstein nicht bedacht. Umso unangenehmer, dass sie bereits seit einer halben Stunde auf ihre Freundin wartete.
Wo bleibt Vanessa nur?
Luisa wippte auf ihren Zehen und beobachtete die Menschen, die an ihr vorbeizogen. Ältere Paare, Frauen und Männer mit Einkaufstüten, ein paar Schulkinder, die mit Stäbchen gebratene Nudeln aus Pappboxen aßen, Hundebesitzer. Manche gingen schnell, vielleicht wartete irgendwo jemand auf sie, andere schlenderten gemächlich dahin, weil sie alle Zeit der Welt hatten. Ganz Schleswig schien auf den Beinen zu sein, mit Ausnahme von Vanessa. Von ihr war weit und breit nichts zu sehen.
Zum wiederholten Mal zog Luisa ihr Handy aus der Manteltasche und warf einen Blick auf das Display. Jetzt war es schon Viertel nach zwei, verabredet war sie mit ihrer Freundin um zwei. Sie schaute in ihrer Mailbox nach, aber da war nichts. Keine Textnachricht, kein verpasster Anruf, nichts.
Sie öffnete den WhatsApp-Chat erneut und las noch einmal die Nachricht, die sie Vanessa vor einigen Wochen aus Christ Church geschickt hatte. Vielleicht hatte sie sich beim Datum oder der Uhrzeit vertippt oder den Treffpunkt nicht richtig angegeben? Nein, natürlich nicht, denn da stand es. Am siebten Oktober, also heute. Um zwei Uhr, das war bereits vor einer Viertelstunde gewesen. An ihrem üblichen Treffpunkt. Und der war hier. Hier trafen sie sich immer, wenn sie zusammen ins Kino oder zum Essen gehen wollten oder sich zum Shoppen verabredet hatten, und das seit mindestens zehn Jahren.
Vanessa hatte auf die Nachricht vor sechs oder sieben Wochen prompt geantwortet. Sie freue sich schon darauf, sie endlich wiederzusehen, sie wolle sich extra einen halben Tag freinehmen. Und Luisa solle ihr in einer Tüte eine Portion karibischen Sonnenschein und Meeresrauschen mitbringen.
Hatte Vanessa es doch nicht rechtzeitig aus dem Büro geschafft? Sie arbeitete bei einem Steuerberater. Ihr Chef war ein seltsamer Kerl, der zwar ordentlich zahlte, dafür allerdings uneingeschränkten Einsatz von seinen Mitarbeitern forderte, was meistens spontane Überstunden bedeutete. Vor allem, wenn einer der guten, vermögenden Klienten sich kurzfristig im Büro meldete.
Es war schon öfter vorgekommen, dass Vanessa sich deshalb verspätet hatte. Allerdings hatte sie Luisa bisher immer Bescheid gegeben. Dafür gab es schließlich Handys. Oder war sie krank? Doch selbst dann hätte sie sich bei ihr gemeldet. Vanessa war der zuverlässigste Mensch, den sie kannte.
Und wenn sie so krank ist, dass sie nicht ans Handy gehen kann?, dachte Luisa und kaute auf ihrer Unterlippe. Vor ihren Augen entstand das Bild ihrer Freundin, wie sie reglos und vom Fieber geschüttelt im Bett lag, mit vor Schweiß auf der Stirn klebenden Haaren. Oder hatte sie ihre Verabredung einfach vergessen?
Wieder schaute Luisa auf das Handy, wieder waren fünf Minuten vergangen.
Das kann nicht sein, Vanessa vergisst keinen Termin. Und sie ist auch nicht unpünktlich. Das war sie noch nie!
Jetzt setzte auch noch Nieselregen ein, der Wind wehte ihr die Feuchtigkeit direkt in den Nacken. Luisa klappte ihren Kragen hoch und spannte den Regenschirm auf.
Einen Moment zögerte sie, dann traf sie eine Entscheidung. Sie schrieb Vanessa eine Nachricht und machte sich auf den Weg zur Wohnung ihrer Freundin.
Eine halbe Stunde später stand Luisa vor dem Mehrfamilienhaus und klingelte.
Wartete.
Nichts.
Zum Glück kam eine alte Dame mit einem Dackel heraus. Luisa ergriff die Gelegenheit, huschte ins Haus und lief die Treppen hoch in den zweiten Stock. Vor der Wohnung der Freundin lag ein Päckchen, der Größe und der Form nach zu urteilen, eine Büchersendung. Vanessa war eine Leseratte und bestellte sich oft Bücher auf Online-Plattformen.
Wieder klingelte Luisa, wartete, klopfte. »Vanessa?«
Ein Stockwerk über ihr öffnete sich eine Tür, doch niemand kam die Treppe herunter.
»Vanessa?« Luisa klopfte wieder, schlug schließlich mit der Faust gegen die Tür und legte das Ohr gegen das Holz. Dahinter war alles still. Kein Radio, kein Rascheln, kein Klappern. Nichts, nicht einmal das Stöhnen eines kranken Menschen. Nur das feine Klacken einer Tür, die so unauffällig wie möglich ins Schloss gedrückt wurde. Wahrscheinlich hatte der Lauscher oben genug gehört.
Vanessa war ganz offensichtlich nicht zu Hause.
Langsam stieg Luisa die Treppe hinunter. Was war los? War Vanessa im Urlaub? Hatte sie ihre Verabredung doch vergessen? Das konnte sie sich zwar nicht vorstellen, nicht bei ihrer Freundin, die ein wandelnder Terminkalender war, doch irgendwann war schließlich immer das erste Mal. Oder war sie etwa im Krankenhaus? Hatte sie einen Unfall gehabt?
Luisa zog wieder das Handy aus der Tasche und suchte in den Kontakten nach Vanessas Büronummer. Sie riefen einander eigentlich nicht bei der Arbeit an, das war eine Regel, deren Ausnahme echten Notfällen vorbehalten war. Doch wenn das jetzt kein Notfall war - wann dann?
Es klingelte zwei Mal, bevor sich jemand meldete.
»Steuerberatung Jännings, guten Tag, Sie sprechen mit Michaela Schulz. Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Tag, mein Name ist Hainbusch. Ich möchte bitte Vanessa Meier sprechen.«
»Tut mir leid, Frau Hainbusch, Frau Meier arbeitet nicht mehr bei uns.«
»Oh.« Luisa wusste einen Moment nicht, was sie sagen sollte. »Seit wann denn?«
»Seit etwa drei Wochen.«
»Das ist ja ...« Luisa rieb sich die Stirn. »Das kam aber plötzlich, oder? Warum hat sie denn ...«
»Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben. Bitte haben Sie dafür Verständnis.«
»Ja, natürlich. Ich wollte auch nur ... Können Sie mir denn sagen, wo Frau Meier jetzt arbeitet?«
»Nein. Tut mir leid, Frau Hainbusch.« Die Stimme der Frau wurde kühl. »Hat Frau Meier Sie in steuerlichen Angelegenheiten betreut? Kann ich Ihnen stattdessen weiterhelfen?«
»Nein, danke. Es ist privat. Vielen Dank. Und entschuldigen Sie bitte die Störung.«
Luisa legte auf und runzelte die Stirn. Vanessa war nicht im Büro, sie hatte sogar die Arbeitsstelle gekündigt. Ja, sie mochte Herrn Jännings, ihren Chef, nicht besonders und hatte immer wieder davon gesprochen, dass sie sich verändern wollte. Doch warum so plötzlich? Das sah ihr gar nicht ähnlich. Und warum hatte Vanessa ihr nichts davon erzählt? Wenn sie bereits einen neuen Job hatte, musste sie ihren Wechsel von langer Hand geplant haben. Wenn es aber eine spontane Kündigung gewesen war, wäre Vanessa jetzt vermutlich arbeitslos.
Aber zu Hause war sie offenbar auch nicht. Vielleicht war sie gerade bei einem Vorstellungsgespräch? Doch warum hatte sie sich dann nicht gemeldet, ihre Verabredung abgesagt oder verschoben? Was war da los? Wenn ihr irgendetwas dazwischengekommen wäre, hätte sie ihr Bescheid gesagt. Nie und nimmer hätte Vanessa sie einfach so in der Fußgängerzone stehen lassen. Niemals!
Es sei denn ...
Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten, weshalb Vanessa sie versetzen würde: Entweder lag sie schwer verletzt im Krankenhaus. Oder sie wollte nichts mehr mit ihrem bisherigen Leben zu tun haben - sie, Luisa, eingeschlossen.
Dieser Gedanke versetzte ihr einen Stich. Über ein Jahr lang, seit vergangenem September, war sie auf Barbados gewesen und hatte dort in einem Luxus-Resort als Fitnesstrainerin und Yogalehrerin gearbeitet. Für sie bedeutete dieser Job einen gelebten Traum mit Sonne satt, schneeweißen Stränden, kristallklarem Wasser, Palmen und einem Verdienst, der sich sehen lassen konnte - inklusive großzügigen Trinkgeldern, freier Kost und Unterkunft.
Vanessa hatte ihr irgendwann bei einem Online-Treffen erzählt, dass ein paar aus ihrer alten Clique über ihren Job Witze gerissen hatten, Scherze, die Luisa als verletzend empfunden hatte.
»Mach dir nichts draus, die sind alle nur neidisch«, hatte Vanessa gesagt, »die würden selbst gern dort arbeiten, wo andere ihren Luxus-Urlaub verbringen.« In diesem Moment, hier im Treppenhaus, fragte Luisa sich, ob Vanessa...